Kitabı oku: «Der Pascha aus Urnäsch», sayfa 5
«Ihr habt Recht, Herr Dörig. Ich bin ein bisschen schüchtern.»
«Das ist nicht weiter schlimm, du bist ja noch jung. Du hast noch viel Zeit, um deine Scheu loszuwerden. Was führt dich her? Ich hoffe, dein Kommen ist auch zu meinem Nutzen. Im Augenblick werde ich nur froh, wenn bei mir die Kasse klingelt. Denn ich hole die Gulden nur aus der Kasse, um sie zu vermehren, nicht um sie zu verschleudern. Die Familie Kurt hat mit Zins und Zinseszins zweihundertfünfzig Gulden Schulden bei mir. Ich könnte mir vorstellen, dass du vielleicht ein bisschen Geld mitgebracht hast, oder täusche ich mich etwa?»
Ueli wusste nicht, was er sagen sollte, und wurde rot im Gesicht. In einem plötzlichen Impuls leerte er den Inhalt seines Rucksacks auf den Ladentisch. Die Kuhfigürchen fielen heraus. «Das habe ich Euch mitgebracht. Ich schenke sie Euch.»
Dörig nahm eines der Figürchen in die Hand, strich mit den Fingerspitzen darüber und sah sie aufmerksam an: «Die sind sehr schön. Ich danke dir sehr. Ich freue mich, dass du von Urnäsch extra hierhergekommen bist, um sie mir zu bringen. Du hast die Figuren sehr schön bemalt. Hast du auch die kleinen Schellen selbst gemacht, die ihnen um den Hals hängen?»
«Ja, die Schellen habe ich aus Blech geschnitten und die Halsbänder aus Lederresten.»
«Man kann dazu nichts anderes sagen als sehr schön. Aber wie ich dir vorhin schon sagte, der Schatz muss erst entdeckt werden … Du hast die Gespräche der Bauern mit angehört. Jede Arbeit braucht auch etwas Kreativität. Wenn ich mit meiner Molke Geld verdienen kann, kannst du das auch mit deinen Kuhfiguren. Aber du musst lernen, deine Fähigkeiten zu vermarkten. Heutzutage reicht es nicht, einfach zu produzieren, du musst den besten Weg der Vermarktung finden. Die Leute hier verkaufen den Gästen alles. Das musst du auch versuchen. Warum probierst du nicht, den Feriengästen deine Skulptürchen zu verkaufen? Damit könntest du Geld verdienen. Hör zu, ich weiss, dass du nicht hergekommen bist, um mir diese Figürchen zu bringen. Ich kann dir nur zehn Gulden geben. Ihr habt bei mir keinen Kredit mehr. Damit sind die Schulden der Familie Kurt auf zweihundertsechzig Gulden angewachsen. Von den zehn Gulden, die ich dir gebe, nehme ich keinen Zins. Aber sag deinem Vater, dass ihr bis August mindestens die Hälfte eurer Schulden bezahlen müsst. Normalerweise leihe ich niemandem ausserhalb Appenzells Geld. Der einzige Grund, warum ich euch Geld gegeben habe, war dein Grossvater, aber der ist tot. Eure Zahlungsmoral wird zeigen, wie ich in Zukunft mit euch umgehe.»
Herr Dörig nahm ein braunes Heft aus dem Schrank, liess Ueli unterschreiben und zählte die zehn Gulden auf den Tisch. Dann stieg er stampfend die Treppe nach oben.
Ueli Kurt verliess den Laden. Er war gerade ein paar Schritte weit gekommen, da hörte er hinter sich Hammerschläge. Herr Dörig nagelte unter sein Werbeschild für den Appenzeller Käse ein weiteres Schild mit der Aufschrift: «Export nach Deutschland und Frankreich».
Ueli ging sofort zur nächsten Bäckerei, um einen riesengrossen Laib Brot zu kaufen. Dann kaufte er einen Schleckstängel für Maria und machte sich auf den Heimweg. Schon auf dem Weg ass er gierig ein Stück des Brots.
Die langen Wintermonate brachte Ueli überwiegend damit zu, Holzlöffel, Teller, Schemel und Wiegen anzufertigen. Mit den zehn Gulden von Herrn Dörig und kleinen Schreinerarbeiten im Dorf kam die Familie mit Müh und Not über den Winter.
An einem sonnigen Samstag in der ersten Maiwoche machten er und Rösli sich mit Maria auf dem Rücken auf den Weg nach Appenzell, denn sie wussten, dass an diesem Tag Markt war. Ueli hatte Rösli von der Kaufwut der Feriengäste berichtet. Rösli schleppte alles mit, was die weiblichen Familienmitglieder den Winter über an Handarbeiten angefertigt hatten: gestrickte Wollstrümpfe und gehäkelte Spitzen, die vielfältigsten Trockenblumen und Kräuter. Ueli hatte sich mit Kuhfigürchen bepackt, mit hölzernen Küchengeräten und allem, was er tragen konnte.
