Kitabı oku: «Das seltsame Leben der Scarlett Ostermann»

Yazı tipi:

Alexa Rudolph

Das seltsame Leben der Scarlett Ostermann

Roman


Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

1. digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH

© 2013 Verlag Kern

Autor: Alexa Rudolph

© Inhaltliche Rechte beim Autor

Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de

Bildquelle Cover: Fotolia, © lassedesignen

Portrait der Autorin, 2013: Fotostudio Stock-Müller, Freiburg

ISBN: 9783944224-763

ISBN E-Book: 9783944224-947

1. digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH

www.verlag-kern.de

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Dies ist eine erzählte Geschichte, die keine Entsprechung in der Realität hat. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist deshalb zufällig und widerspräche den fiktionalen Absichten der Autorin.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

April 1974

Sommer 2011

Zypressenmann

Oskar von Hofer

Eine Nacht wie diese

Einladung

Das Gold Siziliens

Die Stimme

Adieu

Ein neues Gewand

Ruhpold

Gruß vom toten Marat

Die Einsamkeitsbestie

Möwengesang

Über die Autorin

Für Beate

April 1974

Dass er lächelt, kommt selten vor. Doch jetzt steht er in der Diele, bindet wie jeden Morgen seine Krawatte und meint, dass heute ein sehr wichtiger Tag für mich sei. Ich sehe sein Lächeln im Spiegel.

Der fünfte April neunzehnhundertvierundsiebzig! Merke Dir das Datum gut, sagt Paps.

Dann sagt er noch etwas, aber ich bin schon aus der Tür.

Gleich 11.00 Uhr.

Blumensträuße, eingerollt in Glitzerpapier, stecken in Iselins Putzeimer, sehen aus wie Trompeten und stehen auf dem Konzertflügel. Der Parkettboden ist frisch geölt, die Wände der Aula gestrichen.

„Eines Menschen Zeit“, „Der Fall“, „Göttliche Komödie“, „Doktor Faustus“ und andere Buchgeschenke, liegen auf dem kleinen Tisch neben den Zeugnissen. Darüber das Porträt des Dichters Johann Peter Hebel, dem unsere Schule ihren Namen zu verdanken hat.

Direktor Albrecht blättert in seinen Merkzetteln, hebt den Blick, sucht unsere Aufmerksamkeit. Albrecht wirkt angespannt, Furchen sind ihm in die Stirn gestanzt, drei waagerechte und eine senkrechte; die Goldrandbrille spiegelt. Auch heute trägt der Mann wieder seinen mausgrauen Anzug mit den weiten Hosenbeinen; ebenso den schwarzen Rolli. Albrecht formuliert und formuliert, kommt nicht vom Fleck, an seinen Stimmbändern zerrt Nervosität, enthusiastisch rudert sein linker Arm, der Zeigefinger fuchtelt. Unser Direx redet über die politisch schwierige Zeit; er mahnt uns. Doch wir hören kaum hin, rutschen auf unseren Stühlen. Ich habe einen Platz an der Fensterseite erwischt, kann hinausschauen und den ockerfarbenen Feldweg sehen, der sich durchs Braungrün der Ebene schlängelt und im Wäldchen verschwindet.

„Liebeswäldchen“ haben Ehemalige den Forst getauft. Alle, außer mir, waren schon einmal dort. Glaub‘ ich jedenfalls. Die Pappel im Schulhof gibt sich noch immer lustlos, ihre Äste und Knospen sind kaum mehr als Striche und schwarze Punkte.

Aber auch im nächsten Jahr werden wir sprießen, wenn du längst über alle Berge bist, hörte ich sie flüstern, als ich an ihnen vorbei rannte.

Vor einer Woche hat es noch einmal geschneit. Übermütig klatschten wir Schneematsch ans Schulhaus und bekamen prompt Ärger mit Hausmeister Iselin, der einen schlechten Tag hatte.

Iselin gestand uns einmal, bei Wetterwechsel habe er Phantomschmerzen, sein rechtes Bein sei in Russland geblieben. Neunzehnhundertvierundvierzig sei das gewesen; und er damals neunzehn. Kameraden hätten ihn in einen Sanitätstransporter gestopft, später mit dem Flugzeug, die „gute alte Tante Ju“ hat er den Flieger genannt, in die Heimat geflogen.

Wir kennen Iselins Kriegsgeschichten, er hat sie uns oft genug erzählt. Jedes Mal ist er von Neuem bewegt, schluckt, dass man seinen Adamsapfel hüpfen sieht, und die Tränen kommen ihm. Obwohl dreißig Jahre her, ich glaube, Iselin weiß noch jedes Detail.

