Kitabı oku: «Symphonie der Toten», sayfa 5
„Wem hat er dann sein Hab und Gut vermacht?“
„Niemandem! Seinen Karren kann keiner gebrauchen. Bis sein Sohn alt genug dafür ist, vergehen zehn Jahre, und bis dahin ist der Wagen in Schnee und Regen verwittert.“
Der Alte stand auf, öffnete die Stalltür und betrachtete den Himmel. Frische Kälte strömte herein. Eine beißende, tödliche Kälte.
„Mach zu! Mach zu!“, rief Urhan, und der Alte schloss schnell und behände die Tür. „Der Himmel bezieht sich wieder!“, sagte er.
Urhan fielen die Augen zu. „Wie sollen wir denn hier schlafen?“, fragte er.
„Ich bleib nur hier, bis es hell wird. Dann brech ich auf“, entgegnete der Alte.
Er riss ein Streichholz an und schaute sich suchend um. Nochmals strich er ein Zündholz an und hielt es über die Futterkrippe. „Da kannst du dich zum Schlafen hinlegen!“, meinte er.
Urhan drängte sich zwischen den Lasttieren durch. Er spürte eine wohlige Wärme in der eiskalten Luft.
„Zünd ein Streichholz an!“, bat er.
Er schaute sich die Krippe an. Sie war mit Kies gefüllt. „Hier?“, fragte er.
„Ja, leg dich nur hin! Keine Angst!“
Urhan stieg auf die Krippe und setzte sich hin. Dann streckte er die Beine aus, sagte: „Eine Decke, irgendetwas …“, und er versuchte, die Dunkelheit mit seinem Blick zu durchdringen. Der Alte lachte trocken auf und Urhan zog die Beine wieder an.
„Womit soll ich mich denn zudecken?“
„Wenn dir‘s nichts ausmacht, es gibt zwei Packsättel.“
Zitternd steckte sich Urhan die Hände unter den Kragen.
„Machst du’s jetzt wie alle Schuldner?“, hatte ich ihn gefragt. Er glaubte wohl, wenn er den Kopf zur Seite drehte, würde ich ihn nicht sehen
Da sagte er: „Grüß dich, Urhan!“
Er war jetzt beim Militär. Sie hatten ihm die Haare abrasiert, und seine Augen lagen tief in den Höhlen.
„Djamshid ist bei den Soldaten!“, hatte Wachtmeister Ayas gesagt. „So langsam wird doch noch was aus ihm!“
Er war kein übler Mensch. Ich weiß nicht, von woher er plötzlich aufgetaucht war, nur um dann still und lautlos wieder aus dieser Welt zu verschwinden. Und warum er mein Freund war. Wenn er in seiner ganzen Länge vor unserem Haus wartete, fragte ich mich oft, warum er die Geduld nicht verlor. Da stand er, ein Bein gegen die Mauer gestemmt, bis ich herauskam. „Wenn du willst, dass ich mitkomme, musst du warten, bis ich gebadet habe“, sagte ich.
Er kratzte sich am Kopf und verzog den Mund. „Gebadet? Kannst du das nicht lassen?“
„Ich war ‘ne ganze Woche nicht mehr im Bad.“
„Wie lange dauert’s denn?“
„Eine Stunde. Vielleicht auch zwei.“
„Gut, ich warte. Aber beeil dich um Gottes willen!“
Und Djamshid wusste nicht – oder vielleicht wusste er es auch, und es war ihm nur egal –, dass ich im Bad in dem heißen Wasserdampf die Zeit vertrödelte und mich immer wieder abseifte, bis meine Haut ganz rot war. Ich trank Wasser, mir wurde heiß, und wenn ich dann schließlich rauskam, wartete Besenstiel vor der Haustür, genau wie vorher, ein Bein gegen die Mauer gestemmt.
„So, Besenstiel, wollen wir jetzt zu Martha gehen?“, fragte ich dann.