Um auf dem Markt einen guten Platz zu ergattern, waren sie im Morgengrauen zu Hause aufgebrochen. Sie breiteten ihre Ware auf dem Boden aus. Aber später Angekommene scheuchten sie fort: Das sei ihr Stammplatz. Ueli und Rösli mussten sechs Mal umziehen. Auf dem Markt duldete man Leute aus anderen Ortschaften nur ungern. «Da kommt ihr von Urnäsch bis hierher, um den Platz auf unserem Markt zu belegen! Das hier ist nicht euer Land. Sammelt euren Mist sofort ein und verschwindet, sonst werfe ich euch mit eurem Plunder in den Bach!» Sogar solche Drohungen bekamen sie zu hören.
Dass Ueli daraufhin still ihre Waren einpackte, versetzte Rösli in Rage: «Was bist du nur für ein Kerl! Warum zeigst du dieser Drecksau nicht die Zähne? Wenn du so lammfromm bist, wenden sich die hier nur noch mehr gegen uns. Das ist auch unser Land, wir haben das Recht, hier unsere Ware anzubieten.»
Ueli sah seine Frau lange an. «Soll ich mich etwa um einen Platz auf dem Markt prügeln? Hast du vergessen, dass sie erst letzte Woche jemanden wegen eines Huhns umgebracht haben?»
Sie legten noch einmal ihre Ware aus. Nach jedem Umzug robbte Maria auf den Knien, um die Kuhfigürchen wieder aufzustellen.
Bis zum Mittag kam fast niemand zu ihnen. Nur ein schlauer alter Bauer feilschte lange, um die Wiege und die Schemel für einen Spottpreis zu erstehen. Wäre es nach Ueli gegangen, hätte er schon längst verkauft, doch Rösli versuchte, dem alten Bauern schreiend klarzumachen, dass sie für den von ihm gebotenen Preis nicht verkauften. Ueli setzte sich hin, nahm Maria auf den Schoss und beobachtete seine Frau. Er hatte längst gemerkt, dass das Verkaufen nichts für ihn war.
Nachmittags betrachtete ein gut gekleideter Herr ihre Auslage eingehend. Die Holzfigürchen nahm er einzeln in die Hand. Er setzte sich auf den Holzschemel und betastete die Schnitzereien darauf. Dann fragte er: «Das ist sehr schön gearbeitet. Hast du das gemacht?»
Ueli nickte mit einem müden Lächeln.
«Gut, alles das ist schön, aber schwer zu verkaufen. Hier kauft keiner so etwas. Höchstens die Feriengäste. Habt ihr Fremdsprachenkenntnisse?»
Er blickte Rösli an, als er das sagte.
Rösli war verwirrt. Mit einer flinken Handbewegung fuhr sie durch die Socken und Spitzen: «Das nicht, aber ich habe Strümpfe und Spitzen.»
Der Mann lachte lange über Röslis Naivität. Dann wandte er sich an Ueli: «Sprecht ihr Englisch oder Französisch?»
«Nein.»
«Dann ist es sehr schwer, den Fremden etwas zu verkaufen. Ihr könnt ihnen ja noch nicht einmal klarmachen, wie viel ihr dafür haben wollt. Ich will euch einen Gefallen tun. Ihr habt ein kleines Kind, das ist müde. Plagt euch hier nicht länger. Überlasst das ganze Zeug mir, ich gebe euch fünf Gulden dafür. Einverstanden? Ich gebe euch das Geld bar auf die Hand. Und seid euch darüber im Klaren, dass ihr hier von niemandem einen so guten Preis bekommen werdet.»
Rösli mischte sich sofort ein: «Das ist zu wenig, mein Herr. Die Waren hier sind mindestens fünfzig Gulden wert. Allein für diese Handarbeiten haben wir Frauen zu fünft den ganzen Winter gearbeitet.»
«Zu wenig? Ja, hast du denn vor gar nichts Respekt? Hast du überhaupt schon einmal fünf Gulden auf einem Haufen beisammen gesehen? Junger Herr, warum lässt du mich mit einer Frau verhandeln? Sag etwas dazu!»
«Meine Frau hat Recht, ihr müsst mehr bieten.»
«Na gut, gut, ich gebe euch zehn.» Er griff sofort in die Tasche und drückte Ueli zehn Gulden in die Hand. Starr vor Staunen sah Ueli seine Frau an. Rösli nickte kaum merklich mit dem Kopf. Der gut gekleidete Herr packte in Windeseile alles in einen Sack und verschwand.