Zu Hause wird über das Dritte Reich, Naziregime und Kriegsgräuel nie gesprochen. Auch Paps war in Russland und ist im Dezember neunzehnhundertzweiundvierzig, einen Tag vor Heilig Abend, von Bombensplittern getroffen worden. Seither fehlt ihm das rechte Auge. Wenn ich mehr darüber wissen will, macht er eine Handbewegung, die sagt, dass ich gefälligst den Mund halten soll. Oder Paps giftet, dass er nach so vielen Jahren an den ganzen scheußlichen Mist nicht mehr erinnert werden wolle, ich solle ihn bitteschön in Ruhe lassen. Leider träume er manchmal davon.

Weil Paps das künstliche Auge nicht benützt, er bekommt sonst Kopfschmerzen, bindet er sich eine Augenklappe um. Im Badezimmer hängen Reserveklappen, die wippen an Gummibändchen. Als ich noch mit Puppen gespielt habe, habe ich aus den kleinen schwarzen Dingern Hüte genäht.

Kurt Iselin bekam zum letzten Weihnachtsfest, das gleichzeitig sein fünfundzwanzigjähriges Dienstjubiläum am Gymnasium war, von der Schulleitung einen dieser graugrünen Präsentkörbe, nicht zu tief und mit Henkel. Eine Ananas, Corned Beef in der Dose, Spargelspitzen im Glas und Pralinen („Wappenklasse“ stand auf der Schachtel) lagen im mit Sternchenpapier ausgeschlagenen Korb und der stand, für uns alle gut sichtbar, auf einem Klapptischchen im Vorraum der Hausmeisterwohnung.

Gretel Iselin, die Frau mit kräftiger Dauerwelle und wahlweise in himmelblauer oder beiger Nylon-Kittelschürze mit brauner Verzierung, verkauft hier in den Pausen Wecken, Milch und Kakao. Gretel Iselin ist die Oberputzfrau der Schule und kommandiert zwei Gastarbeiterinnen. Zlatka und Milka tragen goldene Spangen im gefärbten Haar. Die jungen Frauen müssen die Fensterflügel im Treppenhaus reinigen; Kurt Iselin hält die Trittleiter. Stundenlang stehen die strohblonden Jugoslawinnen auf den Sprossen, wienern Scheiben, schrubben Fensterrahmen, kichern mit Iselin. Und rennt der durch die Schulflure, dann schwingt er das Prothesenbein mit dem braunen, festen Schuh in einer Art Halbkreis, verlagert dabei das Gewicht auf sein richtiges Bein.

11.18 Uhr

Gott sei Dank, Albrecht packt seine Zettel ein! Preisverleihung und ein Chopin-Walzer, gespielt vom Sohn des Musiklehrers, einem mädchenhaften Knaben, der natürlich Pianist werden wird, werde ich auch noch überstehen. Bei den Preisen bin ich nicht dabei, das ist sowieso klar. Es gibt kein Fach, in dem ich so gut gewesen wäre, dass man mir heute ein Lob ausspricht, oder gar eines der Bücher schenkt. Zugegeben, ich war nie sehr aufmerksam, fantasierte mit dem Zeichenstift herum und war froh, dass mir niemand hinter die Stirn schaute, denn dort versteckten sich Schnittmuster und Strukturen anderer Art.

Wie ein Hase habe ich Haken geschlagen, habe mir das Angebot unserer Ausbildungsstätte voller Skepsis angeschaut und mich geweigert, an jeder zusätzlichen Lehrveranstaltung teilzunehmen. Einer meiner Lehrer nannte mich versponnen, ein anderer verspielt, ein dritter meinte sogar, ich sei viel zu grün hinter den Ohren, ich hätte noch keine Reife und solle wiederholen. Ich wollte aber nicht wiederholen, dachte an die kostbare Zeit, die ich verlieren würde und tat so, als würde ich mich anstrengen. Ich war außerdem stolz, dass ich von Anfang an die jüngste in unserer Klasse war. Paps meinte, ich sei einfach zu faul, dabei hätte ich doch Verstand für zwei.

Eine Freundin, Mittelscheitel, schulterlanges Haar mit Innenrolle, knielanges Karo-Kleid und weißer, spitzer Kragen, schmaler Gürtel, Lederbolero, pufft mich in die Seite, flüstert: Mach schon, du bist dran!

Entschlossen gehe auch ich zu unserer Klassenlehrerin und nehme mein Zeugnis entgegen.

