Kitabı oku: «Helmut Kohl. Ein Prinzip», sayfa 2

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Die nun folgenden Jahre wurden die schwierigsten überhaupt. Wenige Wochen nach der Bundestagswahl kündigte Franz Josef Strauß die Fraktionsgemeinschaft im Bundestag auf. Es war ein Akt purer Irrationalität, denn ein »Bruderkampf« zwischen CDU und CSU hätte beide Parteien jene Stimmen gekostet, die sich Strauß durch ein eigenes Stück auf der Bonner Bühne holen wollte. Es war letztlich irrelevant, ob es eine »bürgerliche Mehrheit« gab, denn es gab auf jeden Fall eine gegen Franz Josef Strauß. Kohls Entschlossenheit rettete die Einheit. Als die CSU-Abgeordneten um ihre Mehrheiten in Bayern zu fürchten begannen, kehrte Strauß in die »babylonische Gefangenschaft« zurück.

Doch die Unterschiede in der Beurteilung blieben, und dieser Riß verlief mitten durch die CDU. Kohl wußte, daß eine Regierung Wahlen verliert und nicht die Opposition sie gewinnt. Er hielt nichts von oppositioneller Hektik. Er mußte warten, bis Helmut Schmidt und seine Partei sich soweit auseinandergelebt hatten, daß die FDP keinen Partner mehr hatte, erst dann hatte er eine Chance. Strauß und seine innerparteilichen Kritiker sahen die FDP dagegen auf unabsehbare Zeit »historisch« an die SPD gekettet und rüttelten an den Gitterstäben. »Freundliche« Worte über Kohls Führungseigenschaften machten die Runde. Der Abgeordnete Todenhöfer schrieb, im Schlafwagen käme die Union nicht an die Macht, und der Verlierer Barzel bemängelte, daß noch nie ein Kanzler so gemütlich regiert habe wie der jetzige. Zu keiner Zeit hatte Helmut Kohl weniger Freunde als an der Jahreswende 1978 / 79. Man braucht nur die Überschriften damals erschienener Artikel zu lesen und glaubt sich in ein Geisterhaus versetzt: »Kohls Talfahrt – guter Mann ohne Glück« (Welt vom 17. 5. 1979); »Die Ära Kohl geht zu Ende« (Quick vom 7. 6. 1979); »In der CDU wächst die Unzufriedenheit mit Kohl« (FAZ vom 10. 1. 1979); »Zum Verlieren bestellt« (Rudolf Augstein im Spiegel, 3/1979). Der Bonner Korrespondent der Frankfurter Rundschau registrierte damals, daß die Kohl-Postkarten aus der Buchhandlung am Bundeshaus verschwunden waren. Auf seine Nachfrage bekam er die Antwort: »Wir haben ihn aussortiert, denn wir sind immer unserer Zeit voraus.«14 Hinzu kam, daß sich der Oppositionsführer mit dem Kanzler schwertat. Helmut Schmidt war ein begnadeter Schauspieler, der gut ausgeleuchtet die geringen Erfolge einer zerstrittenen Koalition wie Preziosen darbot. Arrogant bis zur Unverschämtheit, wurde der »Weltökonom« doch von den Wählern bewundert, die ihm ihre Interessenvertretung eher zutrauten als dem provinziellen Pfälzer. Zwar war die Republik rheinisch und süddeutsch geprägt, doch Idiom, Habitus und Anspruch des sozialdemokratischen Bundeskanzlers ließen vage Reminiszenzen an Friedrich, Bismarck und Stresemann wach werden. Dieser Mischung war Kohl anfangs nicht gewachsen, in rhetorischen Auseinandersetzungen zog er regelmäßig den kürzeren. Bei Helmut Schmidt war es mehr Schein als Sein, bei seinem Gegenspieler schien, besser gesagt: schimmerte nichts.

