Kitabı oku: «Erzähl mir von Ladakh», sayfa 2
1800 m
Im Deluxe-Bus nach Manali. Alles Inder; schöne, reiche. Unsere Blicke wuselten durch die Buskabine, trafen dann und wann aufeinander, enttarnt versuchten sie ihre Absichten zu verhüllen, stoben auseinander, um sich im nächsten Augenblick wieder zu suchen, wurden zunehmend mutiger, enthemmter, schließlich stierten wir uns unverhohlen an, die Neugierde losgelassen wie ein indisches Dschungelraubtier. Es waren offenbar hochkastige Menschen; privilegiert, dem Feucht-Heiß entfliehen zu können, rückten sie der kühlen, faltigen Himalajahaut zu Leibe. Stirnmittig wie ein drittes Auge hatten sich die Frauen Schönheitspunkte aufgepflanzt, auch diese suchten meine Aufmerksamkeit, fanden sie umgehend, bald war ich ihnen ungebremst verfallen. Dann verfielen alle in ein Dösen. In den Rumpelpausen stiegen wir aus dem Bus, durch das In-Bewegung-Geraten gewann wiederum das Schauen an Regsamkeit, das Aufeinanderprallen der Blicke setzte sich fort, arbeitete der Aufmerksamkeit zu, diese eröffnete neue Perspektiven und Anhaltspunkte am jeweils anderen. Vorurteile wichen Gewöhnung und Vertrauen, wurden entlarvt als aufgeplusterte Seifenblase, zerplatzten vollends.
Die klebrige Schwüle ließ sich keinesfalls wie Firnis vom Gemälde der Nacht lösen. Man lechzte nach der dunkeln Kühle, aber die Nacht war nur Fassade, ein Außenanstrich, der zwar alles und jeden einnahm, hingegen nichts zu bewirken vermochte; sie gab lediglich vor, den Staub zu verschlucken, weil man ihn nicht mehr wahrnehmen konnte. Heiße Buden, die Verbranntes anboten. Die Parkplätze von darbenden Lkw eingenommen, die qualmenden Dhabas von deren Fahrern. Mit Haut und Haaren der Hitze ausgesetzt: Hunde. Hauptbewegungsart: liegend. Hin und wieder schraken sie hoch, schüttelten sich – vergebens, die drückenden Temperaturen ließen sich genauso wenig abbeuteln wie eine Fellladung Flöhe.
Besonders heftige Schläge, hervorgerufen durch Straßenlöcher, gingen an die Grenzen des Dämpf-Möglichen, in dichter Abfolge mit Kurven rüttelten sie mich wach und bescherten mir ein umfassendes Proportionsproblem: Unweit der Straße gingen die Linien von Silhouetten wie Scherenschnitte ab, noch dunkler als der Nachthimmel, noch bedrohlicher, rundweg schwarz, zogen sich empor zu massigen Hügelklötzen immensurabler Höhe, es konnten Gebirgsvorboten gewesen sein oder bloß von der Straße bedrängte, ihr im Wege stehende Ausweichhügel von der Höhe eines Autobusses. Dann kamen wieder Lichter ins Verwirrspiel, flunkerten mich an, stellten Größenverhältnisse infrage, machten sodann klar: Sie markierten Dörfer in stockdunkler Nacht … oder waren es Sterne, den Himalajakolossen aufgesessen? Dazu noch die Scheinwerferlichter verschleierter Herkunft, wie in einem Spiegelkabinett wurden sie von den schmutzigen Fensterflächen reflektiert und hin und her geschleudert. In ihrer Lichterbahn entlarvte sich eine grimmige Eiswand als Hausdach, ein Fixstern als einsame Straßenlaterne, ein Schattenriese als gewöhnlicher Passant. Ich ließ immer mehr von diesem Ergründen-Wollen ab, fühlte mich erleichtert. Sich den Geschehnissen aussetzen, sich ihnen hingeben – verführten sie einen noch so unbegreiflich und bezugsfern an einen anderen Ort. Mich hievte das zurück in schummrige Traumwelten, ohnehin war ich ihnen kaum entflohen.
