Kitabı oku: «Ius Publicum Europaeum», sayfa 2

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2. Leitende Thesen

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Dies sind die Fragen dieses Beitrags. Mit Blick auf den Gegenstand der Verwaltungsrechtswissenschaft will er zeigen, dass das Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht von Hoheitsträgern eine Antwort liefert (II.1.). Für die Ausrichtung der Disziplin, ihr Ethos, schlägt er eine Verwaltungsrechtswissenschaft ex parte civium vor, die an die emanzipatorische Ausrichtung ihrer frühesten Schriften im 19. Jahrhundert anknüpft (II.2.). Bezüglich der Aufgabenstellung propagiert er die Dogmatik als identitätsprägenden Kern, eine Dogmatik allerdings, die interdisziplinär informiert und offen gegenüber anderen rechtswissenschaftlichen Fragestellungen ist (II.3.). Der dritte Teil unterbreitet auf dieser Grundlage einen Vorschlag für die Fortentwicklung des disziplinären Selbstverständnisses (III.), namentlich mittels einer Europäisierung und einer Pluralisierung, jedoch zentriert in dem Faszinosum hoheitlicher Macht.

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Diese Thesen beruhen auf der Annahme, dass die Entfaltung einer Wissenschaft vom europäischen Verwaltungsrecht mit einer Hoffnung, einer Sorge und einem disziplinären Interesse zu erklären ist. Sie beruht erstens auf der Hoffnung, im Europarecht einen Bereich bürokratischer Rationalität zu identifizieren und zu fördern und damit zugleich eine zwischenstaatliche Konzeption dieses Rechts zu überwinden, die dem Recht nur geringen Selbststand (Normativität) lässt. Dies kann sowohl an funktionalistische Ideen anschließen, die auf bürokratisch-expertokratische Verfahren und Routinen setzen, als auch an föderalistische Konzeptionen: Stets geht es darum, den Eigenstand des Integrationsverbands gegenüber den Mitgliedstaaten zu unterstreichen und so einen Herrschaftsträger zu stärken, an dessen Regelungsmacht sich die Zukunft des Kontinents entscheidet.

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Der Forschungsbereich europäisches Verwaltungsrecht ist zweitens der Sorge zu verdanken, dieses supranationale Recht könnte die liberaldemokratische Einbindung und Ausrichtung bürokratischer Herrschaft unterlaufen. Insoweit verschärft die Beobachtung eines europäischen Verwaltungsrechts die Frage nach adäquaten Sicherungen durch Transparenz, Rechtsschutz, materielle und prozedurale Standards und parlamentarische Einbindung. Es gibt einen Argwohn, die europäische öffentliche Verwaltung könnte Aspekte einer geheimen Bürokratie aufweisen, die fern, abgeschottet oder unsensibel Politiken verfolgt, welche die innerstaatliche Ordnung modifizieren, ja umgestalten, und die Bürger entmündigen, ja gängeln.

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Ein dritter Aspekt, der in Deutschland weniger sichtbar ist, liegt in dem disziplinären Interesse, ein neues, wichtiges Forschungsfeld für das eigene Fach zu gewinnen. Über viele Jahrzehnte war die verwaltungsrechtliche von der völkerrechtlichen Forschung weitgehend getrennt. In vielen Staaten, etwa Frankreich, Italien, Österreich, Spanien oder dem Vereinigten Königreich, gibt es eine, wie die Landesberichte zeigen, entsprechende personelle Trennung mit bisweilen scharfen fachlichen Abgrenzungen. Im Zuge der Integration hat nun die Interaktion zwischen gemeinschaftsrechtlichen und nationalen verwaltungsrechtlichen Themen erheblich zugenommen, und entsprechend stellt sich die Frage, welche rechtswissenschaftliche Disziplin hierfür im Kern zuständig ist. Die Begriffsbildung europäisches Verwaltungsrecht erleichtert solche disziplinären „Landnahmen“ zu Lasten der auf Fragen des Überstaatlichen spezialisierten völker- und europarechtlichen Lehrstühle und Einrichtungen. Die Eroberung fremden Territoriums verändert jedoch in aller Regel die Eroberer: Römer, Goten und Quäker richteten sich nach ihren erfolgreichen Landnahmen neu aus.