Urhan lauschte auf die Stille des Schnees. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte, ob er schließlich Aidin finden würde. Er war sicher, dass der noch lebte, und jetzt, wo er endgültig seinen Entschluss gefasst hatte, wollte er auch bis zum Ende gehen, die Sache in Ordnung bringen und sich dann ohne die Sorge um Aidin seiner eigenen Misere zuwenden. Er wusste, dass er ihn ganz einfach irgendwo festbinden konnte und ihn dem Schnee überlassen – ohne ihn zu erwürgen, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen; er bräuchte ihm nicht einmal einen Faustschlag zu versetzen. Gleich hier an diesem Türgerüst konnte er ihn festbinden. Er konnte ihn auch von den Klippen in den See hinabstürzen, damit seine Seele früher ihren Frieden fände, denn der Vater hatte immer gesagt: „Je kühler die Ruhestatt der Toten, desto weniger müssen sie leiden.“
Wir gossen Wasser auf Aidas Grab. Mutter hielt eine Flasche Rosenwasser in der Hand, und ich wartete darauf, dass sich der Duft verbreitete. Da sagte Aidin: „Alles, was ihr nicht hätte zustoßen dürfen, ist ihr zugestoßen. Jetzt ist es zu spät.“ Er stand zu Häupten des Grabes und schaute gen Himmel. An jenem Tag trug er einen dunkelblauen Anzug, und unter seinen Rockaufschlägen schaute bis zu den Knöpfen ein feiner Schal hervor. Vater, der gerade ein Gebet sprach, hob den Kopf und warf ihm einen schrägen Blick zu. Dann flüsterte er mir ins Ohr: „Schau dir diesen Nichtsnutz an!“
Ebenso leise entgegnete ich: „Was kümmert dich das!“
Vater meinte nur kopfschüttelnd: „Sicher will er um vier Uhr wieder ins Armenierviertel gehen!“ Und Aidin hatte noch immer den Blick zum Himmel gerichtet, als ob er einen imaginären Fallschirm herabschweben sähe.
Als wir noch Kinder waren, waren wir immer gleichfarbig und gleichartig gekleidet. Die Mutter drückte uns zwei Plätzchen in die Hand und sagte: „Geht spielen!“
Wir hatten gelernt, uns an der Hand zu fassen, wenn wir irgendwohin gingen. Manchmal schickte uns Mutter auch ein paar Knöpfe, ein Stück Spitze, irgendeine Kleinigkeit kaufen, und manchmal gingen wir auch zu der Ventilatorenfabrik Lord hinüber, und Aidin und ich liefen Hand in Hand den abschüssigen Weg zum Werk hinab. Da unten dröhnte es aus der Fabrik, und die Arbeiter in uniformer gelber Kleidung packten die Ventilatoren in Kartons und luden sie auf dem Platz vor den Hallen auf die kleinen James-Lastwagen. Solange ich noch zur Schule ging, gingen wir immer zusammen. Wir waren ungezogener als die anderen Kinder. Ich brauchte Aidin nur freche Kinder zu zeigen, und schon drückte er sie gegen die Wand. Er schlug ihnen ein paar hinter die Ohren und sagte: „Vergiss nie, Urhan ist mein Bruder!“
Als ich die Masern kriegte, nahm er mich auf den Rücken und schleppte mich von der Schule nach Hause. Aber unsere Tage verliefen nicht immer gleich: Mal gab’s gute Zeiten, mal schlechte. Und je älter wir wurden, umso schlechter wurden sie.
„Bevor wir dreißig sind“, meinte Aidin, „werden wir in diesem Land zugrunde gehen. Du auf deine Art, ich auf meine, und Aida wieder auf eine andere.“
„Die Lizenz für das Geschäft muss auf meinen Namen sein!“, bestimmte ich.
„Macht nichts“, entgegnete er, „die kann ruhig auf dich laufen.“
„Dazu ist das notarielle Einverständnis des Partners erforderlich. Aber wir sind ja keine Partner, wir sind Brüder.“
Und ich ließ die Lizenz auf meinen Namen ausstellen. Der Wachtmeister Ayas meinte: „Dadurch bist du einen Riesenschritt weitergekommen. Jetzt ...“
Mutter aber sagte: „Was fällt dir eigentlich ein?! Soll dein Vater nicht einmal im Grabe Ruhe finden? Halbe-halbe!“
Wohl oder übel ließ ich dann die Grundbücher und Besitzurkunden so, wie sie waren, und kümmerte mich nicht darum. Wenn ich nachts in meinem Zimmer vom Fenster aus den Himmel betrachtete, vermeinte ich, den Laut seines Lidschlags und seines Nachdenkens zu hören. Und wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn mit einem Messer meine schöne rote Wassermelone in der Mitte durchschneiden. Ganz deutlich sah ich ihn vor mir, inmitten einer Helligkeit. Ich erinnerte mich daran, wie ich die Pistaziensäcke vierzig Stufen hinunter- und dann wieder heraufgeschleppt hatte. Das war nicht gerecht. Zur selben Zeit hatte sich Aidin herumgetrieben und war zur Schule gegangen. Und ich war derjenige gewesen, der im Kontor geschuftet hatte. „Der eine schuftet, der andere steckt den Lohn dafür ein“, meinte Vater nur. Nein, recht war das nicht. So viel Mühe all die Jahre!