Als ich erwachte, befanden wir uns in einem Gebirgstal, dem Kullu-Tal. Ich fror! Endlich! Die Nacht war der Schwüle entkommen und der Morgen der Nacht. Saftiges Wiesengrün verdankte seine Opulenz dem reißenden Gewässer, hier noch jugendlicher Bach. Frauen in bunten Gewändern wuschen darin die Wäsche, auf Felsen und Wiesen zum Trocknen ausgelegt, grelle Spitzlichter erzeugend. Es waren Flüchtlinge aus dem nahen Tibet, das Tal voll davon. Menschen, geflohen von heimatlichem Herd, Haus und Berg, bis zur Selbstverflüchtigung. Florierende Felder von Bauern beackert. Hin und wieder sollten Cannabiskulturen darunter sein.
Nicht zu fassen. So viele Menschen und interessant war nur einer: selbstredend ich am Busbahnhof Manali, soeben abgesetzt auf einem von Rikschas, Bussen, Autos, Staub und Menschen übersäten Parkplatz, mit ausladendem Gepäck in Form von acht Fahrradtaschen und flugzeugladeraumgerecht demontiertem Fahrrad. Die Inder waren immer schon fahrradtechnikinteressiert. Die ewige Fragerei in diese Fachrichtung und nach dem Preis des Fahrrads ging mir schon auf den Geist, und der war ohnehin von der Hitze komplett aufgeweicht.
Richtiggehend angewurzelt, als ginge sie zur Baumschule, stand mir ein Mädchen beinahe ins Gesicht. Nachdem ich sie die ganze Zeit ignoriert hatte, gab sie ihren Gewächsstatus auf und bettelte mich unverhohlen an, trotzte mir Kleingeld ab. Dann winkte sie einem jüngeren Buben, das sah ganz nach einer zweiten Runde aus. Die Betteltechnik des Kleinen erzeugte einen noch stärkeren Sog, der, ausgehend von einem Punkt ungefähr zwischen Empathie und schlechtem Umverteilungsgewissen, einen Windbruch bis zu meiner Geldbörse herausfräste. Der Bub öffnete einen kleinen braunen Koffer mit metallenen Randverstärkungen, die quasi als Kofferärmelschoner fungierten, und offerierte mir im ausgegorenen Vertreterstil eine Reihe von Heiligenbildchen mit eindeutiger Christenschlagseite; im Handumdrehen hatte er mich also taxiert, schubladisiert, eigentlich verkoffert. Meine Sammlerleidenschaft für dieses Metier war noch am Schlummern, da hatte er jetzt ausgesprochenes Pech mit mir. Infolge eines Auflaufs an Nachwuchsbettlern verstärkte sich meine räumliche Präsenz ungemein, ich erweiterte mich kontinuierlich, zuletzt um noch einen Nachwuchshändler, einen Klebestreifen-und-Aufkleber-Kleber-und-Anstreicher. Er war mir mit seinem Umhang aus gut sortierten Kleberollen zuvor schon aufgefallen, als er begierig sämtliche Fahrzeuge, die sich ihm in den Weg stellten (oder er sich ihnen), mit reflektierenden Klebestreifen und Plaketten im Dienste der Verkehrssicherheit zuklebte; dergestalt platzierte er seine kleistrigen Duftmarken. Der vordere Teil des Fahrradgabelschafts drängte sich förmlich auf für eine Anhaftung, ich für das dazugehörige Business. 200 Rupien für fünf Zentimeter Gewebeband in hässlichem Leuchtgrün und weitere 200 Rupien für drei Zentimeter in Schock-Rot. 400 Rupien also und ich hatte meine eigene Verkehrsampel dabei. Es macht einen Unterschied, sich bei vollem Preisbewusstsein bescheißen zu lassen. Und es macht durchaus Spaß.
Die Hotelterrasse des Snow View hielt, was der Name versprach; auf den umliegenden steil aufragenden Bergen hatte die Juniwärme dem Schnee zugesetzt, sich durch ihn hindurch gefressen, und die Gletscher traten ihre Höhenfluchten an. Das verwirrte den alpengewohnten Betrachter, berücksichtigte er, mit welchen Höhenmarken er es hier zu tun hatte, immerhin bäumte es sich auf bis 5000 Meter Meereshöhe.
Ich bestellte ein amerikanisches Frühstück. Im Stillen bat ich um Verzeihung. Aber so eines würde wohl am allerwenigsten jene heikle Esstechnik mit den Händen einfordern wie neulich, und ich müsste nicht wieder konsterniert zwischen rechts und links hin- und herdenken. Letztlich ging auch dieses Frühstück nicht ohne Konventionsbruch ab, ich ließ den Speck weg, dafür kam ein herrlich duftender und schmeckender Masali-Tee hinzu.