Ueli band sich das Kind auf den Rücken, dann gingen sie zum Einkaufen ins Dorf. Zu Hause gab es weder Mehl noch Salz mehr.
Unterwegs meinte Rösli: «Wir haben das alles sehr billig verkauft, aber wenigstens brauchen wir es nicht wieder zurückzuschleppen. Verkaufen ist keine schlechte Sache. Das können wir öfter machen.»
«Für mich ist das nichts», murmelte Ueli.
«Schau mal, wenn wir schon Geld haben – wollen wir ein bisschen Fleisch kaufen? Ich habe lange keins mehr gegessen. Ich koche euch einen schönen, fetten Schmorbraten. Das ausgelassene Fett tunken wir mit Brot auf. Das wird Maria schmecken.»
«Ja, das wäre gut. Mir steigt der Duft jetzt schon in die Nase.» Ueli war einverstanden.
Die Taschen mit Mehl, Zucker, Salz, Fleisch und einem riesigen Laib Brot gefüllt, machten sie sich auf den Rückweg. Das Klimpern der Münzen in ihrem Beutel und der Gedanke an den fetten Braten, der am Abend in die Röhre geschoben würde, machte sie richtig glücklich. Ueli fing an, sein Lieblingslied zu summen, und Rösli stimmte ein.
«Vor em Hüüsli of de Stege
singid ali, grooss ond chlii,
ond de Vollmoo geed de Sege
met sim milde Silberschii.»
«Dieses Lied singst du mir vor? Bin ich etwa das Mädchen?»
Ueli hörte ihre Frage gar nicht oder wollte sie nicht hören. Lauthals sang er weiter:
«Monter chlingled ääs am ääne,
s Singe macht äm nomme müed.
S ischt so fiirlig, chöntntischt määne,
s chäm en Bsuech os jedem Lied.»
Rösli zwickte ihn am Arm und wiederholte ihre Frage.
«Natürlich bist du das! Wer denn sonst?»
«Willst du damit etwa sagen, dass ich nicht einmal so viel wert bin wie eine Geiss?» Rösli hob einen Stock vom Boden auf und stiess Ueli damit am Bein: «Dann gibt es für dich heute Abend nichts vom Braten!»
Maria brüllte hinter Uelis Rücken hervor: «Nein, Mama, nein, Vater muss auch Fleisch essen!»
Darüber mussten sie beide lachen, und Maria lachte mit ihnen.
Abschied von Urnäsch
Nach dem Tod des Grossvaters gingen Ueli Kurts Aufträge immer mehr zurück. In Geldangelegenheiten war er aus demselben Holz geschnitzt wie der Grossvater. Er brachte es nicht über sich, den Leuten zu sagen: «Soundsoviel bis dannunddann.» Die Auseinandersetzungen mit dem Vater spitzten sich zu. «Als gestandener Mann und Kindsvater vergeudest du deine Zeit mit Kuhfigürchen! Glaub bloss nicht, dass ich es nicht merke, wenn deine Mutter euch aus meinem Haushalt heimlich Öl und Salz zusteckt!»
Ueli war seelisch auf einem Tiefpunkt. Alpträume quälten ihn Nacht für Nacht. Niemandem konnte er sein Herz ausschütten. Nicht nur er, auch Rösli litt unter der unglücklichen Ehe und blieb von Tag zu Tag länger bei Pfarrer Johannes.
Doch in der ersten Juniwoche geschah etwas, das Ueli in regelrechte Euphorie versetzte. Der Lastenträger Peter Hug, sein Nachbar, überbrachte ihm Grüsse von Herrn Dörig. «Ich war heute in Appenzell. Du sollst zu ihm kommen, er hat gute Neuigkeiten für dich.»
Gut und schön, aber was konnte das sein? Die Schulden würde Herr Dörig kaum tilgen, ob er wohl in seinem Laden Arbeit für Ueli hätte? Gleich am nächsten Tag machte sich Ueli auf nach Appenzell.
Am Käseladen von Herrn Dörig hing neben den Schildern nun auch noch das Bild eines riesigen Käselaibs. Wer auch immer es gemacht hatte, es war sehr gut gelungen.
Wie immer war das Geschäft voller Bauern, die immerhin lachen konnten, jederzeit für leeres Geschwätz zu haben waren und immer eine witzige Geschichte zu erzählen wussten. Im Gegensatz zum letzten Mal grüsste Ueli gleich beim Eintreten, so laut er konnte.