Zur Jahreswende versandte Biedenkopf ein Memorandum, in dem er die Trennung von Partei und Fraktionsvorsitz verlangte und letzteren natürlich für sich beanspruchte. Das Papier fand Kohl in der Post, als er aus dem Winterurlaub zurückkehrte, den Inhalt hatte er zuvor schon den Zeitungen entnehmen dürfen. Auf dieses Ereignis anspielend, hat Kohl einmal auf die Frage, warum er nicht längst schon seine Memoiren in Angriff genommen habe, entgegnet: »Lieber nicht, ich müßte zu viel menschlich Unanständiges enthüllen.«15 Die Intrige scheiterte. Wie so oft vorher und nachher hatte Biedenkopf keine Mehrheit in den entscheidenden Gremien und stimmte am Ende selbst gegen den eigenen Vorschlag. Doch die Krise hielt an. Im Frühjahr machte Kohl instinktiv oder wohlüberlegt das einzig Richtige – er zog seinen Anspruch auf die Kanzlerkandidatur zurück und schlug den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht vor. Die Fraktion entschied sich für Franz Josef Strauß, der nun beweisen konnte, was in ihm steckte. Kohl unterstützte den Kandidaten nach Kräften; 44,5 Prozent in der Bundestagswahl 1980 bestätigten allerdings den allgemeinen Befund – die Wähler wollten keinen Bundeskanzler Strauß. Grollend zog sich der Geschlagene nach Bayern zurück. Helmut Kohl hatte die Talsohle durchschritten. Die sozialliberale Koalition ging nur zwei Jahre später zu Ende, und Helmut Kohl wurde – so wie er es immer gewollt hatte – Bundeskanzler einer CDU/ FDP-Regierung. Den Wunsch von Strauß, sofort wählen zu lassen und so die FDP zu vernichten, ignorierte er. Helmut Kohl fürchtete eine absolute Mehrheit, die ihn den Unwägbarkeiten eines Außenministers Strauß ausgeliefert hätte. Auch wußte Kohl, daß spätestens die nächste Bundestagswahl eine absolute Mehrheit wieder relativiert hätte, ohne daß der Union dann ein sicherer Partner zur Verfügung stehen würde. Die Koalitionsverhandlungen gestalteten sich problemlos. Das Bündnis mit der FDP erforderte außenpolitische Kontinuität in der Ost- und Deutschlandpolitik, innenpolitisch wurde das Lambsdorff-Papier, die Scheidungsurkunde der sozialliberalen Koalition, zum Ehevertrag des neuen Bündnisses. Haushaltskonsolidierung, Verringerung der Staatsquote und Begrenzung der Sozialausgaben bestimmten den Neuanfang. Gefahren drohten von der Verratslegende der SPD, die Alfred Dregger die hessischen Landtagswahlen kostete und die geschickt zu einem für Helmut Kohl abträglichen Vergleich mit Helmut Schmidt benutzt wurde. »Jetzt hätten wir endlich einmal einen Bundeskanzler gehabt und nun haben wir Aussicht auf keinen», formulierte Martin Walser für die Intellektuellen, und die Stimmung der »classe politique« der westlichen Demokratien brachte die Sunday Times auf die Formel: »Nach dem großen Bundeskanzler folgt jetzt ein langer.«16 Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 6. 3. 1983, bei der die Union 48,8 Prozent der Stimmen erhielt und die FDP erhalten blieb, demonstrierte, daß die Intellektuellen nicht das Volk sind und daß die Wähler den Grund für den Wechsel der FDP begriffen und gebilligt hatten.

Die neue Legislaturperiode sah einen Bundeskanzler ohne Fortune. Ausgerechnet ein eher konservativer Politiker hatte Schwierigkeiten mit dem Apparat und den Institutionen. Unregelmäßige Kabinettssitzungen und die Unfähigkeit einiger Mitarbeiter des Kanzlers, seine Arbeit sinnvoll mit Hilfe des Apparates zu ordnen, belebten das Wort von der Führungsschwäche neu. Der neue Bundeskanzler war zudem kein Freund der Medien und diese ihm selten gewogen. Skandale und Affären begannen den Horizont zu verdüstern. Die Wörner-Kießling-Affäre war nicht nur ein Beispiel für die Unfähigkeit eines Ministers und die Ungeschicklichkeit des Kanzleramtes, sie offenbarte auch Defizite der »politischen Kultur« des Kanzlers. Daß diese Affäre nach Umfrageergebnissen und nicht nach moralischen Maßstäben entschieden wurde, entfremdete dem Kanzler auch Meinungsführer aus dem konservativen publizistischen Spektrum. Dies setzte sich mit dem Entwurf eines Amnestiegesetzes für unrechtmäßig vereinnahmte Parteispenden fort. Zwar handelte es sich bei der Flick-Affäre um ein Erbe aus sozialliberaler Zeit und eine Verfehlung aller politischen Kräfte gegenüber der Wirtschaft, der man die rechtswidrige Spendenpraxis nahegelegt hatte, die Art des Vorgehens jedoch wurde allein Kohl zur Last gelegt, während die FDP trotz Anklage und Verurteilung ihres Wirtschaftsministers den Eindruck moralischer Läuterung erwecken konnte. Helmut Kohl hatte zu Beginn seiner Kanzlerschaft eine »geistig-moralische Wende« versprochen, nun holte ihn das Echo dieser letztlich substanzlosen Ankündigung ein. Auch mußte er sich in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode mit den Angriffen von Strauß auf seinen Außenminister Genscher herumschlagen, der Kontinuität verkörperte, wo Strauß die Wende einforderte. Reagans nicht ganz freiwilliger Besuch in Bitburg spaltete die öffentliche Meinung in Deutschland und rief erhebliche Irritationen im Ausland hervor. Daß die Bundestagswahlen 1987 keinen Wechsel brachten, hatte die Regierung neben dem anhaltenden wirtschaftlichen Erfolg vor allem der SPD zu verdanken, die noch immer am Schmidt-Syndrom litt und ihren Kanzlerkandidaten Johannes Rau nicht geschlossen unterstützte. Bei dieser Ausgangslage waren 44,3 Prozent für die CDU/CSU mager und lösten sofort einen neuen Streit um Wahlkampfstrategie und Lagerdenken zwischen CDU und CSU aus. Allein die Nachrüstung, die Helmut Schmidt in einen unlösbaren Konflikt mit Fraktion und Partei gestürzt hatte, wurde von der Koalition geschlossen getragen und trotz der größten Massendemonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik auch durchgesetzt. Das Verdienst hieran gebührt in erster Linie Helmut Kohl.

