Kitabı oku: «Der Duft der indischen Nelke»

Yazı tipi:

Wir fliegen zum Mond und bald

zum Mars.

Nichts ist so unerreichbar wie

der vergangene Tag.

Der Duft der indischen Nelke

La senteur des œillets d‘Inde

Roman

NICOLÀ TÖLCKE

Lektorat: Wolfgang Holtz

Lektorat und Korrektorat: Sandra Schmidt; www.text-theke.com

FÜR * POUR * FOR * ДЛЯ * 用于 * জন্য * إلى

UNTUK * のために* ສໍາລັບ * NAM * สำหรับ * کے لئے

DANIELLE


Grußwort

Es gibt viele Romane auf der Welt, auch gute Romane, die in Vergessenheit geraten, weil die Personen die falschen Namen tragen. In »Der Duft der indischen Nelke« tragen die Heldinnen und Helden wunderbare und einprägsame Namen. Ich tauchte ein, lebte im Licht dieser Geschichte, die mir fingerdick unter die Haut geht. Berlin, wie ich es auch kennenlernte. Die Straßen, die Peep-Shows und der Fernsehturm mit dem Sonnenkreuz, das blendet, aber nicht erblinden lässt, während in seinem Innenleben die Szenen und Fotografien von einer gewaltigen Lust berichten.

São Paulo, Juni 2014, Ignácio de Loyola Brandão

Wer sein Glück nur in der Ferne findet

Der muss einfach durch durch viele Frau‘n

Getextet von Werner Karma

Gesungen von Anna Loos

Prolog

Ein Frühlingstag und meine Mutter hat Lust auf einen Spaziergang entlang des Teltowkanals. Vor der Brücke der Krahmerstraße befindet sich ein Wildgehege mit Hirschen und Rehen. So stiefeln wir los und haben als Proviant für die Vierbeiner ein paar alte Stücke hartes Brot im Gepäck.

Ein verführerischer Blütenduft liegt in der Luft, als wir an dem waldartigen Gelände ankommen. Links schnattern die Enten im Kanalwasser und rechts hinter dem mannshohen Jägerzaun mümmeln der stolze weiße Hirsch und sein Harem.

Mutter will weiterlaufen. Es soll bis zur Bäkebrücke gehen. Dort müssen wir links abbiegen, um auf der Metallkonstruktion hinüber auf die andere Kanalseite zu gelangen.

Schon einige Male habe ich ihn gesehen; eher von weitem, diesen Flügelmann, der oben auf einem Sockel steht und seine Arme wie ein flugbereiter Adler ausstreckt. Mutter ist unerbittlich. Ganz nah vor seinem klobigen Podest kommen wir zum Stehen. Ich habe Angst! Ob der sich gleich auf mich stürzen wird?

„Komm, Hubertlein! Bück dich mal nach unten und riech mal, wie die Blumen duften.“

Schnell noch mal ein kurzer Blick nach oben. Er steht ganz ruhig da. Ich gehe auf die Knie und schon in der Bewegung fängt mich der Duft ein. Als hätten diese gelben, kleinen Sonnen eine Anziehungskraft krieche ich mit meiner Nase in sie hinein. Wie benommen ist mir plötzlich, als schwebte ich nach oben. Mich überströmt ein Glücksempfinden, das sich mit einer Gänsehaut über meinen ganzen Körper verteilt. Doch auch diese dunkle Kreatur da oben hoch über mir will, dass ich sie beachte. Im Glücksgefühl des Duftes erzittere ich vor dem Flügelmann. Ich starre ihn an, paralysiert bin ich wie ein Reh vor nächtlichen Autoscheinwerfern.

„Bald werde ich dich mitnehmen auf eine Reise, von der es kein Wiederkommen gibt!“, flüstert er mir zu.

„Hubert, komm!“, unterbricht ihn meine Mutter, „das sind Studentenblumen. Aber wir wollten doch noch ins Café dort und ein Eis essen.“

Von dem Moment an ist mir klar, dass ich diesen Mann mit seinen todbringenden Schwingen nie wieder anschauen werde, mich die Magie des Duftes der Tagetes aber oft begleiten wird.

