Kitabı oku: «Der Engelmacher», sayfa 4

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IV.

Der Hund übte sich in Geduld.

Er hatte das Warten gelernt und den Gehorsam. Er lebte von seinen Instinkten. Sie hatten ihm in den letzten Jahren das Leben gerettet. Es waren chaotische und entbehrungsreiche Jahre gewesen. Als Welpe wurde er in eine Welt hineingeboren, die ihm zusagte. Es machte ihm nichts aus, dass die spielerischen Monate schnell vergingen und man ihn mit knappen Kommandos an seine Aufgabe heranführte. An die Kette um seinen Hals gewöhnte er sich. Es gehörte dazu. Er sah es bei seiner Mutter, die ihn mit mahnenden Augen ansah. Er hörte es am Geheul der anderen Hofhunde, die mit dem Mond wetteiferten und er konnte die Moleküle des Pulsschlages des Dorfes auf seiner Zunge schmecken, wenn er die Winde an seiner Nase vorbeistreichen ließ und sie häppchenweise einatmete, bis sich die Bilder verfestigten.

Er schmeckte den fauligen Gestank der Misthaufen, das scharfe Aroma von Düngemitteln und die krautigen Ausdünstungen der Rübenernte. Dazwischen Tabakfetzen und dahindriftende Spuren ungewaschener Leiber. Selten einmal der sämige Geruch von Bier und Spritzer einer eigenartigen Komposition, die den Frauen anhaftete, wenn sie im Sonntagsstaat zur Kirche spazierten. Der unverbrauchte Duft von Kindern kapitulierte vor der dumpfen Aura der Kühe. Köstliche Fahnen von Bratkartoffelaromen und gebratenem Speck waberten zu festgesetzten Zeiten durch das Dorf. Der Hund erwartete sie ungeduldig. Er war wie alle anderen Hunde. Ihr sehnsuchtsvolles Heulen erfüllte die Gassen. Im Gleichklang leckten sie ihre Lefzen. Die Bratkartoffelzeit kündigte ihre Fütterung an.

Trotz der barschen Worte und der harten Stiefel der Bauern war die Welt des Hütehundes in Ordnung. Er kannte keine andere.

Dann geriet seine Welt aus den Fugen. Zuerst kamen die Flugzeuge. Ein durchdringender Heulton vom Dach des Schulhauses kündigte sie an. Der Hund konnte ihr mahlendes Dröhnen hören, noch bevor die Sirene ihr Kommen signalisierte. Nur die Katzen reagierten früher als die Hunde. Mit am Boden schleifenden Bäuchen krochen sie in ihre Verstecke. Die Hunde zerrten an ihren Ketten und ließen ein wütendes Gebell hören. Es klang wissend und ohnmächtig. Und dann setzte die Sirene ein.

Die Bomben waren das Schlimmste. Der Hund konnte ihr Heulen von dem Dröhnen der Flugzeugmotoren unterscheiden. Er hatte gelernt, sie zu fürchten. Sie rissen seine Welt in Stücke, so wie sie Fetzen aus Häusern rissen. Anfänglich kam er noch hinter den Heuballen hervor, wenn die Wucht der Detonationen verblasste und ein anderer Heulton Entwarnung gab. Er schüttelte seine ertaubten Ohren und sah sich nach den Feuersbrünsten um. Wäre er kein Hund gewesen, hätte er dankbar dafür sein müssen, dass sein Farbspektrum bei den Gelb-Rezeptoren endete und er den feuerroten Schein nur als ultraviolettes und grünliches Wabern wahrnahm. Für den Hund reichte aus, was er sah. Den Rest schmeckte er in seinem Gaumen. Er schmeckte beißenden Rauch und verbranntes Fleisch. Viel verbranntes Fleisch.

Noch war die Zeit nicht gekommen, da ihn dieses Fleisch hungrig machen würde. Noch war es nicht soweit, aber wir wissen, dass das Aufplatzen und Garen der zerrissenen Kadaver bei dem Hund einen Abdruck im Gehirn hinterließ. Der Abdruck war für die Entstehung von Gefühlen, die Bildung von Hormonen und die Steuerung des Triebverhaltens verantwortlich. Der Hund winselte ängstlich und strich mit den Vorderpfoten über die Schnauze, als wolle er die Eindrücke verwischen, die sich in sein Bewusstsein eingruben. Später würde er das nicht mehr tun. Später empfand er etwas völlig anderes. Er empfand Fresslust.