3. Verwaltungsrechtsvergleichung

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Eine zukunftsträchtige Neuausrichtung des Verwaltungsrechts im europäischen Rechtsraum ist ohne Verwaltungsrechtsvergleichung kaum denkbar. § 39 im zweiten Band dieses Handbuchs, der zusammenfassende Beitrag zur Wissenschaft vom Verfassungsrecht, legt im Detail dar, warum der europäische Rechtsraum einer begleitenden Verfassungsrechtswissenschaft und diese des Rechtsvergleichs bedarf. Dieselben, hier nicht erneut zu entfaltenden Gründe rufen nach einer ebenso ausgerichteten Verwaltungsrechtswissenschaft. Das ergibt sich bereits aus der Abhängigkeit des Verfassungsrechts vom Verwaltungsrecht: Verfassungsrechtliche Vorgaben werden oft erst in verwaltungsrechtlicher Gestalt wirklichkeitsmächtig.[18] Zudem: Ein ius publicum besteht aus einer verfassungsrechtlichen und einer verwaltungsrechtlichen Komponente, denn ohne ein europäisches Verwaltungsrecht bleibt ein ius publicum europaeum unvollständig.

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Ein Recht zur Verwaltung des europäischen Rechtsraums bedarf einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft, die sich aus den mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtswissenschaften speist. Einen guten Zugriff auf diese Wissenschaften bietet das Studium ihres je spezifischen Entwicklungspfades. Daher präsentieren die Beiträge dieses Bandes zum einen die mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtswissenschaften aus einer primär evolutiven Perspektive,[19] zum anderen in einer Reihe von Querschnittsstudien, namentlich zum geistesgeschichtlichen Rahmen (Pierangelo Schiera, § 68), zur Gründerzeit der dogmatischen Wissenschaft (Olivier Jouanjan, § 69), zum Verhältnis der Verwaltungsrechtswissenschaft zu anderen Wissenschaften (Gunnar F. Schuppert, § 70) und zur Geschichte der Verwaltungsrechtsvergleichung (Christoph Schönberger, § 71).[20]

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Eine Verwaltungsrechtswissenschaft für den europäischen Rechtsraum erscheint vielleicht noch dringlicher als eine entsprechende Verfassungsrechtswissenschaft.[21] Das ergibt sich vor allem aus dem Charakter des Unionsrechts. Wenngleich das Verwaltungsrecht der Europäischen Union nur ein Aspekt des europäischen Verwaltungsrechts ist, so ist es doch heute sein dynamisches Zentrum. Der Großteil des Unionsrechts ist ein Recht, das seine Steuerungswirkung erst über die Aktivitäten von Bürokratien, europäischen wie mitgliedstaatlichen, entfaltet: Das Unionsrecht ist überwiegend ein Recht, das Verwaltungen arbeiten lässt.[22] Entsprechend entwickelte sich im Zuge der Überwindung des völkerrechtlichen Paradigmas zunächst eine Wissenschaft, die das Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Verwaltungsrecht und in dieser Perspektive das Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten vergleichend untersuchte;[23] erst danach entstand eine ähnlich ausgerichtete Subdisziplin des europäischen Verfassungsrechts.[24]

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Zahlreiche weitere Gründe lassen sich anführen, warum nicht nur das europäische Verwaltungsrecht insgesamt, sondern auch spezifisch das Unionsverwaltungsrecht einer starken komparativen Komponente bedarf. Viele unionsrechtliche Regelungsmodelle sind nicht originär supranational ersonnen, sondern speisen sich mal aus der einen, mal aus der anderen nationalen Rechtsordnung: Oft ist nur mittels Rechtsvergleichung das Regelungsmodell eines europäischen Rechtsaktes oder die Entscheidung eines europäischen Gerichts zu durchdringen und die angestoßene Transformation des nationalen Rechts zu begreifen.[25] Des Weiteren verlangen viele Bestimmungen des Unionsrechts europäische Begegnung, Austausch und Kooperation sowohl zwischen den mitgliedstaatlichen Verwaltungen als auch zwischen mitgliedstaatlichen und unionalen Stellen. Bedenkt man allein die Zahl der involvierten administrativen Akteure, so wird anschaulich, dass es im europäischen Rechtsraum einen viel dichteren transnationalen verwaltungs- als verfassungsrechtlichen Diskurs gibt.