Danke!

Da ist er, der schwarze, kreisrunde Stempel, der vor meinen Augen zu tanzen beginnt! Die Doppeltür der Aula springt auf, schlägt gegen die Wand. Alle drängeln.

Im Treppenhaus steht Rick und es ist klar, dass er auf mich wartet.

Meine Freundinnen tuscheln. Recht so, sie sollen glotzen und sich die Mäuler zerreißen. Alle haben längst Erfahrungen mit Jungs, nehmen die Pille und sprechen von freier Liebe.

Rick und ich, wir schreiben! Ein dickes Päckchen Briefe liegt unter meinem Kopfkissen.

Er packt meine Hand, wir stürmen die Treppen abwärts, springen beinahe synchron. Er reißt das Portal auf. Wir überqueren die Straße, lassen die Pappel links liegen, laufen zum Parkplatz, fallen in sein Auto, das in der Sonne steht. Kunststoffpolster kleben warm an meinem Hintern und Ricks Lippen auf meinem Hals, wir umarmen uns, wir halten uns fest. Ich mag seinen Geruch; kein Rasierwasser, kein Deo, keine Seife, Rick riecht nach Haut und Leben.

Er sagt: Ich muss mit deinem alten Herrn reden. Und ich kichere: Mit Paps?

Er lacht: Genau. Du bist so entsetzlich jung, aber ich will dich!

Entrüstet sage ich: Ich bin achtzehn.

11.45 Uhr

Er nimmt ein kleines Päckchen aus dem Handschuhfach und legt es in meinen Schoß: Veilchenblaues Geschenkpapier mit Punkten, ein Goldschnürchen zu einer Schleife gebunden, ein ovaler Aufkleber, darauf in verschnörkelter Schrift Juwelier Kurz, Zürich, Bahnhofstraße. Ich ziehe am Fädchen. Er steckt den Schlüssel ins Zündschloss, wir hüpfen ein Stück, dann passiert nichts mehr. Er steigt aus, läuft hinter den Wagen, öffnet die Motorhaube.

Ich halte das blaue Döschen in beiden Händen, beginne vorsichtig Knoten und Papier zu lösen.

Der Motordeckel klappt herunter, der Käfer geht in die Knie. Lachend hechtet mein Held zurück hinters Lenkrad, ruft: Machs auf, nun mach doch schon!

Im Auto ist es still. Nur der Motor, den Rick nun nicht mehr abstellen darf, rattert zuversichtlich, hört sich an wie: Unterwegsunterwegsunterwegs …

Wir fädeln uns in den Mittagsverkehr der lebhaften Kleinstadt. Die Hauptstraße ist eng, und wie immer um diese Zeit, verstopft. Die meisten Leute ignorieren den nagelneuen Zebrastreifen, rennen über die Fahrbahn, schleppen ihre Einkäufe in Taschen und Tüten, ein Pulk johlender Schüler auf Fahrrädern macht sich breit, es gibt kein Vorbeikommen; Mofas schlenkern kreuz und quer, Lastwagen parken in der zweiten Reihe. Ein Lieferwagen der Glaserei Fricker ist unterwegs und transportiert Fensterscheiben; die Gläser sind mit Gurten an einem Metallgestell befestigt. Fritz, der Sohn vom Glasermeister wurde mit der mittleren Reife vom Gymnasium abgemeldet und in die Firma seines Vaters gesteckt, geht mir durch den Kopf, und dass Fritz jetzt jeden Morgen, noch vor sieben Uhr, mit zur Baustelle oder in die Werkstatt muss.

Vor der Metzgerei mit dem Porzellanschwein und den goldenen Wurstbüchsen im Schaufenster wartet ein Pudel. Überhaupt laufen heute einige Hunde durch die Stadt, zerren an ihren Leinen oder lassen sich ziehen. Einen zweiten Metzger gibt es gegenüber, hier sind Schwarzwälder Schinken und Landjäger ausgestellt. Ich mag Landjäger, aber nur, wenn sie hart und gut getrocknet sind, nicht die weichen, die an den Zähnen kleben.