„Mutter“, sagte ich, „hätte ich denn nicht auch weiter zur Schule gehen können?“
„Wie oft hab ich dir das gesagt!“, entgegnete sie. „Wärst halt gegangen!“
Das Leben war bitter. Vergiftet und bitter. Nachts glühte ich, tags litt ich. Mein Gott, dachte ich, wo bleibt da die Gerechtigkeit? Halbe-halbe? Und vom Fenster aus sah ich den Rauch meines Ofens zu den Raben aufsteigen. Zu den Ästen der Kiefer stieg er auf, um die Raben daran zu erinnern, morgens früh bei Sonnenaufgang ihr ‚kalt, kalt‘ zu krächzen.
Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass er noch lebt. Er wird ja auch nie krank. Nur seine Zähne sind verfault, und er kann nicht mehr Brot mit Walnüssen essen. Auch andere Speisen kriegt er nicht mehr runter. Meist schlürft er eine Suppe. Er sieht aus wie ein verbrauchter, arbeitsunfähiger alter Mann, nur eben völlig ruhelos. Vom ersten Hahnenschrei an bis spät in die Nacht ist er wach. Und ich weiß nicht, wonach er sucht.
„Was suchst du denn?“, hatte ihn Vater gefragt.
Seine Antwort: „Mich selbst!“
Anfänglich glaubte ich, er müsse noch ein anderes Ich haben, das ihn so quälte, mir kam sogar der Gedanke, dass er von Geistern besessen sei. Aber nichts dergleichen! Ich merkte, dass er sich nur selber quälte und immer tiefer sank. Bei ihm war alles anders. Sogar seine Verliebtheit war nicht die eines normalen Menschenkinds. Er war in Liebe zu einer blondhaarigen Armenierin namens Ssurmeh entbrannt. Jahrelang hatte er in einer Holzsägerei gearbeitet, hatte alles, was er verdiente, für Bücher ausgegeben und sich eingebildet, ein Dichter zu sein.
„Was suchst du denn?“, hatte ihn Vater gefragt.
Und er hatte geantwortet: „Mich selbst!“
Von einem, der sich selbst sucht und darüber verrückt wird, kann man nicht mehr erwarten. Er ist ein Verrückter, der niemandem etwas zuleide tut und der doch nicht zu ertragen ist. Hinten in der Karawanserei verbrachte er unter den Lastträgern seine Tage, abends lief er hinter mir her, grüßte jeden auf dem ganzen Weg nach Hause, fragte dies oder das oder zählte einfach die Holzmasten der elektrischen Leitungen.
„Weißt du was, Herr Bruder“, meinte er, „jetzt schneit es schon seit zwei Wochen.“ Durch den Lichtschacht in der Kuppel der Karawanserei betrachtete er den Himmel.
„Der hat uns so viel Schnee geschickt, dass er sich jetzt vor den Leuten schämt. Er erledigt seine Aufgabe nun nachts, wenn alle schlafen.“
Der Schnee hatte jedes Maß überschritten. Dieser verfluchte Schnee, der uns allen zu schaffen machte. Tagsüber war der Himmel bewölkt, die ganze Nacht durch schneite es ohne Unterlass.
„Stimmt etwa nicht, was ich sage, Herr Bruder?“, fragte er.
„Du bist frei!“, antwortete ich lachend. „Sag, was du willst!“
Er kam ins Kontor. Steckte sich eine Handvoll Melonenkerne in die Tasche und setzte sich auf einen vollen Sack.
„Herr Bruder“, meinte er, „gib mir Geld, ich möchte ins Badehaus gehen.“
Ich stand vor der Tür und wies einen der Gehilfen an, ihm einen Zwei-Tuman-Schein zu geben.
„Herr Bruder“, hat Aidin, „sag ihm, er soll mir mehr geben! Ich möchte auch noch Tee trinken.“
„Tee gibt’s hier!“
Doch er entgegnete: „Tee schmeckt nur im Teehaus am Salzsee.“ Und er stellte sich neben mich.
Er wirkte recht müde und seine Stimme klang klagend, als er sagte: „Bruder, es ist Zeit, das Bündel zu schnüren und Abschied zu nehmen. Die Schlechtigkeit der Welt hat jedes Maß überschritten.“
„Wohin soll’s denn in Gottes Namen gehen?“, fragte ich.