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Dieser Diskurs erfolgt vor dem Hintergrund der mitgliedstaatlichen verwaltungsrechtswissenschaftlichen Traditionen, die markante Unterschiede aufweisen. So entwickelt sich in Frankreich und Spanien das Verwaltungsrecht als öffentlich-rechtliche Königsdisziplin, in Deutschland hingegen im Kielwasser des Staatsrechts, die polnische Verwaltungsrechtswissenschaft blüht als Teil nationaler Identität sogar im Widerstand gegen Besatzer,[26] die Schweizer Verwaltungsrechtswissenschaft adaptiert die Kategorien des deutschen obrigkeitsstaatlichen Verwaltungsrechts für eine bürgerschaftliche Milizverwaltung.[27] Dies sind nur einige Beispiele für die zahlreichen Unterschiede, die das Selbstverständnis der Akteure ebenso wie ihre wissenschaftlichen Konstrukte bis heute prägen. Hier zeigt sich ein besonders dringliches Anliegen einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft: Ihre allgemeinen Lehren könnten, so wie bislang in den mitgliedstaatlichen Traditionen, den Rahmen bieten, der diesem gemeinsamen Diskurs Begriffe gibt, und vielleicht gar auf die Weltsicht, ja das Ethos der Akteure im Sinne des gemeinsamen Ganzen einwirken.[28] Dies verlangt jedoch ein gemeinsames Verständnis, worum es beim Verwaltungsrecht geht.

Einführung › § 57 Verwaltungsrecht im europäischen Rechtsraum – Perspektiven einer Disziplin › II. Drei Momente disziplinärer Identität

II. Drei Momente disziplinärer Identität
1. Verwaltungsrecht als Sonderrecht von Hoheitsträgern

a) Rückblick

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Die Identität der Verwaltungsrechtswissenschaft ist, wie die Beiträge dieser Bände zeigen, in den meisten Ländern dadurch geprägt, dass sie ihren Gegenstand als ein Sonderrecht aus dem Phänomen der staatlichen Hoheitsgewalt begreift.[29] Der dominierende Ansatz sieht das Verwaltungsrecht als ein Sonderrecht des Staates, genauer: der staatlichen Exekutive. Entsprechend wird die Verwaltungsrechtswissenschaft vor allem in Abgrenzung zu dem auf Gleichordnung ausgerichteten Privatrecht begriffen. Dieses Verständnis ruht auf der alten, bereits im Corpus Iuris angelegten Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht[30] und ist oft mit den Zuständigkeitsbereichen unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten verknüpft. Im europäischen Rechtsraum stellt sich die Frage, ob dieses Verständnis, welches bereits in den staatlichen Rechtsordnungen etwa aufgrund der sog. Privatisierung von Aufgaben und der Verwendung privatrechtlicher Instrumente unter Druck steht,[31] einen Begriff des Unionsverwaltungsrechts tragen kann.

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Einleitend ist festzuhalten: Moderne Hoheitsgewalt ist, wie das englische Beispiel zeigt, nicht auf eine Sonderrechtswissenschaft im traditionellen kontinentaleuropäischen Sinne angewiesen. Das Verständnis des Verwaltungsrechts als staatliches Sonderrecht und das entsprechende Verständnis der Disziplin sind Ausdruck eines spezifischen, keineswegs notwendigen Entwicklungspfades moderner Staatlichkeit. Sabino Cassese skizziert die Entwicklung der staatlichen Verwaltungen in Europa ausgehend von einem englischen und einem französischen Modell. Den französischen Typus kennzeichnet die Ausbildung einer hierarchischen zentralstaatlichen Verwaltung und eines entsprechenden Sonderrechts, mit dem dieser Apparat politische Ziele, genauer: Ziele seiner Spitze, verfolgt. Dieses Sonderrecht suspendiert zugunsten der Staatsverwaltung das allgemein geltende Recht und die Kontrollkompetenz der oft ständisch verhafteten Gerichte. In England hingegen unterbinden die frühe Parlamentarisierung und die „glorreiche“ Revolution von 1688 die Ausbildung einer solchen Bürokratie und eines Sonderrechts des obrigkeitlichen Privilegs.[32] Gewiss, die Royal Prerogatives und die Immunität der Krone sind Jahrhunderte alte Rechtsinstitute, die durchaus Ähnlichkeiten mit dem französischen Sonderrecht aufwiesen und weiterhin aufweisen,[33] sie begründen aber keine wissenschaftliche Disziplin. Selbst die späte wissenschaftliche Grundlegung der englischen Verwaltungsrechtswissenschaft im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfolgt nicht zur Durchsetzung eines zentralstaatlichen Machtanspruchs.[34]

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Das englische Modell übt seit dem 18. Jahrhundert große Strahlkraft aus.[35] In den Staaten des Kontinents, die nicht die Kraft zu einer „glorreichen“ Revolution finden, setzt sich gleichwohl im 17. und 18. Jahrhundert das französische Modell durch. Der Siegeszug der Idee einer hierarchischen zentralstaatlichen Verwaltung wird in dem an Versailles orientierten Schlossbau vieler deutscher Landesherren oder von Monarchen in Spanien, Neapel oder Piemont veranschaulicht. Im Schatten dieses Modells bilden sich staatliche Bürokratien, deren Sonderrecht und, für unseren Zusammenhang besonders bedeutsam, entsprechende akademische Einrichtungen.