1 Striptease am Fenster

Es ist ein besonderer Kick wenn der Aufzug diese zweihundert Meter in sechs Meter pro Sekunde bis zur Aussichtsetage

hochschießt. Es ist beruhigend, so eingeschlossen in diesem engen, mobilen Raum ohne Weitblick zu sein. Sehr beruhigend, wenn man unter Höhenangst leidet. In der Seilbahn, die von Fräkmüntegg die 647 Meter, auch in sechs Meter pro Sekunde, fast senkrecht in fünf Minuten zum Pilatus hochraste, war das damals anders. Die ganze Fahrt lang wagte ich keinen Blick auf das immer winziger werdende Luzern zu werfen.

Ich hielt meinen Blick am Seilbahnfahrer fest und sagte mir nur, dass dieser ältere, keinesfalls draufgängerisch wirkende Herr in seiner blauen Uniform nur den ganzen Tag nichts weiter machte, als an ein paar Stahlseilen hängend durch die Schweizer Landschaft zu schweben.

Die Fahrt durch den Berliner Untergrund ist heute sehr unangenehm. Die U-Bahn muss zwischen zwei Bahnhöfen eine Zwangspause einlegen. Fast eine Stunde dauert der unfreiwillige Halt dieser Linie schon, die als Ziel an ihrem Triebwagen Pankow zu stehen hat. Erfreulicherweise verlangt das Verspeisen mitgebrachter Döner nicht annähernd so lange. Wir hängen zwischen Hausvogteiplatz und Spittelmarkt fest.

Ich schlage das Taschenbuch auf, das ich mir gestern in der Bibliothek ausgeliehen habe. Nesnesitelná Lehkost Bytí, so der Titel des Originals aus dem Jahr 1984. Ich blättere willkürlich, um mir einen Eindruck zu verschaffen, und lande auf der Seite 61.

Unter der Bezifferung 19. fange ich an zu lesen. Dank des unfreiwilligen Zwischenstopps habe ich ja Zeit:

« Ich möchte Dich in meinem Atelier lieben wie auf einer Bühne. Ringsherum stehen Leute, die keinen Schritt näher kommen dürfen. Aber sie können die Augen nicht von uns losreißen… »

Im Laufe der Zeit verlor dieses Bild seine ursprüngliche Grausamkeit und begann, sie zu erregen. Manchmal, während der Liebe, rief sie Tomas diese Situation flüsternd in Erinnerung.

Sie sagte sich, dass es einen Ausweg gab, um der Verdammung zu entrinnen, die sie in Tomas‘ Untreue sah: er sollte sie mitnehmen! Mitnehmen zu seinen Freundinnen! Vielleicht war das der Weg, ihren Körper wieder zum ersten und einzigen zu machen. Ihr Körper würde zu einem Alter Ego, zu seinem Adjutanten und Assistenten.

« Ich werde sie für dich ausziehen, ich werde sie für dich in der Wanne baden und sie zu dir bringen… », flüsterte sie ihm zu, wenn sie aneinandergeschmiegt dalagen.

Ein Typ mit Klampfe reißt mich aus dem Text. Beziehungsweise eine blonde Polin, die keine Lust auf das 31. Mal The Times They Are A-Changin hat. Der hat fast so unmelodisch gekreischt, wie jener Straßensänger vor C&A in der Schloßstraße in Steglitz, der auf seinem Klappstuhl sitzend bei jedem Wetter Kinder- und Volkslieder so bar jeder Musikalität vorträgt, dass ich ihn schon als Attraktion mit der Videokamera aufnehmen wollte.

Die Polin gibt dem Musikanten schließlich einen 5-Euro-Schein in die Hand und bittet ihn, endlich still zu sein. Er tut ihr den Gefallen.

Ich kann weiter lesen:

Sie wollte mit ihm zu einem hermaphroditischen Wesen verschmelzen, und die Körper der anderen Frauen sollten zu ihrem gemeinsamen Spielzeug werden…

Zum Abschluss der Nachrichten noch ein Verkehrshinweis: Auf Grund eines schwerwiegenden Zwischfalls auf der U-Bahn-Linie 2 ist der Betrieb dieser Linie zur Zeit eingestellt. Es wurde ein Schienenersatzverkehr eingerichtet. Es gab mehrere Schwerverletzte.