In diesem Land drehte sich so manche Konvention um, lief in meinen Augen verkehrt, wobei sich bei näherem Hinsehen das Bild als ein Negativabzug erwies, das erst in der nochmaligen Umwandlung – positiv getrimmt – stimmig wurde. Auf den Speisetafeln vor den Restaurants las man mit spitzer Kreide gezirkelt:
100 % vegetarian! In den Speisekarten war zuunterst eine bescheidene Rubrik »non vegetarian« zu entdecken, als schäme man sich dafür. Zu europäischen Speisekartenkonstellationen ist das genau entgegengesetzt, für einen 100 %-Vegetarian wie mich aber völlig richtig. Als ich in einem solchen Restaurant von außen auch noch Essbesteck aufblitzen sah, hatte es umgehend mein Vertrauen. War ja nicht wirklich viel verlangt. In einem indischen Restaurant in Graz hatte ich zuletzt ein fantastisches Malai-Kofta gegessen, jetzt entdeckte ich es zuoberst auf der Karte, bestellte es und war neugierig auf den Unterschied. Der Unterschied war elf Euro. Geschmacklich? Hier war’s uriger, fettäugiger, auch gut, trotzdem 1 : 0 für die Grazer im Match der Küchen. Rechnete man hingegen das Preis-Leistungs-Verhältnis hinzu, hätten die Grazer sicherheitshalber einen Elfmeter auf dem Kochfeld benötigt, um die Führung verteidigen zu können. Die Inder würden aber noch genügend Gelegenheiten haben für den Ausgleich.
In der Mall Road, dem Flaniersteg Manalis, entsprach die nicht zu differenzierende Geruchsmischung aus scharf bis süßlich, aus anregend bis ekelerregend, welche im Schleichgang die Nasenhöhlen einnahm (die ekelerregenden Gerüche auch die Bauchhöhlen), durchaus dem Aufzug des bunten Personals an Stadtflaneuren. Im Rating ganz oben auf: die paarweise aufstolzierenden Flitterwöchner, als wären sie frisch dem Hochzeitszeremoniell entrissen (die Frauen in prachtvollen Saris, die Herren westlich elegant); Kurgäste aus dem Süden, die 32 Grad im Schatten als lebensqualitative Bereicherung ansahen; Straßenhändler, die mit allem Möglichem und Unmöglichem den Läden an beiden Seiten der Mall Road die Aussicht auf Geschäft und Gewinn verstellten (die Aussicht auf Aussicht sowieso); Hippies westlicher Provenienz, die, einander geflissentlich ignorierend, aneinander vorbeischwebten – jedem Einzelnen schaute der behäbige Nimbus des letzten Mohikaners einer kaputtgelebten Rasse aus den runzelig gekifften Augenzügen heraus –, und zuunterst, meist in Bodennähe, mit dem besudelten Visitenkärtchen »Ramsstatus« versehen, die Bettler, welche verunstaltete oder fehlende Körperteile hoffnungsfroh in die Schlacht um den begehrten Obolus warfen; und mittendrin ein mit lumpiger Berghose samt verstaubten Bergschuhen unschicklich und statusmissachtend ausgestatteter Alpin-Sahib, der ordentlich am krämerladenartigen Kastensystem der Inder rüttelte, indem er die Schubladen gehörig durcheinanderbrachte. Ich zog die Aufmerksamkeit auf mich, wurde zum Umworbenen vieler eifriger Blicke aus allen Begegnungsrichtungen. Ich konnte gar nicht genug bekommen, stromerte durch das Geschehen, ging dabei die Mall Road auf und ab. Nach ein paar Runden bemerkte ich, dass ich nicht der Einzige war, der das tat.
Dann und wann lugten faltige Berggesichter mit putzigen Schneehäubchen interessiert oberhalb der steil ansteigenden Waldhänge an beiden Seiten des Tales auf das bunte Treiben in den Straßen herab, ehe sie sich wieder in nobler Blässe hinter dem feinen Gespinst aus Wolken zurückzogen. Sie hatten hier keinesfalls die Hauptrolle zu spielen. Am unteren, dem Busbahnhof zugewandten Ende der Mall Road nahm der Menschenstrudel ab, ich entwand mich der Strömung und besuchte die Tempel im tibetischen Viertel.