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Viele Fürsten richten im Prozess der Staatsbildung Universitäten ein und fördern eine ihren Herrschaftsanspruch stützende Rechtswissenschaft,[36] welche die kontinentaleuropäische Entwicklung einer „kompetenziell ausdifferenzierten, verschriftlichten, tendenziell normierten und bürokratischen sowie zunehmend verwissenschaftlichten Amtsführung“ begleitet.[37] Die Rechtswissenschaft an den fürstlichen Universitäten übernimmt die Sammlung und Ordnung des normativen Materials sowie die Ausbildung entsprechenden Verwaltungspersonals. Neben Dokumentation und Ausbildung tritt die Politikberatung: Professoren produzieren Schriften, welche der obrigkeitlichen Herrschaftsausübung Orientierung geben wollen. Es wird zum Staatszweck, mittels einer fähigen Zentralverwaltung Wirtschaft, Rechtssystem und Alltag der Bürger rational zu organisieren. Obwohl Frankreich das Staatsmodell vorgibt, ist die Wissenschaft des öffentlichen Rechts in Deutschland besonders entwickelt.[38] In diesem Rahmen setzen Kameralismus (Staatswirtschaftslehre) und später Policeyrechtswissenschaft europäische Maßstäbe.[39] Ein Grund hierfür ist die stärkere Verrechtlichung der Politik im föderal organisierten Heiligen Römischen Reich[40] im Vergleich zum absolutistischen Frankreich.

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Die Französische Revolution wird gemeinhin als große Zäsur begriffen.[41] Für das Sonderrecht des Staatsapparats bedeutet sie aber vor allem eine Radikalisierung vorheriger Entwicklungen. Die Französische Revolution und insbesondere Napoleon nehmen, wie Alexis de Tocqueville zeigt, die kontinentaleuropäische Tradition auf und vollenden sie.[42] Napoleon errichtet mit der Verfassung des Jahres VIII (1799) den Conseil d’État, die paradigmatische verwaltungsrechtliche Institution, als wesentliches Instrument seiner Herrschaft.[43] Der Sonderrechtscharakter wird zumeist an dem konsequenten Ausschluss der Kontrolle administrativer Maßnahmen durch die ordentlichen Gerichte fest gemacht. Dies ist aber nur ein Aspekt: Insgesamt verstärkt sich der durch das Sonderrecht organisierte staatliche Zugriff auf die Bevölkerung massiv.

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Die weitere Entwicklung des französischen Sonderrechts prägt die Ausbildung einer eigenen administrativen „Klasse“ mit staatsleitender Funktion, die ein spezifisches Rationalitäts- und Effizienzmodell verfolgt,[44] ähnlich wie später die politische EU-Bürokratie der Kommission. Diese Klasse, geführt durch die Mitglieder des Conseil d’État, verfügt über beträchtliche Autonomie selbst gegenüber der Regierung. Karl Marx wird sie polemisch in ihrem Eigenstand schildern, kann er sie doch nicht mit seiner Gegenüberstellung von Kapital und Arbeit fassen.[45] Die Räte des Staatsrats prägen das Verwaltungsrecht keineswegs nur durch ihre Entscheidungen; sie sind zugleich die Protagonisten der Verwaltungsrechtswissenschaft.[46]

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Die Dritte Republik beseitigt zwar den Autoritarismus des Zweiten Empire, nicht aber das Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht und die Schlüsselstellung des Conseil d’État. In diesem Sinne versteht sich die Bedeutung des Blanco-Urteils des Tribunal des conflits als Gründungsmythos des zeitgenössischen französischen Verwaltungsrechts. Dieses Tribunal,[47] gegründet auf ein neues, republikanisches Gesetz von 1872, bestätigt das Verwaltungsrecht als Sonderrecht in der Verantwortung des Conseil d’État.[48] Als solches erscheint es als paradigmatisch für die Verwaltung eines starken Nationalstaates, dem sich viele Rechtswissenschaftler, nicht nur in Frankreich, verpflichtet fühlen. Angelpunkt des Sonderrechts ist und bleibt der Begriff der puissance publique. Der Versuch von Léon Duguit, den service public als neuen Begriff an die Stelle des Begriffs der puissance public zu setzen, hat in dessen Radikalität noch nicht einmal unter seinen Anhängern Erfolg.[49] Die Demokratisierung der Verwaltung, ja selbst später ihre Konstitutionalisierung mittels allgemeiner (Verfassungs-)Prinzipien und Grundrechte, heben keineswegs den Herrschafts- und Sonderrechtscharakter auf, sondern binden ihn in spezifische Regime ein. Jean Rivero hält 1953 klassisch fest: „[L]a ‚dérogation au droit commun‘ ne se fait pas à sens unique, mais dans les deux directions, opposées, du plus et du moins“.[50]