Eissalon Venezia ist noch bis Mitte des Monats geschlossen, danach herrscht da wieder Hochbetrieb; Spaghetti-Eis ist am beliebtesten, auch die Waldmeister-Nuss-Kombination mit Papierschirmchen. Nach dem Venezia kommt Modehaus Fuchs mit neu dekorierten Vitrinen, grün und gelb dominieren. Adolf Gutmann, der Pächter vom Totto-Lotto Laden ordnet den Zeitungsständer, rückt ihn vom Eingang weg und grüßt die Frau vom Kulturamt, die noch immer Trauer um ihre Tochter trägt und müde zurücknickt. Lydia ist vor zwei Jahren im Schwimmbad ertrunken. Alle Schüler unserer Klasse gingen zur Beerdigung. Wir brachten Blumen mit und warfen sie in die Grube, trafen Lydias weißen Sarg. Ich stellte mir vor, wie Lydia in diesem Kasten liegt und uns alle beobachtet.

Kurze Zeit später mussten wir erneut zum Friedhof, der Sohn des Schulpfarrers hatte sich aus Angst vor Prügel aus dem Fenster gestürzt. Frank hatte das Klassenziel nicht erreicht. Ein paar Tage später wurden im Pfarrhaus die Scheiben eingeschlagen und das Garagentor beschmiert. Autoritäre Sau, stand da. Ein Polizist kam auf dem Fahrrad in die Schule. Er musste die Schüler befragen. Man sah ihm an, wie unangenehm es ihm war.

Endlich flutscht der Verkehr, das Durcheinander hat sich aufgelöst. Rechter Hand kommen jetzt nur noch die Tankstelle und die kürzlich renovierte Zahnarzt-Praxis. Die drei Folterzimmer zur Straßenseite sind hinter Gardinen versteckt. Dort bin ich auch schon gesessen.

Ich stochere mit der Zunge in einem Löchlein, schaue Rick von der Seite an. Jetzt gleich musst du abbiegen, murmle ich. Kurz darauf tickt der Blinker.

Rick saugt an einem Zigarillo, er hat das Seitenfenster aufgedreht und seinen Ellenbogen bequem gelegt, er wendet das Gesicht zu mir hin und deutet mit dem Kinn auf das Geschenk in meiner Hand, er sagt: Nun steck ihn endlich an, er müsste passen!

Ich streife den Goldring mit dem blauen Steinchen über und starre auf meinen Finger.

Wie der von Alma, denke ich. Toll, murmle ich.

12.05 Uhr

Paps verfolgt vom Balkon aus, wie wir auf dem schlauchförmigen Platz vor seiner Garage einparken; seine Hände und Arme machen kreisende Bewegungen, so, als stünde er auf einem Rollfeld und müsse einen Flieger einweisen.

Jetzt läuft er gleich zur Tür und drückt auf den Öffner, denke ich. Ich sehe schon alles vor mir: Die Stufen, den Fußabstreifer mit der Schildkröte, den hölzernen Handlauf, die Rauheit der Wände, das Treppenhausfenster umhüllt von Gardinen und davor Alpenveilchen in Übertöpfen aus Keramik; ich kenne auch den Geruch von Feuchtaufgewischt. Alma hat garantiert noch rasch die Treppenstufen sauber gemacht. Paps küsst meine Stirn, umarmt mich, schaut mir über die Schulter und sieht Rick, der die Schultasche trägt.

Gleich wird Paps sagen: Das ist aber nett, dass wir Sie kennenlernen dürfen! Schon sagt er es und reicht Rick die Hand. Rick antwortet: Richard Storm, angenehm.

Alma ruft aus der Küche: Moment, ich komme gleich!

Meine Mutter nenne ich seit ein paar Monaten beim Vornamen, weil ich das zeitgemäßer finde. Also Alma. Paps hat sich allerdings verbeten, dass ich ihn Werner nenne. Ja doch, denke ich, einverstanden! Werner klingt viel zu softig und das ist Paps wirklich nicht.

Alma schleppt einen Stapel Teller und Besteck. Sie ist beim Friseur gewesen, ihr Haar steht steif vom Kopf ab und riecht nach Haarspray der Marke Taft. Sie hat das dunkelgrüne Hemdblusenkleid angezogen und eine Brosche am Revers. Es ist Alma ins Gesicht geschrieben, was sie sagen wird: Mittagessen ist fertig, wascht bitte eure Hände!

Sie sagt: Scarlett, zeig deinem Freund das Gäste-WC!

Rick lacht, als habe er eine zu dicke Zunge. Ich lotse ihn zur WC-Türe. Paps wurstelt im Wohnzimmer herum, versucht eine Flasche Sekt zu öffnen. Ich beobachte ihn im Flurspiegel, wie er vier Gläser füllt. Als Einäugiger hat er damit immer ein Problem und Alma hasst es, wenn er etwas daneben schüttet.