Im Westen hängen dunkelgraue Wolken über der Stadt. Die Sonne zieht Wasser. Die Siegessäule ist nur zu erahnen. Keine Grillschwaden wabern aus dem Tiergarten. Die Aussichtskugel des Turms dreht sich nicht. Keine Supermarktmusik verklebt die Ohren. Gestresste, verschwitze Kellnerinnen, die es den nach Kaffee und Suppe begehrenden Touristen recht machen müssen? Fehlanzeige! Selbst die Beleuchtung schläft.

Auch vom Heizkraftwerk Reuter, drüben in Siemensstadt, auch von diesem gewaltigen, weißen Kegelschornstein steigt heute rein gar nichts in den Himmel.

Die Stimme, denke ich, die lässt mich nicht los. Die Stimme der blonden, jungen Polin in der U-Bahn. Dieses spezielle Timbre? Wo habe ich das schon mal gehört? Hätte mich der Text Ich werde sie für dich ausziehen, ich werde sie für dich in der Wanne baden und sie zu dir bringen…, hätten mich diese Worte nicht so beschäftigt, ich hätte sie vielleicht erkannt. Möglicherweise hat mich auch das kleine Mädchen an ihrer Seite irritiert. Wer weiß?

Auch waren meine Gedanken schon hier oben. Sie waren mit vielen Fragezeichen versehen. Was würde mich erwarten? Hatte ich nicht im Traum diese seltsame Einladung erhalten? War das überhaupt im Traum? Auf jeden Fall war da diese düstere Stimme, die so erklang, als breitete sie sich vom Mittelpunkt meines Kopfes an die Peripherie meines Schädels hin aus: Kommen Sie in den Fernsehturm. Ich erwarte Sie. Es ist sehr wichtig. Dieses Erleben lässt mich immer noch erschaudern. Dieser gespenstische Tonfall, jemand wie Darth Vader in meinem Gehirn, das hatte mich elektrisiert und paralysiert zugleich.

Es rauscht ein wenig in der Klimaanlage. Ich beschließe noch einmal einen Rundgang im wahrsten Sinne des Wortes. Kein Hinweis, dass hier oben irgendjemand ist. An „Tisch 11“ zeigt sich in der Ferne das Olympiastadion. Ich setze mich, nehme einen Zahnstocher und versuche, mir damit den Dreck unter den Fingernägeln zu entfernen.

Und plötzlich ist er da! Er sitzt mir gegenüber und sieht mich hemmungslos, völlig ungeniert an. Sein Gesicht wirkt zombiehaft, aschfahl, ein wenig wie aus dem Wachsfigurenkabinett. Mir ist, als ob seine Augen mich durchleuchten.

Ein kurzes Beben lässt die Maiglöckchen in der Vase zittern.

„Haben Sie keinen Hunger? Die Gulaschsuppe hier oben ist gar nicht so übel.“ Darth Vaders Stimmbänder haben sich mit denen von Elisabeth Flickenschild gepaart!

„Hier ist doch niemand. Wer sollte mir denn eine Gulaschsuppe servieren?“ Ich stecke den Zahnstocher mit der etwas grauen Spitze in meine Jackentasche.

„Vielen Dank, dass Sie meiner Einladung folgen konnten. Ich schlage vor, wir fangen gleich an.“ Er nimmt ein Diktiergerät und legt es aufnahmebereit auf den Tisch.

Die Wolken haben sich westwärts zu einem fast schwarzen Gebirge formiert.

Ich versuche mich zu konzentrieren. Was will er von mir? Seine Fragen scheinen wortlos in mein Bewusstsein zu drängen.

„Wie alles anfing, wollen Sie wissen? Meine Eltern kamen beide aus dürftigen Verhältnissen. Der Vater meiner Mutter starb, als sie drei Jahre alt war. Ihre Mutter war Schneiderin und dann kam Hitler und dann der Krieg. Die Eltern meines Vaters hatten sich scheiden lassen. Seine Mutter war viermal verheiratet. Davon zweimal mit demselben Mann. Sie war Arbeiterin beim Heinrich-Bauer-Verlag, wo sie auch ihren zweimaligen Mann kennengelernt hatte. Mein Großvater war Vertreter bei der Barmer Ersatzkasse und verstarb schon mit 59 Jahren an Lungenkrebs. – Mein Mund ist etwas trocken. Ich geh‘ einfach mal und sehe nach, ob ich was zu trinken finde.“

Er drückt auf das Diktiergerät.