Mit den Bomben kam das Mädchen. Der Hund mochte sie. Sie war klein und tapsig, aber sie hatte keine Angst vor ihm. Er probierte sein heiseres Kläffen und ein wenig Zähnefletschen an ihr aus, aber sie blieb ruhig und sah ihn an, wie er an seiner Kette zerrte. Anders als die anderen sprach sie nicht mit ihm. Sie stemmte die Hände in die Hüften und stand breitbeinig da. Dann holte sie ein Kaninchen aus dem Korb, den sie mit sich trug. Mit großen Augen und um den Kopf gewundenen Zöpfen setzte sie sich neben den Hund, der mit zitternden Flanken auf dem gepflasterten Hof stand. Mit einem tiefen Grollen kam er näher und blieb in respektvoller Entfernung stehen. Das Mädchen wandte sich von ihm ab und streichelte gedankenverloren das Kaninchen.

Der Hund witterte. Er roch etwas Milchiges, das im Vergehen begriffen war und die Robustheit des kleinen Wesens. Der Geruch hatte nichts Beunruhigendes, anders als der Gestank des Bauern nach Urin, saurem Schweiß und selbst gebranntem Fusel. Es war kein erwachsener Geruch. Kein Geruch nach Menschen, die Fußtritte austeilten und mit Steinen nach ihm warfen. Anscheinend hatte das Wesen keine Sprechstimme, auch wenn es über den Kopf des Kaninchens hinweg eine Melodie summte, die sich immerwährend wiederholte. Der Hund hörte das Summen und es machte ihn schläfrig. Er schmeckte den Geruch des Mädchens, das ihm den Rücken zudrehte. Er beobachtete angestrengt, was die Hand des kleinen Wesens mit dem Kaninchen machte. Die streichelnde Bewegung beruhigte ihn.

Der Hund kam näher. Er war nicht gut genährt und sein Fell hatte noch nie eine Bürste gesehen. Er war ein Nutztier, das eine Aufgabe zu erfüllen hatte. Mit den Bomben hatte sich die Lage verändert. Er war nutzlos geworden. Ein zusätzlicher Fresser, der keine Sicherheit garantieren konnte. Man hatte ihn an der Kette vergessen. Vergessen wie so viele andere.

Das Mädchen würde ihn nicht vergessen. Der Hund stupste das Mädchen mit der Schnauze an und wich zurück. Eine kleine Hand suchte nach seinem Fell und begann ihn zu kraulen. Das Mädchen sah den Hund nicht an, als er sich mit einem Aufstöhnen neben sie legte. Sie brauchte ihn nicht anzusehen. Sie waren beide Kreaturen, denen das Leben nichts schenkte. Sie hatten sich gefunden.

Die Kriegsgefangenen rochen anders. Sie bewegten sich auf unsicheren Beinen und immer im Laufschritt an dem Hund vorbei. Der Bauer sorgte mit einer Knute und seinem cholerischen Temperament dafür, dass sich die ausgemergelten Gestalten nicht ausruhten. Die unrasierten Gesichter trugen ihr Schicksal eingekerbt in ihrer Haut. Sie verrichteten ihr Tagwerk mit stumpfen Augen. Nachts schliefen sie im Stall. Dann tuschelten sie miteinander. Der Hund verstand nicht, aber er konnte die Sehnsucht in ihrem schlechten Atem riechen und ihre Resignation, wenn sie auf die Hakenkreuzfahne blickten, die der Bauer an jedem Morgen hisste, nachdem man ihn zum Ortsbauernführer gewählt hatte.

Die Aufgabe des Hundes war es, nach den Fersen der Zwangsarbeiter zu schnappen, sein Fell zu sträuben und zu geifern, bis es der Bauer vor Erheiterung nicht mehr aushielt und er damit herausplatzte, dass sein Hund besser sei als zehn Russen. Dann bekam der Hund zur Belohnung einen Brocken hingeworfen, um den ihn die Russen beneideten. Er schlang ihn hinunter und machte sich wieder an seine Aufgabe. Die Russen taten es ihm gleich. Gemeinsam zitterten sie vor dem Bauern, der ihre Seelen versklavt hatte.

Das Mädchen war frei. Der Hund wusste nichts von ihrem Schicksal. Er wusste nicht, dass ihre Eltern bei dem Brand ihres Hofes ums Leben gekommen waren.