Herr Dörig erzählte gerade von einem Jagdabenteuer auf der Ebenalp. «Und als ich hingegangen bin, um mir den erlegten Hirsch zu holen, was sehe ich da? Ein Hirsch lag am Boden. Aber im Schnee führten blutrote Spuren zum Wald. Denen bin ich natürlich nachgegangen, und was war los? Im Schnee war noch ein Hirsch tot zusammengebrochen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich zwei Hirsche auf einen Streich erlegt hatte!»
Ein Bauer fiel sofort ein: «Da hast du aber Schwein gehabt! Ich wette, wenn du mit dem Fudi ins Wasser fällst, erschlägst du gleich noch einen Fisch dazu.»
Im Laden brach schallendes Gelächter aus.
«Was hat das mit Glück zu tun, du Ochsenschädel? Ich bin halt ein guter Jäger, aber um das zu begreifen, braucht’s etwas Hirn. Und das ist ja, was euch allen hier fehlt. Ueli Kurt, du bist ausgenommen, du brauchst dich nicht angesprochen zu fühlen. Ich rede von diesen Hohlköpfen hier.»
Herr Dörig bedeutete Ueli mit einer raschen Bewegung, er solle mitkommen, dann stieg er mit energischem Schritt die Treppe ins Obergeschoss hinauf.
Oben angekommen, meinte Herr Dörig: «Was ich dir zu sagen habe, braucht nicht jeder zu hören. Hier sind alle auf der Jagd nach Neuigkeiten, du erzählst einem etwas, und fünf Minuten später weiss man es am anderen Ende Appenzells, allerdings völlig verdreht. Also gut, zum Thema: Ich suche fünfzehn gute Handwerker für eine Arbeit in Frankreich. Monsieur Favre, ein Franzose, der bei mir Käse kauft, braucht Handwerker für Restaurationsarbeiten an einem Schloss. Das ist keine Arbeit für drei, vier Tage, sondern für Monate, wenn nicht sogar Jahre. Die Leute dort haben Arbeit im Überfluss und das nötige Geld dazu. Lass dir die Gelegenheit nicht entgehen! Sprich mit deiner Familie darüber, aber sonst mit niemandem! Und dass auch deine Frau es keinem weitererzählt! Komm am Sonntag um elf ins Gasthaus Öchsli. Ich habe dreissig Leute eingeladen, davon können die Franzosen fürs Erste fünfzehn gebrauchen. Am Sonntag wird alles besprochen. Die Angelegenheit ist eilig, denn dieser Franzose will, dass die Handwerker sich am zehnten Juli auf den Weg machen.»
«Ich bin dabei! Niemand in meiner Familie wird etwas dagegen haben. Das ist genau das Richtige für mich. Seit ich denken kann, möchte ich ferne Länder sehen.»
«Freut mich. Du wirst sehen, das wird sowohl zu deinem als auch zu meinem Nutzen sein.»
Als Ueli Kurt die Käserei verliess, war er ausser sich vor Freude. Sein Leben bestand nur aus Elend und Trübsal – die glücklose Ehe mit Rösli, die Arbeitslosigkeit, die Armut, die Einsamkeit, das Desinteresse an seiner Handwerkskunst, das alles waren Stachel in seinem Fleisch. Könnte er doch nach Frankreich gehen, dann hätte er Abstand von diesen schmerzenden Stacheln! Er hätte Geld in der Tasche, würde seine Schulden bezahlen, und Rösli bräuchte kein Mehl und Salz mehr aus ihrem Elternhaus zu stibitzen. Seiner Mutter würde er bunte Tücher und Porzellangeschirr kaufen können und allen Kindern der Familie Kurt Süssigkeiten!
Ueli war sehr gespannt auf das Land jenseits der Berge: Wie mochte man dort leben, wie sahen die Menschen, die Tiere, die Häuser aus? Julia hatte von den Gaslaternen, zahllosen Pferdekutschen und Geschäften in Zürich erzählt. Wie hatte man sich das vorzustellen? Ueli und seine Familie hatten nicht einmal Geld für das Öl der Öllampen und benutzen trotz des schwarzen Rauchs das Harz der Tannen, um für Licht zu sorgen. Wer weiss, was es in diesen fernen Städten noch zu entdecken gab? Sie mit eigenen Augen zu sehen, hineinzugehen, alles zu betasten und zu verstehen zu suchen – die Vorstellung war sehr aufregend! Wie und mit welchem Werkzeug bearbeitete man andernorts das Holz? Waren die Fensterrahmen klein, wie er es vom Grossvater gelernt hatte, oder etwa gross? Lagen die Ortschaften am Fuss von Gebirgen? Hatten andernorts auch nur die Reichen eine Pferdekutsche wie in Urnäsch? Konnten die Frauen dort auch nicht lesen und schreiben, befassten sie sich auch mit nichts anderem als Hausarbeit, den Kindern, dem Gemüsegarten, dem Vieh und Handarbeiten? War das Wort des Vaters auch dort Gesetz? Schlug der Mann auch dort Frau und Kinder nach Belieben?