Die Küche ist nicht sonderlich aufgeräumt. Hinten schließt sich eine Art Getränkeraum an. Glücklicherweise habe ich meine kleine Taschenlampe dabei, sonst könnte ich hier so leicht nichts finden. Ich schnappe mir zwei kleine Cola und überlege, ob er auch etwas möchte.

„Habe ich das mit den kleinen Verhältnissen zufriedenstellend erklärt? Ich meine, mein Vater hat sich nach seiner Kriegsgefangenschaft in Virginia zum Dentisten hochgearbeitet und profitierte dann für sich und seine Familie am deutschen Nachkriegswirtschaftswunder. Er hat ordentlich malocht in seiner Zahnarztpraxis, die er in der Schöneberger Arbeitergegend von einem Dr. Gutmann abgekauft hatte.

Mit Füllungen und Prothetik, die damals noch von den Krankenkassen erstattet wurden, brachte er es zum vierstöckigen Eigenheim.“

„Mich interessiert Ihre Gefühlsebene.“ Er schaut mich an, aber tut er das wirklich?

„Wo soll ich da anfangen? Meine kleinen Fluchten in den Schulferien zu den Großeltern in die Lüneburger Heide?“

Aus den Lautsprechern ertönt plötzlich der blonde Hans Albers mit seiner Reeperbahn nachts um halb eins.

„Die Mutter meines Vaters hatte sich zusammen mit ihrem dritten, beziehungsweise vierten Mann ein kleines Wochenendhäuschen im Wald bei Buchholz in der Nordheide zusammengespart. Dort lebten die beiden und verbrachten ihren Lebensabend eine Eisenbahnstunde entfernt von ihrer Heimat auf Sankt Pauli.“

„Und Ihr Gefühl dabei? Wie war das so weit weg von Berlin, auf dem norddeutschen Land, in der Lüneburger Heide?“

„Meine eindringlichste Erinnerung findet morgens in jenem kalten Schlafzimmer statt. Die Sonnenstrahlen kamen wie am Lineal gezogen durchs verschwitzte Fenster. Davor schwebten hunderte kleiner, winziger Staubteilchen. Oft wachte ich mit diesem Eindruck auf und lag in der Besucherritze, im großen Doppelbett meiner Großeltern. Wo sie bloß herkamen, diese vielen kleinen Partikelchen?

Einige davon waren sogar ganz schön stabil. Und so entdeckte ich von Zeit zu Zeit ein ganz spezielles, das quer vor dem Fenster entlangsegelte. Eine meiner Mitschülerinnen lag dann darauf. Ich konnte sie immer genau erkennen. Ihre Staubpartikelchen segelten mit ihnen direkt in ihre Zimmer, die sie bei mir in einem speziellen Häuschen mit vier Räumen hatten. In jedem Raum wohnte ein Mädchen aus meiner Klasse. Bärbel war oft die Letzte, die eintraf. Sie war die Blonde mit dem Charleston-Haarschnitt und den braunen Augen. Außerdem wohnten darin noch die schwarzhaarige Rita, die strohblonde Elisabeth und der Rotschopf Karin. Die Mädels waren in dem Gebäude eingesperrt. Manchmal hörte ich sie zetern, dass sie nach Hause wollten. Doch das ging nicht, sie gehörten ja mir.

Ich konnte mir immer abwechselnd eine holen. Das war ganz einfach. Ich griff nur von oben in eines der Zimmer und schwupp war diejenige still und ließ alles mit sich geschehen. An jenem Morgen, an den ich gerade denke, hatte ich Lust auf Bärbel. Als sie auf meiner Hand saß, entspannte sie sich und kuschelte sich an meinen Daumen. Langsam setzte ich sie neben mich ab, damit sie ihre normale Körpergröße erreichen konnte. Ihr grünschwarzes Kleid war verlockend kurz und so schob ich es weiter nach oben, damit das Spannendste von ihr zum Vorschein kommen konnte. Sie hatte eine weiße Unterhose mit kleinen gelben Blümchen an. Wenn ich damals gewusst hätte, dass das Studentenblumen waren, die man vornehm auch Tagetes nennen darf, und dass deren Duft mein Leben verzaubern würde! Der kleine Venushügel unter dem Höschen roch ein bisschen nach ..., ja, wonach wohl?