Eine ehrwürdig betagte Frau, die dieses Prädikat wohl schon seit etlichen Jahren vor sich hertrug, bewachte den Eingang der Gadhan Thekchhokling Gompa. Um den Gebetsbereich im Freien drehte ich ein paar Runden und betätigte dabei die kreiselartigen Gebetsmühlen, sodass sie das auch taten; dergestalt verlor ich mich abermals in einem Wirbel, wie ihn die Runden drehenden Menschenmassen auf der Mall Road erzeugt hatten. Hin und wieder sah man einen Mann mit Topi, eine traditionelle, ursprünglich nepalesische Mütze aus dem Kullu-Tal, die sich, obwohl sie so aussieht, nicht von Toupet herleitet. Erhobenen Hauptes wurde sie getragen und derartig bedeutsam, als trenne den Kopf überhaupt nichts vom Himmel. Dabei gerieten die Topis zum reinsten Topos. Imponierend irgendwie.
2000 m
Als ich frühmorgens endlich losradelte, überfiel mich unvermittelt ein Weinen. Die Sorgen, geknüpft an das Morgen, das Wie und Wo, fielen von mir ab, verschafften sich Erleichterung über Tränen. Freilich hatte ich noch großen Respekt vor dem ersten Pass, dem Rohtang La, den es 2 000 Höhenmeter oberhalb meiner grobstolligen Fahrradreifen zu passieren galt.
Kurz darauf machte es Srrraatschh. Die Kette hüpfte, das Herz blieb stehen. Es funktionierten genau zwei Gänge von siebenundzwanzig (2 : 27). Aus der Halb-leer-halb-voll-Perspektive war das immerhin viel mehr als gar keiner. Fünf Minuten später, nach getätigter Feinjustierung: Jetzt funktionierte nur noch einer (1 : 27), auch das war besser als gar keiner, die Situation konnte also schlimmer sein. Zehn Minuten später: Nichts ging mehr! Anscheinend hatte das Fahrrad im Flugzeug etwas abbekommen, was ihm gar nicht bekommen war. Sozusagen auf Biegen und Brechen versuchte ich jetzt den vom Normalkurs abgerückten Kettenwerfer gerade zu klopfen, was mir teilweise passabel gelang, mit dem Ergebnis: 26 : 27. Damit gelang auch die Abgrenzung von etwas, das aussah wie ein vernichtendes Ballspielergebnis. Meiner Mühen gewahr gab ein kleiner, in roten Teppichfilz gehüllter, kahlköpfiger Mönchsschüler zu erkennen, dass er bereits auf Augenhöhe mit der Sinnfrage des Lebens war: Ob ich glücklich sei. Ja richtig, so war es anfänglich gedacht gewesen in all den Religionen, nicht nur im Buddhismus. Ich freute mich, dass er mir das in Erinnerung rief und bejahte müde lächelnd. Das Lächeln wurde mir selbst zum Motor, der mutierte glatt zum Außenradmotor, die ersten Steigungen gelangen mühelos.
Dorfauswärts über mehrere Kilometer säumten Verkaufsstände die Straße; diese waren von Tibetern okkupiert – bisweilen nahmen sie also das Okkupieren auch selbst in die Hand und überließen es nicht allein den Chinesen. Riesige Schilder mit Zahlen prangten von den Budendächern, ihr Zweck blieb mir schleierhaft. Feilgeboten wurde ein merkwürdiges Konglomerat an Winterutensilien. Pelzmäntel – da konnten welche aus Bärenfell dabei gewesen sein – flatterten von den Bügeln, daneben eine Kollektion abgetragener (abgefahrener?) Schianzüge; und als trauriger Höhepunkt, quasi Dornenkrönung, anderswo vermutlich für tot erklärte, das Antlitz verschrumpelt, die Taillen verunstaltet, in puncto Besohlung, vielmehr Belag wüste Spekulationen hervorrufende … Schier! Sie hatten ihre ruhmreichen Zeiten (womöglich Siegespodeste) längst hinter sich, jetzt wurden sie präsentiert wie auf dem Schafott.