Am zweiten Junisonntag 1846 ging Ueli Kurt zeitig früh nach Appenzell. Den wahren Grund hatte er niemandem verraten. Dass Herr Dörig dreissig Handwerker eingeladen hatte, aber nur fünfzehn von ihnen nach Frankreich schicken würde, liess ihm keine Ruhe. «Und wenn ich nicht unter den fünfzehn bin?» Der Gedanke flösste ihm Angst ein. Besser nicht zu früh davon erzählen … «Wenn der Grossvater noch am Leben wäre, dem hätte ich es natürlich erzählt. Er hätte mir den Rücken gestärkt.»
Als er zum Gasthaus Öchsli kam, herrschte dort rege Betriebsamkeit.
Der Wirt hielt ihn an der Tür zurück: «Junger Mann, wir haben heute geschlossen.»
«Geschlossen? Soll das ein Scherz sein? Jede Menge Leute gehen doch ins Gasthaus.»
«Ja, aber die sind eingeladen. Wir haben eine geschlossene Gesellschaft.»
«Ich bin auch eingeladen! Herr Dörig hat mich eingeladen. Fragt ihn doch!»
«Mein Gott! Jeder kommt hier an und behauptet: Herr Dörig hat mich eingeladen. Mir hat er gesagt, er hätte dreissig Personen eingeladen. Drinnen sind aber bestimmt schon sechzig! Wie soll ich das Herrn Dörig erklären?»
«Herr Wirt, ich lüge nicht! Aber wenn ihr drauf besteht, warte ich eben vor der Tür, bis Herr Dörig kommt.»
«Das ist mir lieber. Dörig gerät leicht in Rage, und ich will keine Kugel in den Bauch bekommen», murmelte er und schlug Ueli die Tür vor der Nase zu. Doch dann öffnete er sie wieder, um zu fragen: «Wer bist du überhaupt, und woher kommst du?»
«Ich heisse Ueli Kurt und bin der Enkel des Schreiners Kurt aus Urnäsch.»
«Im Ernst? Bist du der Enkel des guten Kurt aus Urnäsch? Deinen Grossvater habe ich gut gekannt, ein guter Mensch. Er lebt leider nicht mehr. Die Guten gehen zu früh. Bist du denn derjenige, der im Kloster den Beichtstuhl gemacht hat?»
«Ja, der bin ich.»
«Na, dann komm rein. Wir wollen Herrn Dörig nicht warten lassen.»
In der Gaststube standen die Fenster offen, trotzdem war die Luft vom Tabaksqualm zum Schneiden dick. Am Stammtisch sassen einige Kartenspieler, umringt von einer Menschenmenge, die ihnen zusah. Alle redeten lautstark aufeinander ein.
Wenn die alle hergekommen sind, um in Frankreich Arbeit zu bekommen, habe ich keine Chance, fuhr es Ueli durch den Kopf. Aus seiner Altersgruppe war niemand hier. Er zog sich in eine Ecke zurück und beobachtete die Menschen. Draussen strahlte die Sonne. Aus der Ferne näherte sich majestätisch eine Kutsche.
Jemand rief laut in die Menge: «He, Leute, der Dörig kommt, die alte Sau!»
Als Dörig und zwei seiner Männer das Wirtshaus betraten, verstummte die lärmende Menge augenblicklich.
Mit dem Kolben seines Gewehrs schlug Dörig ein paar Mal gegen die Wand, dann begann er zu sprechen: «Ich sehe, dass nach der Kirche jedermann direkt hierher gelaufen ist. Dabei hatte ich nur vierundzwanzig Personen eingeladen. Dafür werde ich Herrn Fässler zur Rechenschaft ziehen müssen.»
Fässler, der Wirt, wandte sofort ein: «Herr Dörig, alle hier haben behauptet, eingeladen zu sein! Was sollte ich denn tun? Eine schriftliche Einladung hatte keiner dabei.»
«Ja, das ist tatsächlich eine gute Idee. Nächstes Mal lasse ich Einladungskarten vorbereiten. Das ist eben auch für mich der erste Versuch. Also, ich habe nicht die Absicht, es hier zum Streit kommen zu lassen. Meine Gewehr ist geladen, aber ich will es nicht abfeuern. Wenn die Leute, die unaufgefordert hierhergekommen sind, sich ruhig verhalten, können sie bleiben. Aber wenn es Unruhe im Saal gibt, werden meine Männer euch auf direktem Weg aus dem Fenster befördern. Die Personen, deren Namen ich jetzt vorlese, bekommen ein Glas auf meine Kosten. Das sind die geladenen Gäste. Die Aufgerufenen sollen die Hand heben.»