In aller Eile suchte man eine Pflegestelle für das Kind. Die Ämter und die Partei kümmerten sich darum. Es hieß, das Mädchen sei wegen eines Vorfalls, als es fünf Jahre alt gewesen war, geistig zurückgeblieben. Das war nichts Besonderes im Dorf. Es passierte und die Dörfler lebten damit. Der kleine Ralf war mit dem Arm in einer Häckselmaschine stecken geblieben und hatte seinen linken Unterarm verloren. Seitdem ging er mit wiegendem Schritt die Dorfstraßen entlang und grüßte mit militärischer Präzision Mensch und Tier, bis sie außer Sicht gerieten. Jeder kannte den kleinen Kerl mit dem ernsten Gesicht und dem Stummelarm, wie er mit durchgedrückten Knien und angestrengter Miene in Habachtstellung am Straßenrand stand, erstarrt zu einem Denkmal, den rechten Arm an die Stirn hochgerissen.

Dann war da Jörg, über dessen Mutter man sich das Maul zerriss. Sie benutzte Lippenstift, bis ihr Mund eine klaffende rote Wunde war und führte einen unkeuschen Lebenswandel. Die Gerüchte besagten, sie habe sich bei einem entfernten Verwandten die französische Krankheit eingehandelt. Die Frucht der ungehörigen Beziehung war Jörg, der zu einem großen, aber einfältigen Burschen mit einem unmännlichen Stimmchen heranwuchs. Er plapperte unaufhörlich vor sich hin, sang und gestikulierte. Immer wenn ein wohlmeinender Dorfbewohner mit roter Farbe „Hure“ an das Häuschen von Jörgs Mutter schmierte, sah man den Burschen die Buchstaben mit Hingabe ablaugen.

Auch Gisela war einer der Fälle, die sich im Laufe der Jahre ereigneten. Man sagte, das Mädchen habe eine Zinkwanne mit kochendem Wasser von der Feuerstelle gezogen und über sich gegossen. Teile der Haut und das Leben des Mädchens waren noch zu retten gewesen. Ihr Verstand aber hatte sich unwiederbringlich eingetrübt und sie hockte da und schrieb Buchstaben in ein Heft. Das „d“ war ihr Lieblingsbuchstabe. Manchmal zerriss sie die Hefte und stieß kleine Schreie aus. Dann musste man sie festbinden, denn sie schäumte und schlug um sich, bevor sie in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf verfiel und erst Stunden später desorientiert wieder aufwachte.

Hedwig war der neue Pflegling des Ortsbauernführers. Sie schien ein unkompliziertes Kind zu sein, wenn man ihr das Kaninchen beließ. Der Bauer schätzte an ihr, dass sie eine ansehnliche Erbschaft mit auf den Hof brachte, die er für sie verwaltete. In den Augen des Bauern benötigte das Mädchen, außer regelmäßigen Mahlzeiten und einem Satz Sommer- und Winterwäsche, nichts weiter. Für den Rest des Geldes hatte er gute Verwendung. Manchmal hatte er das Gefühl, dass die forschenden Augen des Mädchens, das nicht sprach, auf seinem Gesicht ruhten. Wenn er allerdings mit strenger Miene zu ihr hinübersah, spielte sie angelegentlich mit ihrem Kaninchen. Später, wenn aus der Kleinen eine junge Frau würde, würde er mit seinen Erziehungsmaßnahmen beginnen, dachte sich der Bauer und tastete nach dem Ochsenziemer, der im Stiefelschaft steckte. Das Mädchen hatte etwas Aufsässiges. Aufsässigkeit war ein Charaktermerkmal, das in der Volksgemeinschaft von Schaden war. Aufsässigkeit musste gebrochen werden.

Die einfältige Frau des Bauern, deren Attraktivität durch ihre Mitgift bestimmt wurde, war eine gefügige Person mit unwissenden Kuhaugen und nimmermüden Händen. Sie hielt Hedwig zu kleinen Handreichungen an und sprach mit ihr. Eigene Kinder hatte sie nie bekommen. Sie hatte sich diesen Umstand nie verziehen und der Bauer erinnerte sie stets an dieses Manko, wenn er nach Dorffesten mit geschwollenem Selbstbewusstsein und schwerer Zunge nach Hause wankte und mit der flachen Hand zuschlug, bis der Bäuerin das Blut aus der Nase rann und sie auf Knien Abbitte leistete.