Ab und an hielt ein Auto, gefüllt mit Indern, oder ein Motorrad, besetzt mit Indern, es wurde diskutiert, gestikuliert, gefeilscht und gefeixt – große Sache halt, ritualhaft zelebriert.
Wenig später überholte mich ein Rudel Bären auf Motorrädern.
Aus geöffneten Fenstern vorbeibrausender Autos lungerten menschliche Extremitäten, überhitzte Gesichter, zerzauste Haare und knallfarbige Schier. Hochgepeitschte Enfield-Motoren im Aufstieg imitierten animalisches Gebrüll.
Die Straße schraubte sich unbeirrbar durch lichten Zedernwald empor, diesem erwuchsen vereinzelt Häuser. In den einsamen Waldabschnitten war der Straßenrand von kleinen Äffchen besetzt. Unablässig turnten welche aus dem Wald heraus, bildeten ein chaotisches Spalier – kein soldatisches, mehr ein chaotisches –, eine zappelige Reihe neugieriger, verrückter, kleiner Kerle, auf einen Erlöser wartend, mochte der sie vom Affenalltag befreien. Ich ließ mich keinesfalls auf die triebhaft diebisch veranlagten Tiere ein, den Erlöser wollte ich ihnen schon gar nicht machen. So verzichtete ich auf jegliches Gehabe, das mir als Tierliebe ausgelegt werden konnte, und vermied darüber hinaus Rastpausen auf Affenterritorium. Während ich an ihnen langsam vorbeigondelte, den Blick starr geradeaus gerichtet, die Tiere im Augenwinkel behaltend, bangte ich, sie könnten von der lahmen Reisegeschwindigkeit auf leichte Beute schließen, und trat sicherheitshalber ein paar schnellere Pedalrunden.
Immerhin sind Affen in Indien, neben den hinlänglich bekannten Tieren, heilig. Zu verdanken ist das Hanuman, dem Gott in Affengestalt, laut Ramayana-Epos treuer Diener seines Herrn und … Befehlshaber eines angriffslustigen Affenheers! Eben! Kleinmütig kramte ich in meinem staubigen Wissenspool über abendländische Mythologie, die ja gewissermaßen für mich zuständig war, um Vergleichbares zu finden. Vergeblich. Dieses Wissensgebiet würde mich indessen noch eine Zeit lang beschäftigen.
Unweit der Straße schleppten Frauen, in regenbogenfarbenen Gewändern den Tibetflüchtlingsstatus am Leibe tragend und mit Tüchern das Gesicht verhüllt, Gesteinsbrocken von hier nach da. Bei uns vollbringen Frauen in der Regel körperlich weniger beschwerliche Arbeit. Allerdings wurden die Steine dann von Männern im Volleinsatz ihrer Kräfte zertrümmert, und das mit einem Hammer, der zwar nicht so aussah, jedoch härter sein musste als die Steine, und wieder einmal wurde bei näherem Hinsehen aus Kuriosität pure Normalität, Frau und Mann hatten ihren »gewohnten« Platz. Die Arbeit gemahnte an Drangsalierung, erschien widersinnig, trotzdem sollte es mit dieser Plackerei etwas auf sich haben, zu irgendetwas musste sie ja gut sein – das harte Brot des armen alten Sisyphus würde hier wohl keiner gekannt, geschweige denn freiwillig nachgeahmt haben.
Relativ rasch erreichte ich eine Höhe von 2 800 Metern. Hier befand man sich auf Augenhöhe mit patrouillierenden Adlern und eine Etage höher mit sich eindunkelnden Wolken, in ihrer Funktion als feinstofflicher Sonnenschirm verfangen. Vor einem »Café« machte ich Mittagspause und ärgerte mich über den realen, nichtmetaphorischen Sonnenschirm; in periodischen Abständen knickte er ein, womöglich aus Demut vor dem metaphorischen. Neben mir hatte sich eine indische Familie niedergelassen, sie quoll immer mehr auf, teils durch Zuwachs aus dem Inneren des Cafés, teils aus dem Auto, dessen schier unerschöpfliche Raumressourcen mir rätselhaft erschienen. Und mit jedem personellen Zuwachs der unaufhörlich zum Dorf anwachsenden Familie ergab das einen Neugierigen mehr – die Inder sind von Geburt an neugierig, mit ganzem Leib und ganzer Seele. Ich steckte fest im Dorfzentrum und musste eine zyklisch wiederkehrende Fragenfolge über mich ergehen lassen. Besonders hervor tat sich der Vater, mit krummer Nase und kümmerlichem Haupthaar nicht gerade ein Adonis. Was mein mother-country sei, ob ich eine Familie habe und wo diese sei, welchen Beruf ich habe, und zwischendurch einmal, wie viel ich damit verdiene. Bis auf das mother-country log ich, dass die Affen erröteten. Das mit Michael Jackson wisse ich? Wisse ich. Erleichterung stellte sich ein, als die Leute in ihr Auto stiegen, dessen Innenraum mittlerweile zum Bus angewachsen sein musste, und sich in Rauch auflösten. Ihr Abgang markierte gleichzeitig das planmäßige Ende meiner Pause.