Dann wasche auch ich mir die Hände. Den Ring streife ich ab, schiebe ihn in meine Jackentasche. Rick wartet im dunklen Flur, geht auf und ab, betrachtet Paps‘ Lieblingsbild „Schnee im Schwarzwald“ von Hermann Dischler, auf das ein spitzes Lämpchen gerichtet ist, in dessen Lichtkegel die weißen Hügel glitzern.

Auf das Gemälde deutend, flüstert er: Habt ihr noch mehr davon?

Ich meine Spott zu hören und zeige auf Paps‘ Zimmer: Später, wenn‘s dich interessiert!

Ich schreite an Ricks Arm ins Wohnzimmer. Unser Hereinkommen hat etwas Dramatisches.

Prompt ruft Paps: Herzliches, allerherzlichstes Willkommen!

Ich spüre Übelkeit. Wen meint er? Mich, Scarlett Rosalinde Fortuna Ostermann, die gerade mit Ach und Krach das Abitur bestanden hat, oder Rick, den ich heute zum ersten Mal mitbringe? Oder uns beide zusammen? Wenn Paps übertreibt, wirkt er immer ein bisschen peinlich.

Alma erklärt rasch, der Schweinebraten sei fertig.

Wir stoßen an, die Gläser klingen fein und teuer, der Sekt leuchtet kupfergolden; Almas Augen röten sich. Sie nimmt etwas vom Wohnzimmerschrank, gibt es Paps und sagt mit dünner Stimme: Hier, für unsere Tochter!

Paps reicht mir ein Schächtelchen in Blumenpapier.

Ich pule den doppelten Knoten auf. Paps schlürft Sekt, setzt sein Jetzt-will-ich‘s-aber-genau-wissen-Gesicht auf, holt Luft und wendet sich an Rick: Und? Sie studieren noch? Rick klingt entrüstet: Aber nein! Ich bin längst fertig. Habe Sprachwissenschaften und …

Aha!, macht Paps.

Alma meint: Oh, wie interessant!

Ich habe inzwischen mein Geschenk von der Verpackung befreit. Ein Kistchen mit rotem Lederbezug kommt zum Vorschein.

Paps drängt: Kind, mach auf!

Weiße Seide schimmert, eine Perlenkette aalt sich in der Vertiefung.

Ich rufe: Genau wie Almas Kette! Das ist doch kein Zufall, oder?

Ich sehe den Stolz in den Gesichtern meiner Eltern. Alma und ich gehen kurz darauf in die Küche.

Alma flüstert: Der ist doch mindestens zehn Jahre älter als du, oder?

Zwölf, sage ich. Ich senke jetzt ebenfalls die Stimme: Hast du seine Augen gesehen?

Alma versucht, einen heißen Deckel anzufassen, findet wie immer den Topflappen nicht.

Seine Augen? Ganz normal, nett, sagt sie.

Alma will wissen, was man denn unter Sprachwissenschaften verstehe.

Weiß ich auch nicht so genau, hat was mit Geschichte und Struktur von Sprache zu tun, glaube ich, aber frag‘ Paps, sage ich.

Sie schüttet Bratensaft in die Sauciere, klärt mich durch den Dampf hindurch auf: Paps geht es heute nicht so gut; seine elende Migräne! Er hat schon nach dem Aufstehen mit mir gestritten. Dabei hat er sich auf den heutigen Tag gefreut, wegen dir! Na, du weißt ja, wie er so ist. Drei Tabletten hat er auf einmal genommen; ich befürchte, es ist doch etwas in seinem Kopf zurückgeblieben, vermutete das immer schon. Aber er lässt sich nicht untersuchen, kein Vertrauen der Mann, zu niemandem. Dein Paps ist ein schwieriger Fall!

Ich kichere: Vielleicht steckt noch Feindes Kugel … Alma entrüstet: Scarlett, darüber macht man keine Witze.

Der Braten plumpst auf die Platte. Alma legt Gabel und Messer dazu und mahnt: Pass auf, dass nichts herunter fällt!

Das Fleisch ist butterzart, leicht durchwachsen und hat eine Kruste. Und die Kartoffelklöße sind wie immer von Hand gemacht; die Salatschüssel aus weißem Porzellan mit Zierrand, groß wie ein kleines Handwaschbecken, steht bei Paps. Er ist der Salatverteiler. Rick kostet vom Rotwein und Alma zieht ihre Serviette aus dem breiten Silberring. Eine Weile ist es mucksmäuschenstill. Alma, Paps und Rick sitzen stocksteif. Sorry, bin gleich zurück, sage ich.