„Nach Ssabol* oder auch nach Kabul.“
„Mach das! Das ist eine gute Idee. Und vergiss nicht, mir ein Reisepräsent mitzubringen!“
Wie sollte ich denn ahnen, dass er weggehen und nicht wiederkommen würde?
Als wir damals aus Villadarreh zurückgekommen waren, wurde ihm übel.
„Steck den Finger in den Hals!“, sagte Mutter. „Vielleicht kannst du dich dann erleichtern.“ Und er steckte sich den Mittelfinger in den Schlund, konnte aber nicht erbrechen.
„Was habt ihr denn gegessen?“, fragte mich Mutter.
„Kebab und Buttermilch und Joghurt, was man halt so isst.“
„Aber dir fehlt doch nichts?“
„Nein“, antwortete ich.
„Warum geht’s dann Aidin so schlecht?“
„Weiß ich nicht!“
„Bring ihn zum Arzt!“
Es ging ihm wirklich sehr schlecht, schlechter als einem, der eine Lebensmittelvergiftung hat. Ich brachte ihn zu Doktor Naidanoff. Wir setzten uns ins Wartezimmer.
„In meinem Kopf dröhnt es wie im Basar der Kupferschmiede“, sagte er.
Von oben kam der Geruch nach geröstetem Knoblauch. „Jetzt lass uns erst mal an die Reihe kommen!“, meinte ich.
„Mir ist, als ob etwas in meinem Bauch herumrumpelt.“
„Du musst dich ein paar Tage ausruhen!“
Ohne irgendeinen Grund zitterten mir Hände und Beine, und ich fühlte eine komische Schlaffheit in meinen Gliedern. Mein Herz schlug wie wild.
„Das sind nur deine Nerven!“, sagte ich zu ihm.
„Es reißt und zieht in meinen Beinen!“
„Bist du jetzt endlich erledigt?“, frohlockte ich in meinem Innern. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und wiegte sich hin und her, ganz ruhelos. An jenem Tag war er schon vom Morgen an bedrückt und müde gewesen. Als wir an der Reihe waren, traten wir in das Sprechzimmer. Doktor Naidanoff war noch dicker geworden, so wie ich jetzt. Er saß hinter seinem braunen hölzernen Schreibtisch. Er trug einen Spitzbart, und seine Stirn war tief gefurcht. „Welcher von euch ist denn der Patient?“, fragte er. Ich zeigte auf Aidin und setzte mich.
„Was fehlt ihm denn?“
„In seinem Kopf dröhnt es wie im Basar der Kupferschmiede, in seinem Bauch rumpelt’s herum, und in seinen Beinen reißt und zieht es.“
„Dann bring ihn ins Irrenhaus!“, sagte der Arzt, untersuchte ihn und schrieb ein Rezept.
Wir kehrten nach Hause zurück. Was ich auf dem Heimweg auch sagte, er redete einfach so vor sich hin.
Er sagte: „Mach die Lampe über meinem Kopf aus!“
„Du hast sicher Fieber!“
Er murmelte etwas vor sich hin und schüttelte den Kopf. Die Augen konnte er nur noch mit Mühe offenhalten, er machte große Schritte, schlenkerte mit den Armen und kannte offensichtlich den Weg nicht mehr.
„Ein Erdbeben!“, sagte er plötzlich.
„Wo denn?“, fragte ich.
„Ich bin kürzlich draufgekommen, dass es ein furchtbares Erdbeben gibt, wenn ein Land Krieg führt. Du fragst warum? Nun, das ist klar: Nachher, wenn aus der ganzen Stadt Rauch aufsteigt, wirst du’s verstehen.“
Manchmal rezitierte er Gedichte, sagte Dinge, die ich bislang nie aus seinem Mund gehört hatte. Und Mutter fragte: „Was hast du ihm bloß auf den Kopf geschlagen?“
„Ich?“ Doch ganz unwillkürlich zog es mich zum Haus der Geistheilerin, und ich brachte sie her. Aber auch jetzt konnte ich Mutter nicht davon überzeugen, dass mich keine Schuld traf.
Die Geistheilerin riet uns: „Gebt den Armen etwas! Wenn ich mehr als das sage, geht eure ganze Sippe zugrunde.“
Mutter war ganz und gar aus dem Häuschen, ruhelos, und sie konnte doch nichts tun.
„Vielleicht war’s ein anderer!“, vermutete sie.