Der Hund kannte die Zusammenhänge nicht, aber er hatte Ahnungen. Fremde Menschen aus den Städten suchten das Dorf auf. Sie waren mit Teppichen, Silberleuchtern und Bildern beladen, die sie gegen Lebensmittel tauschen wollten. „Ausgebombt“ war ein Wort, dessen Klang sich der Hund einprägte, ohne den Sinn zu erfassen. Er roch die Trauer und die Ausweglosigkeit, die den gebeugten Gestalten folgte, wenn sie ihre Karren zogen und ihre Bündel schleppten. Sie sahen anders aus als der rotwangige Bauer, der breitbeinig auf seinem Land stand und markige Parolen von sich gab, während sich seine Scheune und der Stall mit Wertgegenständen füllten.

Gerüchte zogen ihre Silberfäden durch das Dorf. Gerüchte, die von Tag zu Tag mehr Wahrheit enthielten und bleiern schwer auf den Gemütern der Dörfler lasteten. Die Ostfront hatte sich in das Deutsche Reich hineinverlagert. Die Westalliierten pflügten sich rheinwärts. Wehrmachtssoldaten und Volkssturmmänner kamen in versprengten Gruppen durch das Dorf. Sie hatten verschlossene Gesichter ohne Zuversicht. Die Volksempfänger wüteten und geiferten. In den Kinos balgten sich Komödien und Kostümfilme um den Optimismus der Zuschauer. Man sagte, dass Panzer auf der Anhöhe hinter den Pferdekoppeln gesehen wurden. Amerikanische Panzer mit Stoßrichtung Dorf. Die Dörfler hielten gestärkte, weiße Bettlaken bereit, um sie bei Bedarf aus den Fenstern zu hängen. Die Erwartung nach Kaugummis, Lucky Strikes und Nylonstrümpfen lag in der Luft.

Auch der Hund witterte die Veränderung. Der ältere Junge, der Hedwig regelmäßig auf dem Hof besuchte, ein dünner Knabe mit hellen Augen und einem abwesenden Gesichtsausdruck, steckte dem Kettenhund Leckerbissen zu. Er vergaß es kein einziges Mal. Anfangs fletschte und geiferte der Hund ihn an, aber der Knabe hockte sich selbstvergessen vor ihn hin und sah ihn an. Er murmelte etwas. Der Hund verstummte und spitzte die Ohren. Bei einem der nächsten Besuche verrieb der Knabe eine Ringelblumenpaste auf den räudigen Stellen an den Hinterläufen des Hundes. Das Tier leckte ihm die Hand. Die Hand schmeckte nach Vertrauen und Freundschaft. Der Hund speicherte das Gefühl ab. Es war kostbar und selten.

Einzig der Bauer wollte den Anbruch der neuen Zeit nicht wahrhaben. Er fluchte, schnaubte und trank. Er drosch mit dem Ochsenziemer auf die russischen Zwangsarbeiter ein und zwang sie, Abfälle aus den Schweinetrögen zu essen. Ihr Getuschel und ihre Verachtung brannten sich in seinen Rücken und brandmarkten ihn. Eigenhändig schleppte er Sandsäcke und Gerümpel auf die Straße, um den Vormarsch der Amerikaner aufzuhalten und sie mit einer heroischen Anstrengung zurückzuwerfen. Er stand auf den Tischen in der Kneipe und faselte von der Wut der Gegenoffensive des deutschen Volkes und dem Endsieg. Mit verlegenen Gesichtern hörte man sich seine Tiraden an, um dann schweigend in die Häuser zurückzukehren. Die Unheil verkündende Geräuschkulisse der Front begleitete die Männer auf ihrem Heimweg und trieb Frauen und Kinder in die Keller. Nur der Bauer und einige wenige Gefolgsleute sangen das Hohelied auf Führer, Volk und Vaterland. Ihre Stimmen verhallten wirkungslos im Wind.

Nichts kündigte die verhängnisvollen Ereignisse an. Das Dorf duckte sich vor der heranrückenden Front. Es war von seinen Verteidigern aufgegeben worden. Ihm kam keine strategische Bedeutung zu. Die ersten weißen Laken hingen wie zufällig aus den Fenstern. Durchhalteparolen verschwanden von Wänden und Ehrenzeichen von Kleidungsstücken. Eine Brise blähte die Hakenkreuzfahne am Haus des Bauern. Der Hund beobachtete aus seinem Versteck das Mädchen, das mit einem schweren Paket über den Hof ging. Er roch das Brot, den Käse und den Speck. Ein Panzerungetüm hatte sich vor wenigen Minuten rasselnd in das Herz des Dorfes geschoben und mit einem Drehen des Geschützturmes Sichtkontakt aufgenommen. Dann hatte es sich mit schleifenden Ketten zurückgezogen. Kein Schuss war gefallen. Es herrschte gespenstische Ruhe.