12.45 Uhr

Die Tür zu meinem Zimmer ist nur angelehnt. Auf dem Bett, über dem Daunenplumeau, liegt die cremeweiße Tagesdecke, an der Alma und ich eine Ewigkeit gehäkelt haben. Da liegt sie, brav und faltenfrei; Alma hat heute mein Bett gemacht. Am Kleiderschrank hängt ein karminrotes Kleid, der Saum ist noch mit Nadeln hochgesteckt. Um es fertig zu nähen, hatte ich keine Zeit mehr. Schulbücher und Hefte, kreuz und quer ausgebreitet und unwichtig geworden, bedecken den aufklappbaren Schreibtisch. Farbstifte sind mitsamt Blechdose umgefallen. An den Wänden stecken von Reißzwecken durchlöcherte Entwurfszeichnungen für Kleider, Hosen, Mäntel und Hüte.

Ich gehe ins Bad, lasse Wasser rauschen und schaue in den Spiegel. Meine Augenfarbe, na ja, langweiliges Grau und ein paar grüne Pünktchen. Blau wäre schöner, denke ich.

Die Wimpern sind wie immer dick getuscht und etwas verklebt; Sommersprossen wildern über Stirn, Nase und Wangen.

Und meine Brauen, was für ein Gestrüpp! Auf meinem Kopf türmen sich Locken in fadestem Aschblond. Sobald wie möglich werde ich die Dinger kürzen und färben!

Paps hat die Perlen um meinen Hals gelegt; da hängen sie nun! Meine Schultern stecken in den gepolsterten Ärmeln einer Kurzjacke, die ich aus Streifengardinen geschnitten, in die ich im Rücken ein Stück Schottenkaro eingesetzt habe. Der Kragen steht etwas zu weit ab. Ich ziehe die Jacke aus und schlüpfe verkehrt herum wieder hinein, die talergroßen, flachen Knöpfe schließen nun hinten. Die Kette bleibt verdeckt, dafür prangt auf der Brust die Karo-Raute. Ich fahre mit den Fingern durchs Haar, massiere die Lippen; ich stelle das Wasser ab.

Draußen klingelt es. Außer mir scheint es niemand zu hören. Ein schmächtiger Junge streckt mir die Tageszeitung entgegen: Mit Dank‘schön zurück, soll ich vom Vater ausrichten! Ich nehme die Zeitung und will wissen: Mäxchen, wann kommst du denn zur Schule?

Das Kind antwortet: Bald …, weißt‘ Scarlett, i hab‘ gar kei Luscht!

Ich tröste ihn: Das kann ich verstehen, ich hatte auch nie Lust, aber alle Kinder müssen in die Schule …, du wirst tolle neue Freunde finden.

Wie blöd‘ ich daherrede, denke ich.

Ich streiche dem Jungen übers Haar. Mäxchen erschrickt, bleibt aber stehen. Er scheint auf etwas zu warten.

Alma ruft: Wenn es Max ist, dann gib ihm ein Bonbon, die Tüte liegt in der Küche!

Der Junge grapscht sein Bonbon und rennt die Treppe herunter.

Auf der ersten Seite der Tageszeitung steht: Jerusalem! Golda Meir gibt ihren endgültigen Rücktritt bekannt.

Aus dem Esszimmer ruft Paps: Scarlett, wo bleibst du denn schon wieder?

13.05 Uhr

Alma sagt gerade mit heller Stimme: Nehmen Sie nur tüchtig, Sie sind ja so schlank, Sie können es sich leisten. Freut mich, dass es Ihnen schmeckt!

Auf Ricks Teller liegen drei bleiche, unberührte Knödel. Paps betrachtet mich finster: Musst du unbedingt mit diesem komischen Fetzen herumlaufen, gibt‘s nichts Hübscheres im Schrank?

Hat sie selbst genäht, klärt Alma ihn auf.

Ich sortiere die Salatblätter auf meinem Teller und trenne sie von den fein geschnittenen Frühlingszwiebeln. Ich schaue zu Rick, suche seinen Blick.

Wir sitzen hier fest, denke ich. Kenne doch Almas Vorbereitungswut, das kann dauern!

Paps hebt das Glas: Zum Wohl, meine Lieben!

Wir stoßen an. Paps will noch mehr sagen und schenkt Alma ein kleines Nicken. Er tönt: Meine liebste Alma, vielen Dank für das köstliche Essen!

Alma errötet. Rick nickt ebenfalls zustimmend. Es entsteht eine längere Pause.

Paps unterbricht endlich die Stille und bittet: Nun erzählen Sie doch mal! Haben Sie Geschwister?