„Dankt Gott“, sagte die Geistheilerin, „dass es nicht noch schlimmer gekommen ist!“
„Mutter“, warf ich da ein, „frag ihn doch selbst! Du vermutest doch, dass ihm jemand irgendwas auf den Kopf geschlagen hat.“
Die Geistheilerin aber meinte: „So wie es aussieht, hat er sich das selbst angetan.“
„Was weiß ich“, sagte Mutter und weinte. Sie stieg die Treppe hinunter, kam wieder herauf, öffnete ein Fenster und schloss es wieder. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Wir legten Aidin auf mein Bett, er blieb aber nicht liegen. Da brachten wir ihn runter in seine eigene Höhle. Doch auch dort stand er gleich wieder auf und redete dummes Zeug.
„Hol einen anderen Arzt!“, befahl mir die Mutter.
„Seit wann ist er denn so?“, fragte Doktor Shushanik.
„Schon seit einigen Tagen benimmt er sich nicht mehr normal, aber seit heute ist er völlig durcheinander“, erklärte ich.
„Wo wart ihr nur? Was habt ihr gegessen?“, fragte Mutter wieder.
„Wir waren in Villadarreh, haben Kebab gegessen und sind wieder zurückgekommen“, antwortete ich.
Doch der Arzt meinte: „Das kann keine Vergiftung sein. Das ist ein Schock!“ Und er nahm Aidin Blut für eine Untersuchung ab.
Aidin konnte nicht mehr richtig sprechen. Seine Lippen bewegten sich schnell, er stammelte uns Unverständliches, ging ruhelos hin und her. Doktor Shushanik brachte ihn mit einer starken Spritze zur Ruhe. Und ging. Mutter wusch Aidin die Füße und weinte. Sie glaubte wohl, er habe Fieber. Ich stand draußen vor der Tür auf der Treppe. Mutter warf mir einen hasserfüllten Blick zu, unter dem ich fast zerging.
„Hast du endlich dein Ziel erreicht?“, sagte sie, legte den Kopf auf den Rand von Aidins Bett und weinte bitterlich.
Ach, wäre sie doch noch am Leben und sähe, was ich erdulden muss! Wenn sie sehen könnte, dass mich dieser Mensch so weit gebracht hat, dass ich ihn an den Gitterstäben der Veranda oben anketten musste, würde sie auch um mich weinen.
I
An dem Tag, an dem der Vater seinem Kompagnon dessen Anteil am Kontor abgekauft hatte, wusste er weder aus noch ein vor Freude. Seinem ältesten Sohn Yussof brachte er einen Füllfederhalter mit, der kleckste; schließlich waren Yussofs Finger ganz blau, und die Tinte ergoss sich über den Teppich, so dass ihn die Mutter wohl oder übel waschen musste.
„So ein dummes Kind!“, rief der Vater.
Yussof war ein argloses, leichtgläubiges Kind. Es war kein Kunststück, ihn hereinzulegen; eine kleine Schwindelei, und schon ließ er sich sogar im Becken den Kopf unter Wasser drücken. Er war überempfindlich, hatte aber weder die Kraft, sich zur Wehr zu setzen, noch die, Schwierigkeiten zu ertragen. Stets hatte er einen Winkel, um sich dort auszuweinen, und er konnte sich stundenlang mit irgendetwas beschäftigen, still und anspruchslos, genau wie Zuckerkranke. Doch andererseits musste er nicht einmal jeden Tag Wasser lassen und war nie wirklich krank. Er wirkte immer blass, niedergeschlagen und traurig. Sein Blick war unstet. Und wenn man ihn rief, drehte er sich zuerst um, schaute einen Moment ganz erschrocken und fragte dann schließlich: „Ja?“
„Ja, zum Teufel!“, sagte Vater, „warum nur hast du dir Tinte an die Nase geschmiert?“
„Ach so?“
Für Aidin hatte der Vater ein Vergrößerungsglas deutschen Fabrikats gekauft, sodass er sich damit beschäftigen konnte und nicht mehr anderer Leute Brillengläser zu klauen brauchte.
Um was für Brillengläser es sich da gehandelt hatte? Nun, im Monat zuvor war der Großvater mit ein paar Onkeln und Tanten aus Urmieh* nach Ardebil gekommen, um seine Söhne Djaber und Ssaber zu besuchen. Ssaber hatte es bei der Stadtverwaltung zu der Registratur gebracht, und der Vater hatte dank der ihm eigenen Strebsamkeit ein Geschäft auf dem Basar der Trockenfruchthändler aufgebaut; dafür hatte er dort in Urmieh seinen Anteil an einem Weingarten verkauft und hier in Ardebil Tag und Nacht geschuftet.