Die Sehschärfe des Hundes war auf Bewegung optimiert. Stillstehende Dinge wurden von seinem Gehirn unterdrückt. So gehörte es sich für einen Wachhund. Der Tag dämmerte der Dunkelheit entgegen. Das war die beste Zeit der Hunde. In ihrem verspiegelten Augenhintergrund wurde einfallendes Licht reflektiert. Ein Mensch hätte die vier russischen Kriegsgefangenen, die sich eng an die Scheune gedrückt davon machten, nur als verschwommene graue Schatten wahrgenommen. Die Umstände wollten es, dass das Dorf menschenleer war. Es schien den Atem anzuhalten.

Der Hund erhob sich. Er sah, dass die Flüchtenden neue Kleidung trugen. Teure Kleidung, die von den ausgebombten Städtern gegen Milch und Brot eingetauscht worden war. Die Sachen rochen nach Wohlstand und biederer Anständigkeit. Sie verdeckten für Momente den Gestank nach Unterernährung, Qual und ungewaschenen Leibern. Der Hund riss an der Kette und bellte. Er hatte Pflichten zu erfüllen.

Das kleine Mädchen kam geradewegs auf ihn zu. Mit einer bittenden Handbewegung und einem Finger über den Lippen näherte es sich dem Hund. Die grauen Schatten der Flüchtenden verschmolzen mit einem Ginstergebüsch. Ein unförmiger weißer Fleck bewegte sich mit ihnen. Dann war auch er verschwunden. Zurück blieb eine für den Hund schmeckbare Spur nach Proviant. Er reckte ein letztes Mal mit einem geräuschvollen Schnüffeln die Nase in die Luft. Dann konzentrierte er sich auf das Mädchen, das seinen zottigen Kopf in beide Arme genommen hatte und ihn wiegte. Er mochte es, wenn sie die Melodie summte. Die Melodie war für Kaninchen und für Hunde. Heute Nacht war sie nur für ihn.

Der Bauer war betrunken, als er Hedwig an sich riss. In den letzten Tagen war er ständig betrunken, weil ihn in nüchternem Zustand die Realität deprimierte und weil sich mit jedem Ticken des Sekundenzeigers seiner Taschenuhr zu der Depression die Angst gesellte. Angst vor namenlosen Dingen, die ihn zu verschlingen drohten, wie sie das Deutsche Reich verschlungen hatten. Dinge, die die Ostwinde und die Westwinde aus Russland und Amerika unaufhaltsam heranwehten.

Er war nicht zu betrunken, um seine schwielige Rechte in die Zöpfe des Mädchens zu graben und sie über die Pflastersteine zu schleifen. Den Hund bedachte er mit einem Tritt. Das Mädchen hob die Arme und klammerte sich an den Arm des Bauern. Ihr Gesicht war ein heller Fleck. Sie gab keinen Laut von sich.

Der Bauer wankte durch das Stallgebäude. Mit ungelenker Zunge fluchte er. Es waren gotteslästerliche Flüche. Er polterte in die Scheune. Das Kind schleifte er achtlos neben sich her, als habe er seine Existenz vergessen. Stieren Blickes sah sich der Bauer um. Er hätte sich die Mühe sparen können. Er konnte sich denken, was passiert war. Man hatte ihn bestohlen, ihn ausgenutzt, ihn an der Nase herumgeführt. Das Balg und die russischen Hungerleider. Zu allen war er gut gewesen, viel zu gut. So hatte man ihm seine Fürsorge gedankt. Jetzt, da der Feind vor den Toren stand, zeigte das Pack sein wahres Gesicht. Schwer ließ er sich auf einen Hocker fallen.

Als er sich aus seiner Erstarrung löste, fiel sein Blick auf seine rechte Faust, die sich in die Zöpfe des Mädchens krallte. Er schien sich ihrer erst jetzt wieder bewusst zu werden. Mit dem schwerfälligen Blick des Betrunkenen sah er sich um. Die Gerätschaften waren ordentlich an der Scheunenwand aufgereiht.