Rick macht ein Gesicht, als müsse er überlegen. Endlich sagt er: Zwei Brüder, Ribello, vier Jahre jünger als ich, Ribello ist Künstler, demonstriert zurzeit in Berlin; Solidarität mit Chile und so. Für meinen Bruder gibt’s immer einen Grund, um auf die Straße zu gehen. Und Ruhpold, unser Ältester, ich befürchte, der gute Poldi will Lehrer werden.

In Paps‘ und Almas Gesicht arbeitet es. Ich lese darin: Ribello und Ruhpold, heißt man denn so?

Paps schaut zu Alma, die ihr Fleischstück traktiert. Paps bohrt weiter: Und Ihre Eltern?

Kommen aus dem Osten, antwortet Rick mit vollem Mund. Paps meint: Aha! Vermutlich geflohen.

Rick schluckt herunter, murmelt: Hm, Januar neunzehnhundertfünfundvierzig, sie kamen nach wochenlanger Flucht bei Verwandten in München unter und sind geblieben. Ich wurde im Dezember des gleichen Jahres geboren.

Paps ereifert sich: Drei Söhne, Donnerwetter! Für Eltern eine riesige Verantwortung, dass aus jedem etwas Anständiges wird. Rick unterbricht Paps: Wir haben es nicht lange zu Hause ausgehalten. Das mit der Verantwortung haben unsere Eltern ohnehin nicht so genau genommen. Die haben für ihr Geschäft gelebt, wir Geschwister waren die meiste Zeit uns selbst überlassen, Liebe war bei uns nicht angesagt, nein, Eltern hatten wir eigentlich keine!

Paps übergeht den letzten Satz und will wissen, um was für ein Geschäft es sich gehandelt habe. Rick erzählt, dass sein Vater Autohändler gewesen sei und ein kleines Autohaus gehabt habe, dass seine Mutter die Reparaturannahme gemacht habe, obwohl sie zunächst keine Ahnung davon hatte, aber sie habe sich eingearbeitet, und dass seine Eltern ein paar Tage vor seinem siebzehnten Geburtstag bei einem Busunglück in Tirol, es sei nur eine kurze Wochenendreise gewesen, ums Leben gekommen seien.

Schweigen. Paps trinkt aus. Dann will er wissen, ob Rick, Ribello und Ruhpold in der Bundeswehr gedient hätten.

Ich platze heraus: Was soll denn diese saublöde Frage? Das ist doch wirklich unwichtig.

Auf Paps Stirn stehen Schweißtropfen, er antwortet gereizt: Scarlett, dein Vokabular lässt zu wünschen übrig.

Rick erklärt ruhig, dass Ribello verweigert habe und Poldi sei sowieso völlig untauglich. Und er, er habe ein ärztliches Attest wegen …

Paps unterbricht eifrig: Gut, gut, was für ein Glück! Ich bin froh, dass ich nur ein Mädchen habe. Meine Tochter wird die Apotheke übernehmen, nicht wahr Kleines? Er beugt sich zu mir. Es ist zu befürchten, dass Paps das Thema vertiefen wird, ich sehe es ihm an. Alma bekommt auch schon ihren bangen Blick und bittet: Werner, lass uns über etwas anderes reden!

Rick leert sein Glas, tupft sich mit der Serviette den Mund, schiebt den Teller zur Seite und meint, dass wir bald los müssten, weil wir heute Abend noch etwas vorhätten.

Alma ist auf dem Weg zur Küche und redet von einem wahnsinnig leckeren Nachtisch, den wir auf jeden Fall noch probieren müssten.

Paps zu Rick: Scarlett fährt mit? Ja!

Alma stellt giftgrünen Wackelpeter mit Mandeln und Sahnetupfer auf den Esstisch. Ich spiele am Ring in meiner Jackentasche und versuche unterm Tisch, Rick anzustoßen; meine Zehenspitzen reichen nicht herüber, ich komme nur bis zu einem gedrechselten Tischbein. Er müsste mich trotzdem bemerken, aber er reagiert nicht.

Wie gemein er sein kann, denke ich.

Ich sehe Paps‘ Desserteller an mir vorbeischweben, sehe, wie Alma eine Portion Götterspeise vorsichtig aus der Schüssel sticht und in das Glastellerchen fallen lässt. Paps‘ Hand schwebt zurück. Ich erinnere mich an eine Ohrfeige, die ich als Kind bekommen habe. Paps hat mich mit dieser Hand geschlagen und später gemeint, dies sei eine harmlose Backpfeife gewesen und sei zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Ich verabscheue Paps‘ Hand mit dem breiten Uhrarmband. Rick erklärt Paps und Alma, dass wir nach Zürich fahren, er habe Opernkarten für die Carmen, er wolle mir den Abend zum Abitur schenken.