Als sich Großvaters Brillenglas in Aidins Schultasche fand, war es schon zu spät, denn der Großvater war inzwischen mit einer Brille mit nur einem Glas halbblind nach Urmieh zurückgekehrt. Und das war seine letzte Reise nach Ardebil gewesen. „Er ist nicht frohen Herzens von hier abgereist“, sagte der Vater wiederholt.
Der Großvater war ein sonderbarer Kauz, und man erzählte sich die erstaunlichsten Geschichten von ihm. Der Vater war fest davon überzeugt, dass er übertrieben starrköpfig war. Der Großvater hatte nämlich vor vierzig Jahren zur Zeit der Kadscharen an den Staat Steine verkauft, aber nie eine Bezahlung dafür bekommen. Der damalige König war verstorben und ein anderer ihm gefolgt. Wieder war der Großvater vorstellig geworden, aber man hatte ihm nur gesagt, die Zeiten hätten sich geändert. Von da an hatte der Großvater neununddreißig Jahre lang überallhin seine Beschwerdebriefe geschickt; er hatte ein paar Reisen nach Teheran, ein paar nach Tabriz gemacht, und immer erfolglos. Zudem alles wegen einer lächerlichen Summe: Wegen dreiunddreißig Tuman und zwei Rial war er von einem Amt zum anderen gelaufen, hatte eine Bittschrift nach der anderen verfasst, eine Beschwerde nach der anderen – und stets vergeblich. Zur Zeit von Reza Schah hatte er eine ausführliche Eingabe gemacht, man möge ihm beistehen, doch man hatte seinen Brief nur zerrissen – und er hatte weitergeschrieben. Sogar während der Wirren des Weltkriegs hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, doch noch etwas zu erreichen, und hatte weitere Schritte unternommen, hatte Briefe geschrieben, hatte sich beschwert, sich an diesen und jenen gewandt.
Bei seiner letzten Reise nach Ardebil trug er alle Unterlagen in einer braunen Aktentasche bei sich und redete ununterbrochen von diesen dreiunddreißig Tuman und zwei Rial. Der Vater wollte ihm schließlich die in Frage stehende Summe geben, um die Sache endlich aus der Welt zu schaffen, aber der Großvater sagte nur, dass er sich bis zu diesem Tage niemals habe bestechen lassen und dass er ja nur sein Recht verlange. Er blieb ein paar Tage bei Djaber zu Gast und kehrte dann nach Urmieh zurück.
Als er zwei Jahre später auf dem Totenbett lag und man ihm in Richtung Mekka gesegnetes Wasser zu trinken gab, sagte er zu seinen Kindern: „Lasst nie zu, dass man euer Recht mit Füßen tritt. Verstanden? Das ist mein einziges Vermächtnis an euch!“
„Bestimmt hat er noch beim letzten Atemzug an die Brille gedacht“, meinte der Vater. Und unter Tränen fuhr er fort: „Nein, er ist nicht frohen Herzens von hier abgereist.“
Als Aidin damals aus der Schule gekommen war, schimpfte der Vater: „Hundesohn, was wolltest du mit dem Brillenglas meines Vaters?“ Aidin ahnte noch nicht, dass das Brillenglas entdeckt worden war, und schwor deshalb, von nichts zu wissen. „Keine Diskussion!“, sagte der Vater da und schleppte ihn auf den Hof hinaus, band ihn mit einem Strick an der Kiefer fest und drosch mit seinem Gürtel so auf das Hinterteil des Jungen ein, dass er selbst ganz außer Atem geriet. Doch auch das nützte nichts, denn Aidin leugnete hartnäckig weiter und gab nicht klein bei. Der Vater wurde immer wütender und fuhr fort, auf ihn einzuschlagen. Yussof war damals neun Jahre alt und heulte und schluchzte oben hinter dem Geländer der Veranda.
„Warum heulst du denn, du Hundesohn?“, fragte ihn der Vater. Bis die Mutter, die ziemlich kurzatmig war, zu ihrem Augapfel gelaufen kam, hatte ihn der Vater grün und blau geschlagen. Sie stellte sich mit gerunzelter Stirn direkt vor ihn hin, riss ihm den Gürtel aus der Hand und schrie: „Was fällt dir eigentlich ein, mein Kind so zu schlagen?“
„Das ist auch mein Kind!“, entgegnete der Vater.
Die Mutter sagte darauf nichts mehr, band Aidin von dem Baum los und führte ihn weg. Tags darauf konnte Aidin nicht zur Schule gehen, so sehr schmerzten ihn Rücken und Beine. Er blieb zu Hause und musste von der Mutter umsorgt werden.