Warum er die Schafschermaschine gekauft hatte, wusste der Bauer nicht mehr. Sein Mund fühlte sich trocken und geschwollen an. Er hatte Durst. Viel Durst. Doch er hatte noch etwas zu erledigen. Etwas, das mit Respekt und Abschreckung zu tun hatte. Respekt und Abschreckung. Zwei Seiten einer Medaille. Zwei Begriffe, die in seinem Haus nicht nur Worte bleiben sollten. Jeder sollte es sehen. Vielleicht war es dann noch nicht zu spät für das Dorf. Nicht zu spät für Deutschland. Für die Zöpfe würde eine Heckenschere genügen. Das Gesicht des Mädchens verschwamm vor seinen Augen. Eine Heckenschere. Das würde der erste Schritt sein.

Die Frau des Bauern fand die Kleine blutend und mit kahl geschorenem Schädel in der Scheune. Der Hund war verschwunden. Sein abgewetztes Halsband schlang sich um den Hals des Mädchens. Die Laufkette verlor sich im Hof. Der Bauer hielt eine Heckenschere in der Hand und stach mit ihr in die Luft, als wolle er sich eines unsichtbaren Gegners entledigen. Mit blutunterlaufenen Augen stierte er auf seine Frau. Er grinste und stach, grinste und stach. Dabei brabbelte er von Anstand und Respekt, von Lektionen und Werten. Mit tückischen Augen fixierte er das wimmernde Bündel an seiner Seite und spuckte verächtlich aus. Er gestattete es seiner Frau, ihn hochzuwuchten und in die Wohnstube zu stützen. Er gestattete ihr nicht, sich des Mädchens anzunehmen. Die Lektion war noch nicht zu Ende. Das Ende würde dann erreicht sein, wenn er es befahl. Jawohl, befahl. Der Hof war sein Hof und das Mädchen sein Mädchen und er würde sich nicht nachsagen lassen, dass er in der Erziehung seines Mündels versagt habe. Nein, das würde nicht geschehen, solange sie noch an seinem Tisch saß. Das würde noch lange Zeit so sein. Zeit genug zu lernen.

Der Hund konnte warten.

Die Kette hatte ihm der Bauer abgenommen. Der Hund verließ nach seiner Suspendierung den Hof. Er roch das Mädchen. Ihr Duft war intensiver als sonst. Der Hund beschloss abzuwarten. Der ältere Junge kam im Morgengrauen. Kam und ging. Er hatte Instinkte wie der Hund. Seine Augen fanden das Versteck des Tieres ohne Mühe. Eine schmutzige Tränenspur zog sich über seine Wange, als er die Scheune verließ. Leise rief er nach dem Hund. Er hatte einen Leckerbissen für ihn. Seine Hand zitterte, als er dem Hund durch das Fell fuhr. Es war nicht die Angst, die ihn zittern ließ. Der Hund konnte es spüren. Es war etwas ganz anderes. So anders, dass sich der Hund wieder in sein Versteck zurückzog.

Vereinzelt ließen sich Vögel hören und der Geschützlärm würde bald wieder einsetzen, als der Junge den Bauern über den Hof brachte. Der Bauer schrie. Er brüllte vor Schmerz. Eine Eisenstange hatte seine Kniescheiben zertrümmert. Jetzt lag er zusammengekrümmt auf einer Schubkarre. Der Junge war kräftig für sein Alter. Kräftig und entschlossen. Sein Ziel war der Stall.

Der Hund hörte, wie Metall auf Metall rieb. Sein Geruchssinn unterschied den hervorstechenden Gestank des Ammoniaks von tausend anderen Duftnoten. Er wusste von der Jauchegrube, wusste, dass er diesen Geruch schon lange Zeit nicht mehr in der Nase hatte, weil die Felder wegen des Krieges nicht mehr gedüngt und bestellt werden konnten. Das Brüllen des Bauern nahm an Lautstärke zu, dann ein nasses Geräusch und ein letzter erstickter Ruf. Es wurde still. Metall schabte auf Metall. Eine Granate schlug weit hinter dem Dorf ein. Der Krieg war zurück.

Die einrückenden Amerikaner suchten nach dem Ortsbauernführer, aber er blieb verschwunden. Nach offiziellen Angaben war er auf der Flucht. Die Bäuerin hatte ein kahl geschorenes Mädchen im Arm, das ein Kaninchen streichelte und immer wieder Hilfe suchend nach einem älteren Jungen griff, der beruhigend auf es einredete.

Niemand im Dorf hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt. Niemand befragte den Hund.

Kopfschüttelnd stellte ein amerikanischer Soldat fest, dass die Jauchegrube mit einer Hakenkreuzfahne abgedeckt war. Er machte ein Foto für seine Angehörigen.

Seltsam, was der Krieg aus Menschen machte.

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