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Es gibt nirgends im europäischen Rechtsraum eine Verwaltungsrechtswissenschaft, die ihre Gründungsgeschichte ohne Blick auf dieses französische Verwaltungsrecht erzählt. Sabino Cassese formuliert prägnant: „Paris kommt für das Verwaltungsrecht die Rolle zu, die Rom für das Privatrecht innehat“,[51] was die fundamentale Bedeutung der Verwaltungsrechtsvergleichung belegt.[52] Allerdings führt diese keineswegs zu einer simplen Übernahme des zeitgenössischen französischen Systems, so dass die französische Verwaltungsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts kurzum als gemeinsame Grundlage einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft begriffen werden könnte. Dies zeigen eindrücklich die deutsche und die englische Rezeption, die für den europäischen Rechtsraum besonders bedeutsam sind, weil die deutsche, die englische und die französische verwaltungsrechtliche Tradition über besondere Prägekraft verfügen.[53]

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Sowohl das deutsche wie das englische Interesse gelten dem Sonderrechtscharakter des französischen Verwaltungsrechts. Dabei ist bemerkenswert, dass sich die deutschen und englischen Autoren am Ende des 19. Jahrhunderts weniger auf das ihnen zeitgenössische französische Verwaltungsrecht der Dritten Republik beziehen, sondern auf das des autoritär geprägten Zweiten Empire. Dies erleichtert es Albert Venn Dicey, die illiberalen Züge des droit administratif herauszustreichen und für das freiheitliche England als unpassend zu verwerfen.[54] Mancher britische Vorbehalt gegen das Unionsrecht, das, wie sogleich zu zeigen ist, Elemente eines Sonderrechts aufweist, mag dieser Tradition geschuldet sein. Otto Mayer hingegen kann mittels seiner Bezugnahme auf das französische Verwaltungsrecht des Zweiten Empire dem deutschen Verwaltungsrecht eine prononciert herrschaftliche Komponente geben.[55] Dieser deutsche wissenschaftliche Ansatz, der das Verwaltungsrecht als Sonderrecht auf den Lehren des deutschen Staatsrechts und der deutschen Privatrechtswissenschaft aufbaut, hat in vielen europäischen Rechtsordnungen großen Einfluss.[56]

b) Unionsverwaltungsrecht als Sonderrecht

aa) Sonderrechtscharakter des Integrationsrechts insgesamt?

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Eine Betrachtung der Entwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts im Lichte der Frühzeit des staatlichen Verwaltungsrechts fördert bemerkenswerte Parallelen zu Tage. Diese Parallelen zeigen, wie problematisch die legitimationserheischende Qualifizierung des Gemeinschaftsrechts als ein neues ius commune[57] sowie ein ähnlich ausgerichtetes verfassungsrechtliches Narrativ der Gemeinschaft[58] sind. Das herrschaftsorientierte Verständnis des Verwaltungsrechts als Sonderrecht der Exekutive[59] bietet ein alternatives und deutlich kritischeres Deutungsmuster zum Verständnis der unionalen Rechtsschicht im europäischen Rechtsraum, zunächst einmal als ein Sonderrecht der europäischen Integration insgesamt. Eine enge Verbindung zum französischen Recht besteht durchaus: Erinnert sei nur an die paradigmatische Rolle des Conseil d’État für den Europäischen Gerichtshof sowie an die jahrzehntelange französische Führung der europäischen Entwicklung.[60]