An dem Tag, an dem der Vater seinem Kompagnon dessen Anteil am Kontor abgekauft hatte, wusste er weder aus noch ein vor Freude. Für Urhan, der fünf Jahre alt war, hatte er einen eisernen Kippwagen aus zweiter Hand gekauft, der zwölf gummibereifte Räder hatte und tack-tack-tack machte, wenn Urhan ihn an einer Schnur im Hof hinter sich herzog. Aidin lag ständig auf der Lauer, dass Urhan einschlief oder er in einem unbedachten Moment das Auto untersuchen könnte, um herauszufinden, woher dieses Geräusch kam. Er zerlegte den Wagen in seine Einzelteile und setzte ihn wieder zusammen, doch er war immer noch nicht dahintergekommen.
Ein paar Tage später bastelte er aus Holz, Fadenrollen, Draht und mit ein wenig von der Tinte für Yussofs Füller ein Auto; allerdings gab es keinen Laut von sich, und die Räder waren nicht beweglich. Wieder machte er sich über Urhans Auto her, nahm es auseinander, setzte es wieder zusammen, und wieder war er nicht dahintergekommen, wie es funktionierte. Nach fünf Jahren war sein Entwurf vollendet: Aus Eisenstückchen, Holz, Blechdosen und anderen Überbleibseln, die er von der Ventilatorenfabrik Lord angeschleppt hatte, fabrizierte er ein Auto, das aufs Haar Urhans Auto glich, das sowohl Krach machte als auch sich fortbewegte und dessen vordere Scheinwerfer sich einschalten ließen – allerdings um den Preis von Urhans Auto, das dabei in die Brüche gegangen war.
„Du Esel, hab ich dir denn nicht ein Vergrößerungsglas gekauft?“, fragte der Vater, „was geht dich das Auto von Urhan an?“
Der Vater wusste wirklich nicht, wie er seine Freude zeigen sollte. Er lief ziellos herum, vom Erdgeschoss hinauf in den ersten Stock, ging den Korridor entlang, trat in den Salon, dann in das gegenüberliegende Zimmer. Unwillkürlich öffnete er das Fenster und wechselte von da oben ein paar Grußworte mit den Nachbarn. Er kehrte ins untere Zimmer zurück und sagte zur Mutter: „Wenn meine Kinder tüchtig sind, können sie das Eckgeschäft in der Karawanserei noch dazukaufen, und wenn sie dann eines daraus machen ...“ Doch keiner hörte ihm zu.
Für Aida hatte er eine amerikanische Gummipuppe gekauft, die schrie, wenn man sie drückte. Aida hielt die Puppe immerfort in den Armen und streichelte sie so sanft, dass sie keinen Laut von sich gab. Es war eine dicke schwarze Frau; wenn man sie kräftig drückte, verzog sie das Gesicht und schrie. Ein Schrei wie das Geplärre keifender Weiber. Nachdem Aidin vom Vater tüchtig Prügel bekommen hatte, nahm er zu seiner Unterhaltung Aidas Puppe mit in sein Zimmer hinauf. Er zog ihr die Pfeife mit den Zähnen heraus, und siehe da, dieser kleine Knopf erwies sich als Urheber dieser Schreie. Er steckte ihn sich zwischen die Zähne und blies hinein. Das Vergnügen daran versetzte ihn in wahre Verzückung, und er blies noch einmal hinein. Aida hörte plötzlich ihre Puppe auf dem Hof schreien, immer wieder, und als sie zum Fenster hinaussah, bemerkte sie Aidin, der diese Laute hervorbrachte. Sie lief auf den Hof hinaus und beobachtete ihn ganz genau, konnte jedoch nicht herausfinden, was da vor sich ging. Sie schaute ihn sich ganz aus der Nähe an, doch kam sie nicht dahinter.
„Drück mich!“, forderte Aidin sie auf.
Aida drückte ihn, und Aidin schrie. Genau wie die Puppe. Jetzt lief Aida zu ihrer Puppe, aber sie konnte klagen, so viel sie wollte, keiner hörte auf sie. So entschloss sie sich zur Selbsthilfe. Als Aidin mit Yussofs Füller beschäftigt war, biss sie ihn so ins Ohrläppchen, dass er laut aufschrie: „Das brennt wie Feuer!“
„Gib mir die Pfeife meiner Puppe zurück!“, sagte da Aida nur.
An diesem Abend entging Aidin einer neuerlichen Tracht Prügel, denn wegen Aida regte sich der Vater nicht auf. Er war davon überzeugt, dass ein Mädchen die Führung eines Haushalts erlernen und sich später, wenn es einmal selber Kinder hatte, mit lebendigen Püppchen abgeben sollte.