Dann streichelte ich sie und sie schloss die Augen. Doch ich hatte es nicht bemerkt. Die Schlafzimmertür stand sperrangelweit offen und meine Oma lud mich zum Frühstück ein.

Aus dem Radio kam die Stimme eines Nachrichtensprechers vom NDR:

Das Konklave der Kardinäle wählte im fünften Wahlgang den italienischen Bischof Giovanni Battista Enrico Antonio Maria Montini zum neuen Papst. Er gibt sich den Namen Papst Paul VI. Die Namen der Mainzelmännchen, der Maskottchen des Zweiten Deutschen Fernsehens, sind Anton, Berti, Conni, Det, Edi und Fritzchen.

Mein Gegenüber muss husten. Ein trockener, sicher chronischer Husten.

„Haben Sie diese Art Allmachtsfantasien öfter gehabt?“

„Ich glaube ja. Früher waren das einfach Wunschvorstellungen. Später eher Fluchtpunkte, wenn der Alltag zu sehr nervte.“

Die Lautsprecher säuseln The Beat Goes On von Sunny and Cher.

„Wenn Sie zurückblicken. Womit fing es eigentlich an?“

Er präzisiert es nicht, aber mir ist klar, worauf er hinauswill.

„Nach der zweiten Phimose-Operation. Es war meine erste Taxifahrt, an die ich mich erinnern kann. Die Praxis des Chirurgen Bethke war am Tempelhofer Damm. Ich hatte auf dem OP-Tisch gelegen. Und mir war eine Maske übers Gesicht gestülpt worden. Eine Maske aus einem Metallgittergeflecht. Und gleich hatte es angefangen. Es hatte auf den Stoff, der die Maske umhüllte, getropft und diese Tropfen hatten gestunken wie die Pest. Dieser ekelhafte Geruch war sofort auf den Weg durch meine Nase in mein Inneres gekrochen. Ich hatte zählen sollen, laut vor mich hinzählen. Bis kurz vor 10 war ich wohl gekommen. Dann hatte ich mich in Wohlgefallen aufgelöst. Weit weg war alles verschwunden. Meine eigene Stimme hatte wie in einer riesigen Kathedrale geklungen.

Ekel löste dann dieses traumlose Abhandensein ab. Kotzübel war mir. Und mein armer Vater besaß in jenem Taxi auf der Rückfahrt von der Chirurgenpraxis nach Steglitz einen ununterbrochen reihernden Sohn.

Lulu-Machen, so hieß bei meiner Mutter das kindliche Wasserlassen. Das war verdammt schmerzhaft nach dieser OP. Es brannte wie Feuer. Erst nach ein paar Tagen konnte ich fast schmerzfrei meinen Schniepel befühlen. Eigentlich ist das ein umgangssprachlicher Ausdruck für einen Frack. Meine Mutter hatte also meinen Penis zu einem eleganten Kleidungsstück verbalisiert. Doch dieses etwas schmerzhafte Betasten begann mir nun immer mehr Freude zu bereiten. Und dieser Schniepel konnte auch wachsen, und wenn ich mich genug anstrengte, wurde es so schön, dass er vor lauter Wonne auch noch anfing zu sabbern.“

Die ersten Tropfen treffen auf die Aussichtsfenster. Sie perlen herunter. Der Wind nimmt zu und treibt sie quer über die Scheiben.

„Wissen Sie noch, wodurch Sie das erste Mal so richtig erregt wurden?“

Draußen spielt das Wetter Weltuntergang und ich soll mich auf meine erste Geilheit konzentrieren!