Auf ein Zeichen Dörigs fing sein Gehilfe an, die Liste vorzulesen: «Eins: Jakob Dörig, Dachdeckermeister, Appenzell. Zwei: Albert Fässler, Maurermeister, Appenzell. Drei: Köbi Fuchs, Schreiner, Appenzell. Vier: Werner Nef, Schreiner, Appenzell. Fünf: Willi Alder, Maurermeister, Appenzell. Sechs: Bachmann Franz, Schreiner, Appenzell. Sieben: Peter Bühler, Schmiedemeister, Gais. Acht: Bauer Emil, Schreiner, Herisau. Neun: Buff Emil, Schmied, Herisau. Zehn: Hans Eugster, Maurer, Bühler. Elf: Markus Nef, Dachdecker, Urnäsch. Zwölf: Christian Baum, Schreiner, Herisau. Dreizehn: Jakob Frischknecht, Schreiner, Hundwil. Vierzehn: Ulrich Grubemann, Dachdeckermeister, Gonten. Fünfzehn: Franz Hinterberger, Maurer, Brülisau. Sechzehn: Jakob Hungerbühler, Maurer, Stein. Siebzehn: Johannes Knechtle, Maurer, Schwende. Achtzehn: Ueli Kurt, Schreiner, Urnäsch.»
Uelis Hand schnellte in die Luft. Dörigs Gehilfe legte die Liste auf den Tisch, um Ueli anzusehen: «Der willst du sein? Bist du wirklich dieser Ueli Kurt?»
Ueli zitterte und wusste nicht, was er sagen sollte.
Der Gehilfe drehte sich zu Dörig um: «Das Milchgesicht! Haben Sie diesen Grünschnabel wirklich eingeladen?»
Ärgerlich fauchte Dörig: «Schwatz kein dummes Zeug, sondern tu deine Arbeit, anstatt dich in meine Angelegenheiten zu mischen! Ausgerechnet dich werde ich fragen, wen ich einladen soll!»
Entschuldigend beugte der Gehilfe den Kopf und fuhr fort: «Neunzehn:Jakob Zeller, Maurer, Rüte. Zwanzig: Eugen Steinmüller, Maurer, Degersheim. Einunzwanzig: Emil Ebneter, Schreiner, Teufen. Zweiundzwanzig: Konrad Kürsteiner, Schmied, Gais. Dreiundzwanzig: Johannes Rechsteiner, Maurer, Bühler. Vierundzwanzig: Jakob Sutter.» Beim letzten Namen blickte er Dörig an und flüsterte ihm etwas zu.
Dörig erhob sich. «Meine Herren, Sie werden es gehört haben. Der letztgenannte Kollege ist vergangene Woche verstorben. Oder richtiger gesagt, er wurde ermordet. Der Täter ist noch nicht bekannt. Gott sei seiner Seele gnädig. Ich bitte um eine Schweigeminute.»
Alle erhoben sich, falteten die Hände vor dem Bauch und senkten den Kopf.
Anschliessend trat Dörig nach vorn. Er trug ein weisses Hemd und eine Weste mit zwei kleinen Taschen und vielen Knöpfen. Aus der rechten Westentasche hing die Kette seiner silbernen Taschenuhr. Seine glänzenden Lederstiefel waren frisch gewichst. Wie immer ging er eiligen Schritts auf und ab. «Sehr geehrte Herren, zunächst möchte ich alle begrüssen, die auf meine Einladung den Weg hierher gefunden haben. Ich weiss, dass der Weg für manche von Ihnen weit war. Was ich zu sagen habe, interessiert sicher auch die ungeladenen Gäste. Deshalb habe ich ihnen gestattet, hier zu bleiben. Übrigens habe ich mich anders entschieden: Den geladenen Gästen spendiere ich zwei Gläser, den ungeladenen eines.»
Während er das sagte, blickte er den Wirt an. Herr Fässler strahlte erfreut, wobei er seine Zahnlücken sehen liess, und machte sich hinter dem Tresen daran, die Gläser zu füllen.