Er sagt: Scarlett hat’s ja vielleicht schon verraten, ich lebe seit ein paar Jahren in der Schweiz, in der Nähe von Zürich. Ich weiß nichts von den Opernkarten und Rick weiß nicht, dass unsere Abiturklasse die Aufführung bereits gesehen hat und dass ich ziemlich enttäuscht war. Außer den Kostümen und Carmens üppigem Haar hat mir nichts gefallen. Die Inszenierung war konventionell und die Stimmen grässlich. Aber mir ist bewusst, dass Rick mich bei sich haben will. Und ich will es auch. Wie sehr haben wir auf diesen Augenblick gewartet!

Alma sagt: Scarlett, du hast doch schon …, und dann bricht sie ab, lächelt, nickt mir zu.

Paps hat das mit dem Opernbesuch zum Glück vergessen und scheint an etwas anderes zu denken, er sagt zu Rick: Unsere Tochter ist noch nicht volljährig. Das Gesetz, Sie verstehen Herr Storm, wie ich das meine?

Rick zu Paps: Selbstverständlich, Ihre Tochter bedeutet mir sehr viel, ich werde auf sie aufpassen – wie ein Vater!

Erleichtert schluckt Paps Wackelpeter. Das stille Übereinkommen der beiden Männer ärgert mich maßlos, ich verkünde mit erstickter Stimme, dass ich keinen Aufpasser brauche und schon gar keinen zweiten Vater. Darauf Paps, mit rotem Kopf und dem Finger drohend: Meine liebe Scarlett, dein Freund gefällt mir, er hat mich verstanden!

Paps begleitet uns zum Auto, er knöpft die doppelreihige, schräg geschnittene Strickjacke zu, er zieht den Bauch ein und steht stramm. Alma winkt vom Balkon, halb versteckt hinter den Blumenkästen mit Primeln; sie schnäuzt in ein Taschentuch. Ich winke auch, verdrücke mich hastig ins Auto.

Rick flüstert: Hoffentlich springt der …

Die letzten Worte gehen im Motorgeräusch unter. Rasch kurble ich die Scheibe auf und schaue zurück, sehe meine Eltern, die noch immer winken, Alma auf dem Holzbalkon und Paps auf dem Parkplatz. Rick stößt den nächsten Gang rein, gibt Gas. Der Motor dreht hoch und ich glaube, es ist der Auspuff, der jetzt klappert.

Rick hat wieder die dicke Wolljacke angezogen, in der ich ihn beim Skilaufen kennengelernt habe. Auf dem Ärmel kriecht ein Zopf, schlängelt vom Handgelenk bis zum Hals. Meine Augen saugen sich an dem melierten Stricktier fest; Rick kann ich jetzt einfach nicht anschauen.

Wieso fahre ich mit ihm davon?

Ich kneife die Augen zu. Als ich sie wieder öffne, biegen wir in die Hauptstraße, fahren soeben an Paps‘ Apotheke vorbei. Manuela, eine von Paps‘ Helferinnen, dekoriert die Schaufenster neu, sie hängt eine übertrieben große Rolle Spalttabletten auf . Ich sollte Rick vielleicht auf die Apotheke aufmerksam machen, überlege ich. Ich tue es nicht, so wie bei der Hinfahrt auch nicht.

Wir stoppen an einer Fußgängerampel. Neben der Ampel hüpft ein Kind wie Mäxchen, der Junge zerrt an der Hand einer Frau, die Mäxchens Mutter ähnelt. Die Frau ist in Weiß gekleidet und schleppt eine Sporttasche, Griffe von Tennisschlägern ragen heraus.

Unser Tennisverein und das Clubhaus sind erst ein Jahr alt. Auch Alma ist Mitglied geworden und engagiert sich. Als Spielerin ist Alma untauglich, sie schlägt jeden Ball ins Netz und rennen kann sie auch nicht. Wer zum Dienst eingetragen wird, macht Platzaufsicht, putzt die Clubküche, mäht Rasen, stellt Sonnenschirme auf, sprengt den Sandplatz und kocht an den Wochenenden für die Turnierteilnehmer. Als aktives Mitglied hat man ständig Arbeitseinheiten für den Verein abzuleisten. Ist man verhindert, aktiv zu sein, müssen fünf Mark in die Vereinskasse gespendet werden, auch von Schülermitgliedern.