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Das Integrationsrecht schließt in den Mitgliedstaaten die Anwendung des allgemein anzuwendenden (sprich: mitgliedstaatlichen) Rechts aus.[61] Der Zugriff der gemeinen (mitgliedstaatlichen) Gerichte auf dieses neue Recht ist eng beschnitten. Nach Art. 274 AEUV bleiben zwar die Zuständigkeiten der nationalen Gerichte in Streitsachen, bei denen die Gemeinschaft (nunmehr Union) Partei ist, unberührt, soweit der Vertrag keine Zuständigkeit des Gerichtshofs begründet. Die Auffangzuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte für das „allgemeine Recht“ erfasst jedoch allein den Bereich der privatrechtlichen Rechtsbeziehungen,[62] lässt also Anklänge an das erkennen, was im Absolutismus unter dem Fiskusbegriff vor die Gerichte gebracht werden konnte.[63]

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Große Teile des Gemeinschafts- und bis heute des Unionsrechts sind ein administratives Steuerungsrecht, über dessen Rechtmäßigkeit allein Einrichtungen des neuen Hoheitsträgers entscheiden können. Dieses Monopol ist in den Verträgen nicht ausdrücklich niedergeschrieben, sondern wurde seitens des EuGH eingeführt und durch Hinweis auf die Notwendigkeit eines einheitlichen Rechtsraums gerechtfertigt.[64] Zudem hat der EuGH dem Interesse der Durchsetzung des neuen Rechts und des Gelingens des Integrationsprozesses, zumindest bis in die nahe Vergangenheit, eine hohe Präferenz zugemessen.[65] In dieser Perspektive ähnelt das Gemeinschaftsrecht weniger einem neuen ius commune denn einem neuen Sonderrecht, mit dem ein gubernativ-administrativer „Komplex“ gesellschaftliche Transformation im Lichte einer neuen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Einheit betreibt; es bestehen so durchaus Parallelen zur Staatsbildung der Neuzeit, welche die Beiträge in IPE III schildern.

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Im akademischen Bereich zeigen sich ebenso Parallelen. So wie die Fürsten der Neuzeit inspirieren und unterstützen die europäischen Institutionen kongeniale akademische Einrichtungen. Das Collège d’Europe mit Standorten in Brügge und Natolin bildet die vielleicht wichtigste wissenschaftliche Ausbildungsstätte für den europäischen Beamtennachwuchs. Das Europäische Hochschulinstitut in Florenz wurde ebenfalls in Ausrichtung auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet.[66] Bedeutsam für die wissenschaftliche Begleitung der Entfaltung des europäischen Rechts sind zudem die Jean-Monnet-Lehrstühle an staatlichen Universitäten sowie die Forschungsfinanzierung aus Mitteln des EU-Haushalts.

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Wenn das Integrationsrecht also deutliche Momente eines Sonderrechts aufweist, so ist doch auf die Grenzen dieser Parallelisierung hinzuweisen. Sie hat Erkenntniswert vor allem für die Vergangenheit, für den Entwicklungspfad des Unionsrechts. Das Verständnis des Gemeinschaftsrechts insgesamt als ein bürokratisches Sonderrecht büßt in dem Maße an Überzeugungskraft ein, in dem sich der administrative Zweckverband Hans Peter Ipsens[67] demokratisiert und parlamentarisiert. Für den europäischen Rechtsschutz ist festzuhalten, dass über die Jahre der Zugang zum EuGH erleichtert und Asymmetrien in dessen Beurteilungen mitgliedstaatlichen und europäischen Rechts abgebaut wurden.[68] Zudem nehmen in den meisten Mitgliedstaaten die Höchstgerichte eine Kompetenz für sich in Anspruch, unionale Akte an verfassungsrechtlichen Maßstäben zu messen und im Extremfall unangewendet zu lassen.[69]

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Mit Blick auf die wissenschaftliche Disziplinenbildung ist festzuhalten, dass das Fach Europarecht, das die gesamte Rechtsentwicklung in der Europäischen Union begleitet und die Disziplin dieses Sonderrechts sein könnte, massiven Erosionsprozessen unterliegt. Anders als noch vor 20 Jahren kann ein Wissenschaftler heute kaum noch die gesamte europäische Rechtsentwicklung im Blick haben. Vielmehr kommt es zu einer disziplinären Auffächerung, und zwar entlang der etablierten mitgliedstaatlichen Disziplinen: So verfestigen sich zunehmend spezifische akademische Fächer zum europäischen Privatrecht, europäischen Strafrecht, europäischen Verfassungsrecht und eben Unionsverwaltungsrecht, Letzteres bestehend aus dem Recht der EU-Eigenverwaltung sowie den unionsrechtlichen Vorgaben für die mitgliedstaatlichen Verwaltungen (auch als Gemeinschaftsverwaltungsrecht bezeichnet).[70]

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