«Meine Herren, wir alle wissen, dass unser Land im vergangenen Jahrhundert fünfzehn von hundert Männern im Krieg verloren hat. Und das Bittere daran ist: Es waren gar nicht unsere eigenen Kriege, sondern die Leute haben für fremde Länder gekämpft. Das taten sie nur, um Geld zu verdienen und ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Auch mein Vater gehörte zu den Männern, die so ihr Leben verloren. Warum erzähle ich Ihnen das? Nun, niemand soll sich mehr als Söldner im Ausland verdingen müssen. Als einer, der den Vater im Krieg verlor, spreche ich mich dagegen aus. Ich will nicht, dass andere Kinder dasselbe Schicksal ereilt. Es gibt Leute, die das Gerücht verbreiten, ich würde Söldner für Frankreich werben. Ich habe Ihnen gesagt, was ich vom Söldnertum halte. Ich schicke gute Handwerker nach Frankreich, damit sie dort in ihrem Beruf arbeiten. Wenn ich Söldner werben wollte, hätte ich bestimmt nicht die besten Meister der ganzen Gegend eingeladen. Ich wünschte, die Eidgenossenschaft wäre nicht so übel dran und jeder könnte hier im Wohlstand leben. Ich wünschte, niemand müsste seine Heimat verlassen, um ins Ausland zu gehen. Aber es ist an der Zeit, neue Wege zu beschreiten, um dem Hunger und dem Elend hier zu entkommen. Verehrte Herren, wer von Ihnen besitzt so eine Uhr?»
Voller Stolz zog er seine silberne Taschenuhr hervor, hob sie hoch und verstaute sie dann wieder sorgfältig in seiner Westentasche. «Diese Uhren werden in unserem Land hergestellt. Die Menschen in der Schweiz sind fleissig wie die winzigen Zahnräder in dieser Uhr. Vergangenes Jahr habe ich in Weissbad einen Herrn namens François Constantin kennen gelernt. Er hat mir seine Lebensgeschichte erzählt, nämlich dass er Uhrmachermeister ist und jahrelang in Frankreich gearbeitet hat, um diese Kunst zu erlernen. Jetzt verkauft Herr Constantin sogar Uhren nach Amerika. Wie schafft man das? Indem man seine Einstellung verändert, mehr erreichen will und Risiken eingeht. Nur wer wagt, gewinnt! Wenn wir aber auf der faulen Haut liegen und alles von Gott erwarten, werden wir nie etwas besitzen. Wenn Leute wie Schottensepp, Karl Jakob, Ignaz Johann, Anton Innauen unseren Horizont nicht erweitert hätten, ginge es uns heute noch viel schlechter. Der Punkt, an dem wir heute sind, beweist, wie Recht diese Pioniere hatten.
Als Schottensepp schon vor Jahren Molkenkuren gegen viele Krankheiten, von Schwächezuständen bis hin zur Schwindsucht, empfohlen hat, haben ihn alle ausgelacht, um nicht zu sagen, verhöhnt und für verrückt erklärt. Doch wenn Männer wie Schottensepp nicht Kurgäste hierhergeholt und uns damit den Weg gewiesen hätten, würde heute vielleicht niemand unseren Käse kennen. Seit zehn Jahren verkaufe ich Käse nach Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich. Neuerdings kommen auch die Engländer, und bald verkaufe ich auch an sie. Schottensepp hat mit seinem Hotel in Weissbad den Anfang gemacht. Inzwischen leben zahlreiche Familien von den Kurgästen.
Letzten Monat bin ich mit meinem Kunden Monsieur Favre in Weissbad zum Essen zusammengesessen. Da erzählte er mir, dass er in Rigny in Frankreich ein Schloss gekauft hat. Er hat mich gebeten, ihm vorerst fünfzehn Leute zu besorgen, fünf Maurer, fünf Schreiner, zwei Dachdecker und drei Schmiede. Und wenn er zufrieden sei, werde er noch mehr Handwerker anfordern.
Verehrte Herren, sperren Sie die Ohren auf! Unter Ihnen sind nur wenige, die nicht bei mir in der Kreide stehen. Ich bin nicht der liebe Gott, dass ich euch Geld leihen und es am Ende sogar schenken könnte. Ich leihe euch Geld, damit ihr es zurückzahlt, wenn die Frist gekommen ist. Ich will nicht in euren Stall gehen, um eure Kuh oder Geiss zu pfänden.
Sie alle, insbesondere die von mir Eingeladenen, beherrschen ein Handwerk und haben doch keinen Gulden in der Tasche. Warum? Weil es entweder keine Arbeit gibt oder ihre Kunden ihre Arbeit nicht bezahlen können. Jetzt bietet sich Ihnen eine einmalige Gelegenheit. Nutzen Sie sie. Heute können fünfzehn Handwerker Lohn und Brot bekommen. Und es werden noch mehr gebraucht, da bin ich sicher. Sie müssen begreifen, dass Sie mit einer Kuh und drei Geissen keine Familie satt bekommen. Es ist sinnlos, sich damit abzumühen. Es ist an der Zeit, neue Wege zu beschreiten!»