„Ich war so dreizehn oder vierzehn. Der Blick durch das Fenster meines Zimmers zeigte auf den Birkbuschgarten. Wir wohnten in der obersten Etage. Im rechten Winkel neben meinem Zimmer war das Fenster einer Nachbarwohnung, die von einem jungen Ehepaar bewohnt worden war. Abends, wenn Ein Platz für Tiere von und mit Bernhard Grzimek vorbei war oder wenn die Flucht des Richard Kimble begann, musste ich ins Bett. Zufällig hatte ich wohl aus Langeweile und weil ich noch nicht müde war, aus meinem Fenster geguckt. Bei mir war es schon dunkel, aber im Zimmer über Eck brannte plötzlich Licht und eine ungeahnte Bühne wurde für mich hergerichtet. Eine hübsche junge Frau mit schwarzen Haaren, die zur Bubikopffrisur geschnitten waren, betrat diese Bühne und stand dann mit dem Rücken zum Fenster. Zuerst zog sie sich ihre gelbe Bluse aus. Dann drehte sie sich ein wenig und ich konnte ihren üppigen Busen, der von einem schwarzen BH eingefangen war, bewundern. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Ich kauerte mich am unteren Rand meines Fensters hin und hoffte irgendwie, dass ich unsichtbar sei, und merkte dann, wie mein von Phimose bereinigtes Teil an der kochenden Heizung enorm hart wurde. Sie bewegte ihren Kopf und sah genau zu mir herüber. Im Nu tauchte ich ab. Nach ein paar Sekunden vielleicht lugte ich wieder hinüber. Ich war unentdeckt geblieben und bei ihr rutschte gerade der Rock wie in Zeitlupe abwärts. Nun stand sie da in BH und beigefarbenem Slip und bei mir stand auch etwas zwischen den Heizungsrippen eingekeilt und begann sich am Metall zu reiben. Mir lief es wohlig den Rücken hinunter. Es war wie ein ausgewachsener Schüttelfrost. Ich zitterte am ganzen Körper. Die Frau ließ mich glühen, fast wie meine Heizung.

Doch urplötzlich war die Vorstellung zu Ende. Der Vorhang fiel, das hieß, sie zog völlig unsensibel eine saublöde Gardine vors Fenster. Die war zwar ein wenig durchsichtig, sodass ich meine Nachbarin in einem weißen Nachthemd erahnen konnte, aber erstens ging dann auch noch das Licht aus und zweitens musste ich mir an der Heizung nun unbedingt Erleichterung verschaffen.“

„Ich nehme an, Sie hatten dieses Schauspiel nicht nur einmal?“

„Leider kam die Lady auch viel zu oft auf die Idee, vor ihrem Striptease diesen überflüssigen Gardinenstoff zu bemühen. Und so wartete ich viele Abende zitternd umsonst. Aber immerhin ließ sie mich zweimal ihre schwarz bewaldete Venus bewundern. Die Vorstellung, ihre beiden birnenförmigen Brüste zu streicheln, ließ mich die arme unschuldige Heizung befeuchten. Manchmal dachte ich schon vormittags während des Unterrichts an meine schöne Nachbarin, die nie erfahren hat, welche Freude, aber auch welchen Frust sie ihrem halbwüchsigen Nachbarn bereitet hatte. Wenngleich ich allerdings wirklich der Meinung war, dass ihre Aufführungen ausführlicher und damit länger und vor allem öfter auf den nachbarschaftlichen Spielplan gehört hätten!“

Draußen ist alles nur noch tiefschwarz. Der Regen wird über die Fenster gepeitscht und die Lautsprecher verkünden wie sinnig: Riders on the Storm. Wer ist hier eigentlich für den Ton zuständig?

Er schaut mich an, besser, sein Blick scheint mich zu durchdringen.

„Los, erzählen Sie weiter!“

Kurz hintereinander jagen zwei Blitze über die Stadt.

„Vera trug Strümpfe, die von Strapsen gehalten wurden. In der neunten Klasse, die ich auf dem Hermann-Ehlers-Gymnasium das zweite Mal absolvieren durfte, saß ich wie sie in der letzten Reihe. Nur der Gang trennte uns, und so durfte ich von Zeit zu Zeit, wenn es ihr nach einem kurzen Rock zumute war und sie sich gelangweilt zum Beispiel in einer Lateinstunde etwas gemächlicher auf dem Stuhl lümmelte, die Ränder ihrer Strümpfe bewundern. Sie hatte eine freche Stupsnase, jede Menge Sommersprossen und ihre schwarzen Haare waren zu einer Frisur der 20er-Jahre geschnitten. Sie neckte mich gerne, wobei ihre blauen Augen stets Blitze verschossen. Sie hatte sich einen überaus blöden Spitznamen für mich ausgedacht: Schnulli!