Dicht aneinandergedrängte, ebenmäßige Serpentinen ließen mich nur geringfügig Raum gewinnen, wohl aber Höhe. Daraus resultierte: Aggressiver Indian-Hip-Hop-oder-so ertönte von unten und erlosch wieder in periodischen Abständen. Das mutete komisch an, der Schall saß mir als Schalk im Nacken. Es näherte sich ein Auto, vollbesetzt mit einer bunten Schar Jugendlicher. Als sie mich überholten, machten sie eine Vollbremsung – die konnte nur mir gelten – und stellten das Auto mitten auf der Straße ab. Es wäre überzogen zu behaupten, sie hätten mich angehalten. Ein Teil der Jungs, darunter auch der Discjockey mit geschultertem, vorwiegend aus Lautsprechern bestehendem Portable Radio, verstreute sich schütter auf der Straße – das erinnerte an die Affen – und ich musste absteigen, wollte ich nicht geradewegs in die Bass-Woofer köpfeln. Eine Flasche Whisky blitzte auf, dazu ein Lächeln, blankgeputzte Zähne – also doch keine Affen –, zum Glück waren sie sehr lieb, dafür lästig wie ein Sack entlaufener Hundsflöhe. Warum ich denn keinen Whisky tränke und ob das in meinem mother-country – ja, was sei eigentlich mein mothercountry? – nicht üblich sei, und ich müsse doch froh sein, tauschten sie das Wasser – ja, sei das in der Fahrradflasche eigentlich Wasser? – gegen Whisky, Wasser könne ich hier doch überall bekommen, Whisky hingegen nur exklusiv bei ihnen, und ob ich eine Familie habe und wo die eigentlich sei. Es fehlte nicht mehr viel, und sie wären mir ins Gemüt gekrochen. In einer hypnotisierenden Schlangenlinie umfuhr ich den dionysischen Whiskyträger und den Bass-Woofer, eröffnete die Verabschiedung, vollendete sie zugleich, radelte von dannen, der Waldgrenze entgegen. Endlich konnte ich mich wieder an mir und meiner Ausschließlichkeit erfreuen. Allerletzten Endes bleibt einem selbst ohnedies nur man selbst – eben das praktizierte und übte ich hiermit bereits. Spare in der Zeit, dann hast du im Tod.
Ab einer Seehöhe von 3000 Metern wurde es zäh, die Bäume war man endgültig los, dafür hatte man scheußliche Straßenbedingungen. Frisch Aufgeteertes wechselte ab mit unbehauenen, grobschotterigen Straßenabschnitten; in Verbindung mit den häufig auftretenden Engstellen und den selten vorhandenen Ausweichstellen geriet das Ganze zu einer Irrfahrt, einer Odyssee der Königsklasse.
Unweit vor mir klappte ein schäbiger Lastwagen den Kinnladen hoch, die geöffnete Ladeluke bereitete sich vor zur Einverleibung. Ein paar auffällig kräftig geratene Kerle schaufelten weit in der Gegend verstreuten Kies darauf, erreichten dabei eine erstaunliche Entfernung von fünf bis sechs Metern zum Laster, ohne die Wurfladungen zu verringern. Das dürfte genau der Punkt gewesen sein, an dem sich ihr ersprießlich geratener Körperbau zu rechnen begann. Am Rande der Kiesanhäufung hockten schmächtigere Körper und klopften Steine, zertrümmerten sie, fabrizierten den grobflockigen Kies. Allein schon des ungleichen Kräfteverhältnisses der Arbeiter wegen schrie das nach Bewachung: Eine Gruppe schwer bewaffneter Polizisten waren als Wächter um die Männer verteilt, allesamt nicht gerade Zerberusse, sie litten an Langeweile und kehrten das ungehemmt hervor. Die Läufe ihrer geschulterten Gewehre lugten bergwärts, dazu baumelte ihnen noch so manch andere Waffe vom Körper, der somit den Anschein erweckte, zur Gänze – bis auf die Zähne – damit behangen zu sein.