Tags darauf – es war ein Freitag – vertrieb sich Aidin die Zeit mit dem Vergrößerungsglas, mit dem er Sonnenstrahlen einfing. Er hatte die Nachbarskinder um sich versammelt und brannte ohne ein Streichholz ihre Schulhefte und Bücher an. Als sie schließlich erfassten, was er damit anstellte, war es schon zu spät, und die Flammen züngelten in der windigen Herbstluft.
Aidin war kein artiges Kind. Ein Teufel war in ihn gefahren, flüsterte ihm ins Ohr, stachelte ihn auf und machte ihn zu einem Menschen, der andere ins Unglück stürzte. Er kannte keine Ruhe, Tag und Nacht war er hinter irgendetwas her und war – genau wie seine Zwillingsschwester Aida – ein Hitzkopf.
Abends war er der letzte, morgens der erste. Die Mutter zog ihn mit Zärtlichkeit und Liebe groß, mit Spielzeug und Geld, mit Schleckereien, mit allem, was sie eben gerade zur Hand hatte. Der Vater wusste nicht, was er mit diesem Bengel anfangen sollte. Seiner Aufsässigkeit gegenüber war er machtlos. Ohne etwas zu lernen, brachte er stets die besten Noten nach Haus – zur großen Verwunderung des Vaters. Und der wusste sich nicht anders zu helfen, als Aidin zu schlagen. Doch gerade deshalb konnte er ihn nicht zähmen. Und schließlich musste er einsehen, dass er mit diesem siebenjährigen Kind nicht fertig wurde. Der Vater wollte Ruhe, er kam müde vom Geschäft nach Haus und sehnte sich nach einem stillen, lieben Kind, das ihm die Zeit vertreiben sollte.
Von allen Kindern war ihm Urhan das liebste. Er plapperte so süß, war ruhig wie Yussof und hing unverhältnismäßig stark an Vater und Mutter, und eben das war es, was dem Vater gefiel. Sie steckten ihm Leckerbissen zu, abends schlief er auf den Knien des Vaters ein und im Gegensatz zu Aidin und Aida, diesen aufrührerischen Zwillingen, war er stets gehorsam, und sein ganzes Trachten war darauf gerichtet, auf Vaters Knien sitzend geschälte Pistazien zu essen. Der Vater kaute sie und steckte sie ihm dann in den Mund. Das war beiden zur Gewohnheit geworden.
Auch Yussof hätte gern wie in früheren Jahren geschälte Pistazien gegessen. Aber er hatte sich damit abgefunden, im kleinen Urhan an die Vergangenheit erinnert zu werden. Ohne Umstände zu machen, ohne Gemecker zog er sich in sich selbst zurück, beschäftigte sich mit irgendetwas und schlief schließlich darüber ein. Manchmal verkroch er sich in eine Ecke, beobachtete die Sprechweise und die Bewegungen der Erwachsenen und ließ die Teufeleien der Kleinen einfach über sich ergehen. Er begehrte nicht einmal dann auf, wenn sie ihm ein Glas Wasser in den Kragen schütteten, nahm das einfach als unvermeidlich hin. Denn trotz allem waren die Zwillinge sein liebster Zeitvertreib. Er liebte sie, er gab ihnen von seinem Essen ab und versuchte, sich bei ihnen einzuschmeicheln und auch ihre Liebe zu gewinnen – doch vergeblich. Die beiden fassten sich an den Händen, liefen auf den Hof und bauten dort in einer Ecke aus Kiefernzapfen ein altes Märchenschloss.
„Yussof und Urhan sind mir nachgeschlagen“, pflegte der Vater zu sagen.
Viele Jahre später, in einer kalten Winternacht, als der Vater bis zum Kinn unter die Decke des Korssi* gekrochen war, äußerte er sich ängstlich besorgt über Aidin: „Ich weiß nicht, wem der nachgeraten ist. So sehr ich es mir überlege, wir hatten keinen in der Familie wie ihn. Weder dem Aussehen noch dem Benehmen nach.“
„Du hast ihn gezeugt“, sagte darauf die Mutter, „und ich habe ihn geboren.“
„Hätt ich ihn nur nicht gezeugt und hättest du ihn nicht geboren!“
Ganz Unschuldslamm kniff der Vater die Augen zusammen und sagte betrübt: „Als ob er nicht unser Kind wäre! Er verlangt kein Geld, stellt keine Ansprüche – und kümmert sich um keinen.“
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