An jenem Mittwochmorgen trug sie einen wippenden, schwarzen Faltenrock mit kleinen, weißen Pünktchen. Schon in der ersten Stunde, Deutsch bei meinem Intimfeind Dr. Knobelsdorf, von mir nur respektlos von hinten nach vorne Frodslebonk benannt, sah ich, dass sie weiße Strümpfe trug. Den Plan, ihr die Strümpfe zu klauen, hatte ich schon seit ein paar Wochen.

Oft hatte ich nachts wach gelegen, mich dabei sehr angenehm berührt und war alles genau durchgegangen. Es ging nur während des Sportunterrichts. Ich konnte ihr die Sachen ja schlecht vom Leib reißen. An diesem Mittwoch also sollte es sein. Ich selber war für diesen Tag vom Sportunterricht, der in der schuleigenen Turnhalle stattfand, befreit. Die Umkleidekabinen waren im Kellerbereich. Jungs und Mädels hatten gemeinsamen Unterricht und durften sich beim Basketballspiel vergnügen. Vorsichtig betrat ich den Raum der Mädchen. Niemand war mehr dort. Verweist hingen und lagen die Klamotten meiner Mitschülerinnen an Haken und auf Bänken. Vieles war unordentlich einfach nur so dahingeworfen worden. Wo waren Veras Sachen? Mir war kalt, obwohl gerade im Kellerbereich gut geheizt worden war. Es roch nach Bohnerwachs. Da, hinten links, fast an der Eingangstür zu Halle, sah ich sie liegen. Vera war ordentlich. Ihre Strümpfe, der Hüftgürtel und der blütenweiße Slip waren fein säuberlich auf der Bank platziert.

Jetzt musste alles sehr schnell gehen! Ich ergriff all die Kostbarkeiten und schob sie mir unter den Pulli. Wie von einer Tarantel gestochen, jagte ich durch die Gänge, zum Ausgang und dann auf die Straße. Ich hatte ja frei. Der kleine Kramladen an der Ecke Steinstraße war mein Ziel. Rasch ´ne Cola und vor allem beruhigen. Als ich pünktlich zu Beginn der nächsten Stunde auf meinem Platz saß, merkte niemand, dass ich ein kleines bisschen mehr Bauch hatte. Rechts neben mir war der Platz leer. Auch Frodslebonk, der uns eigentlich Christliches im Religionsunterricht nahebringen sollte, verspätete sich. Nach sage und schreibe fünfzehn Minuten öffnete sich die Tür und Frodslebonk stellte sich mit hochrotem Kopf vor die Klasse. Er schrie etwas von Herrschaften, es sei die liebe Mitschülerin Vera bestohlen worden. Er hätte sie nach Hause schicken müssen, da ihr entscheidende Anziehsachen gefehlt hätten. Plötzlich bekam ich jede Menge Angst vor Leibesvisitationen oder Ähnlichem.

Also entwickelte ich furchtbare Kopfschmerzen und ließ mich von Reinhardt, meinem Klassennachbarn zur Linken, nach Hause begleiten. In meinem Zimmer genoss ich ausgiebig den Duft der an Strümpfen, Hüftgürtel und weißer Unterhose haftete. Leider hielt dieses wunderbare Parfum nicht lange. Erstens, weil es sowieso nicht besonders intensiv war und vor allem zweitens, weil ich mich überhaupt nicht zurückhalten konnte und so oft ich es vermochte, meine Nase in den kuscheligen Stoffen vergrub.