Ein Bauer schrie: «Herr Dörig, wenn wir uns nichts mehr aus unseren Geissen und Kühen machen, habt ihr auch keinen Käse mehr, um ihn an die Feriengäste zu verkaufen und keine Molke für die Molkenbäder!»
«Ihr habt mich missverstanden. So habe ich das nicht gemeint, ich bin ja nicht blöd. Aber man braucht keine fünf Sennen für eine Kuh. Davon wird keiner satt. Ich hoffe, unser Freund Walter hat mich verstanden.» Offenbar kannte er den vorlauten Bauern. «Liebe Freunde, ich will euch etwas sagen. Seid offen für Neues! Wenn ihr den lieben langen Tag beim Kartenspiel im Wirtshaus sitzt, werdet ihr eure Probleme nicht los. Im Moment bringt das vielleicht gute Laune, aber am nächsten Tag habt ihr noch mehr Probleme als vorher.
Aber nun möchte ich ein paar Einzelheiten zu eurer Arbeit in Frankreich sagen. Ich denke mir das nicht aus, sondern Monsieur Favre erwartet es so.»
Er durchwühlte seine Jackentaschen, um vergilbte Papiere hervorzukramen. Nachdem er einige aussortiert hatte, übergab er den Rest seinem Gehilfen und wies ihn an, diese laut vorzulesen.
«Erstens: Das Alter der Arbeiter soll zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Jahren liegen.»
Herr Dörig schob unmittelbar eine Erklärung nach: «Ach ja, unser junger Freund Ueli Kurt aus Urnäsch ist noch keine fünfundzwanzig, aber wir haben da eine Ausnahme gemacht. Immerhin ist er der Enkel des Urnäscher Zimmermanns und Schreiners Kurt, der zu unserem grossen Bedauern letztes Jahr verstarb. Es gibt niemanden in dieser Runde, der ihn nicht kannte, und auch der Enkel hat sich in unserer Gegend als hervorragender Handwerker schon einen Namen gemacht.»
Der Gehilfe fuhr fort: «Zweitens: Wer an einer Krankheit leidet, wird zurückgeschickt. Drittens: Wer ein Verbrechen begeht oder sich einen Verstoss gegen die Regeln zu Schulden kommen lässt, wird zurückgeschickt. Viertens: Die Reisekosten übernimmt ab der Schweizer Grenze Monsieur Favre. Die Rückführungskosten gehen zu Lasten der Arbeiter. Fünftens: Sämtliche Gewerke werden von französischen Meistern geleitet. Die Arbeiter aus der Schweiz sind ihnen gegenüber zum Gehorsam verpflichtet. Sechstens: Unterkunft und Mittagsmahlzeit wird von Monsieur Favre gestellt, dies jedoch nur für die Arbeiter. Ehefrauen und andere Familienmitglieder dürfen sich nicht in der Unterkunft aufhalten.»
Nun ergriff wieder Herr Dörig das Wort: «So weit das, was Sie wissen müssen. Behalten Sie diese Regeln gut im Gedächtnis. Halten Sie sich daran, damit es keine Schwierigkeiten gibt, andernfalls sind Sie selbst die Leidtragenden. Gibt es noch Fragen?»
«Wie hoch ist der Lohn?», brüllte einer aus den hinteren Reihen.
«Ich kann Ihnen garantieren, dass Sie dort mehr verdienen als hier. Und das Beste daran ist: Monsieur Favre zahlt Ihnen Ihren Lohn sofort auf die Hand – nicht wie hier, wo Sie zu hören bekommen: ‹Ich gebe es dir, sobald ich Geld habe.› Was wollen Sie mehr? Sie werden Geld im Hosensack haben, und es wird nicht nur reichen, um den gröbsten Hunger zu stillen, sondern Sie werden auch andere Bedürfnisse befriedigen und sich sogar Wünsche erfüllen können. Das muss Ihnen vorerst genügen. Wer noch Fragen hat, kann an meinen Tisch kommen. Der Hals ist mir trocken geworden, jetzt kann ich ein Gläschen vertragen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit!»
Nach diesen Erläuterungen setzte Dörig sich mit seinen beiden Gehilfen an einen reservierten Tisch. Die Handwerker versuchten, unter Schieben und Stossen bis zu Dörigs Tisch vorzudringen, um ihm leise Fragen zu stellen, die er knapp beantwortete. Manche fragten, ob man dort auch Chancen hätte, ohne ein Handwerk gelernt zu haben, andere wollten wissen, ob sie als über Fünfzigjährige nicht mehr zum Arbeiten nach Frankreich gehen könnten.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.