Unvermittelt wurde es flach und es tat sich ein kleines Hochtal auf. Diese topografische Gelegenheit ließ man nicht ungenutzt; jede Menge Verkaufsstände, einfach und schnell – quasi aus dem Stand – auf- und abbaubar, belegt mit Plunder aller Arten, Imbissbuden, Garküchen, die Kaffee, Toast, Thukpa (eine tibetanische Nudelsuppe) anboten – all das gebündelt zu Marhi, dem Namen dieser illustren Ansiedelung. Jede Menge Autos, Leute, Gerüche. In riesigen Kesseln hartgesottene Nahrungsmittel, die das im Dauereinsatz befindliche Speiseöl einigermaßen unbeschadet überstanden zu haben schienen – unrecherchiert, ob auch die Gäste.
Den buhlerischen Sirenen, die hierzulande bunte Frauenkleider wie Saris oder Salwar Kameez trugen – aber auch Turbane und Vollbärte –, entkam ich mit zunehmender Routine, so sehr sie versuchten, mich mit ihrem ewig gleichen Fragen-Gesäusel und Quatsch-Talk zu umgarnen. Zudem konnte ich mich immer geschickter aus den Fotomotiven der paparazziösen Inder mogeln, verschwand darauf zur Gänze, hinterließ gleichsam ein mit der Schere ausgeschnittenes Loch am Foto.
Ich nahm Platz in einem Dhaba und ließ mich vor dem Gewitter, das nach langatmiger Ankündigungsphrase jetzt brachial losplatzte, abschirmen – so weit da überhaupt noch etwas abschirmte, denn bald bildeten sich an der Innenfläche des Zeltdaches Rinnsale, die sich periodisch entluden. Noch dazu hatte es empfindlich abgekühlt.
Oberhalb des Hochtals wanden sich ausladende Kehren den riesigen Steilhang Richtung Rohtang-Pass empor. Darauf haftete eine einzige Kolonne ineinander verkeilter Fahrzeuge, ein Wust aus zahlreichen Farben und verheulten Motoren babylonischen Ausmaßes. Sie erweckten die Vorstellung eines straßen- (nicht turm-) bauenden, dem Berg ans Gebälk wollenden Volkes. Einen beträchtlichen Abschnitt lang wies die Autoschlange in Fahrrichtung nach oben, es folgte eine kurze Unterbrechung, deren Ursache nicht eruierbar war, daran anschließend blickte eine Schlange in die entgegengesetzte Richtung nach unten. Die Straße war vollends verstopft, die Schlange regte sich nicht. Es würde bis in die Nacht hinein andauern, ehe sich die letzten Fahrzeuge entwirrt haben sollten. Anhaltendes Gehupe vermeinte man bald schon der Gebirgs-Arena zugehörig, als sei es ein Teil von ihr wie das befreite, selbstverliebte Plätschern des Baches, welcher dem ewigen Eis und ewigen Stein der Gipfelregionen glimpflich entronnen war.
In einer Talsohle unterhalb der Paßstraße, dem Blechpulk zu Füßen, stand nun auf einem schmalen Wiesenstrich mein Zelt. Der Boden war besonders begehrt bei Kühen und Pferden, sie hatten es sich hier auf 3200 Meter Seehöhe ganz gut eingerichtet – wäre ich nicht gewesen und hätte ihnen ihr Menü verstellt. Es entflammten kleine Grenzstreitigkeiten. Die Tiere entschieden sie vorübergehend für sich, indem ein Pferd auf den Zelteingang zutrottete, eine abstehende Spannleine cuttete, begleitet von einem hellen Pinngg und einem kränklichen Neiiin. Reparaturarbeiten bereits am ersten Tourentag – ganz oben auf jeder Reisewunschliste. Schach beginnt man ja auch nicht gleich mit »Schach!« Ich verschob die Reparatur auf einen späteren Zeitpunkt.
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