Eine Woche später hatte Klassenlehrer Frodslebonk einen außerordentlichen Elternabend einberufen. Ausnahmsweise waren meine Eltern hingegangen. Die paar Stunden, bis sie wieder nach Hause kamen, wollten überhaupt nicht vergehen. Doch niemand hatte mich verdächtigt. Meine Aufregung war umsonst gewesen. In Steglitz war an einem Gymnasium die Unterwäsche einer Sechzehnjährigen gestohlen worden. Man war der Meinung, dass das unerhört sei, doch ich als Täter hatte ein anderes Problem: Ich musste meine Beute doch mal waschen! Wo sollte ich sie denn trocknen?“

„Wissen Sie, wann das mit der Unterwäsche und mit den Strümpfen anfing?“ Er lehnt sich zurück. Hinter ihm, in den gewaltigen Panoramafenstern, erscheint die Nacht wie ein gigantisches, schwarzes Nichts. Kein Licht weit und breit.

„Mutter hat mich oft in den kleinen Laden an der Ecke Presselstraße mitgenommen. Dort saß in jenem winzigen Geschäft eine Frau hinter einem Tisch, der von einer Art Nachttischlampe beleuchtet wurde. Im Licht dieser ziemlich erbärmlichen Funzel reparierte diese Maschenkünstlerin alle Nylons aus der Umgebung. Mit einem Zwischending aus Nadel und Häkelmetall jonglierte sie die widerspenstigen Fäden zurück in Reih und Glied. Gerne hätte ich das auch mal ausprobiert, aber Mutter meinte, das sei nichts für einen Jungen. Die Strumpfdompteuse lächelte mich stets an und das Geräusch, welches ihre Beine unter dem Tisch machten, dieses sanfte Schrapen, das ihre Nylons vollführten, das gefiel mir sehr.

Als ich in der achten Klasse des Gymnasiums war, kam der Umbruch. Die ersten Vorboten der Strumpfhose kündigten sich an. Meine Mitschülerinnen, allen voran Elisabeth, waren schon von ihnen überzeugt. Ebenso überzeugt war sie wohl auch, dass sie mit ihrer Freundin alleine im Klassenzimmer sei. Auf jeden Fall sah ich, als ich verfrüht von der Pause zurückstürmte, wie Elisabeth ihren Rock hochgehoben hatte und diese neumodischen Strümpfe vorführte, die keine Strapse mehr benötigten, denn oben am Bund waren sie zu einer Art breitem Gürtel verlängert. Sozusagen Strumpfgürtel mit Strümpfen in einem.

Die strohblonde Elisabeth lief natürlich richtig rot an, als sie merkte, dass ich ihr strumpfiges Geheimnis miterleben durfte.

Den Tag danach schwänzte ich die Schule. Ich fuhr stundenlang mit der S-Bahn durch die verregnete Stadt. Am Kaiserdamm machte ich mich lächerlich, denn ich verlangte in einem Plattenladen das Lied Judy In The Sky. Der Verkäufer kannte das Problem und belehrte mich, dass der Song von John Fred and his Playboyband Judy In Disguise With Glasses hieß. Mit dieser Single, sagte man damals für eine kleine Schallplatte, in der Schultasche fuhr ich weiter bis nach Zehlendorf. Am Teltower Damm gab es einen großen Supermarkt, ich glaube, der hieß Kaiser‘s, und der verfügte über eine Strumpfabteilung. Und tatsächlich. Dort entdeckte ich diese neuartigen Kostbarkeiten. Es gab sie in Beige und in einem fast tomatigen Rot. Wie weich sie sich anfühlten. Das entsetzliche Problem war nur, ich hatte weder das Geld noch den Mut, sie zu kaufen. Also schlich ich wohl um die zwanzigmal immer wieder den Regalgang auf und ab. Oben an der Stirnseite des Ladens war ein großes Fenster, hinter dem sich sicher ein Supermarktleiter verschanzt hatte. So dachte ich still vor mich hin, als plötzlich, nach der zweiundzwanzigsten Runde meines unfreiwilligen Parcours, jemand von hinten an mich herantrat!

Ich drehte mich um und starrte in das Gesicht eines Hornbrillenträgers. Er hätte mich seit einigen Minuten beobachtet und es sei wohl besser für mich, hier umgehend zu verschwinden. Meine Gedanken wirbelten mir im Kopf umher, wie ein lästiger Wind, der das Laub in den Straßen unkontrolliert tanzen lässt. Was für eine Schmach! Natürlich verließ ich den Laden wie einer jener berühmten Pudel unter der unfreiwilligen Dusche.“

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9783750206052
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