In der zweiten Legislaturperiode verpatzte die Koalition ihre Steuerreform. Richtige Ansätze versanken im Morast einer kleinkarierten Auseinandersetzung um Spitzensteuersatz, Steuerbefreiung für Flugbenzin und die Besteuerung der Nachtzuschläge von Schichtarbeitern. Obwohl die Toren dieser Auseinandersetzung Blüm und Strauß waren, konnte Kohl das Steuertheater nicht beenden, was er mit dem als verhüllte Rücktrittsdrohung mißverstandenen Satz eingestand: »Ich habe es satt, mich zum Affen machen zu lassen, ich lasse mich nicht wie ein Tanzbär an der Leine herumführen.«17 Als er dann noch vor dem Mainzer Untersuchungsausschuß zur Parteispendenaffäre eine objektiv falsche Aussage machte, die von Geißler prompt als »Blackout« interpretiert wurde, und in einem Newsweek-Interview Gorbatschow mit Goebbels verglich, schienen seine Tage als Kanzler und Parteivorsitzender gezählt. Rüdiger Altmann begründete in der Zeit, »weshalb Kohl einem Nachfolger Platz machen sollte».18 Die Unzufriedenheit fand ihren Hebel in der Personalfrage des Generalsekretärs. Kohl und Geißler hatten sich innerlich entfremdet. Geißler verstand sich als geschäftsführender Parteivorsitzender und Hüter der Identität der Partei. Kohl sah seine Stellung als unumschränkter Chef der CDU bedroht. Als Geißler einen Wechsel ins Innenministerium ablehnte, trennte er sich von seinem Generalsekretär. Was sich dann abspielte, verdient die Bezeichnung »Putsch« nicht. Geißler hielt sich für unangreifbar, doch seine Verbündeten wollten Kohl zwar loswerden, aber niemand wollte den ersten Stein werfen. Am Ende kandidierten weder Ernst Albrecht noch Rita Süssmuth, noch Lothar Späth gegen Kohl. Neuer Generalsekretär wurde der Hamburger Volker Rühe. Das Ergebnis dieser mißglückten Schilderhebung war eine fast historisch zu nennende Verklammerung der Partei mit ihrem Vorsitzenden. »Ein Kanzler wie ein Eichenschrank», schrieb Rolf Zundel am 6. 1. 89 in der Zeit, »viele stoßen sich an ihm, doch keiner kann ihn verrücken.« Helmut Kohl war nun die CDU und die »moderne Volkspartei« wieder zum Kanzlerwahlverein mutiert. Im September 1989 glaubte niemand, daß Helmut Kohl noch einmal Wahlen gewinnen könnte, wenige Wochen später bot ihm der Zusammenbruch des Kommunismus die historische Chance, als Kanzler der deutschen Wiedervereinigung in die Geschichte einzugehen, eine Chance, die Kohl klug nutzte, wodurch er erst die Volkskammerwahlen und anschließend die ersten gesamtdeutschen Wahlen für sich entschied.

Helmut Kohl hatte an die deutsche Wiedervereinigung sowenig geglaubt wie alle westdeutschen Politiker, doch er begriff schneller als die meisten, mit der Ausnahme von Brandt, daß die Geschichte diese Richtung einschlug, und es gelang ihm im Dreischritt Währungsunion – Westbindung – Wiedervereinigung die gefährliche Falle eines Wahlzwangs zwischen NATO-Mitgliedschaft und Wiedervereinigung zu vermeiden und das neue Deutschland mehr oder minder im Einklang mit allen seinen Nachbarn zu etablieren, wenngleich die lange hinausgezögerte Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze bei den Polen Irritationen hervorrief. Was außenpolitisch glückte, mißriet allerdings im Inneren. Falsche Analysen, Halbheiten und nicht eingelöste Versprechungen belasten den Einigungsprozeß bis zum heutigen Tage. Stille Freude ist längst lauter Depression gewichen, und die Bundesregierung hat noch immer kein Konzept zur Vollendung der inneren Einheit gefunden. Die Auswahl des falschen Kandidaten, Steffen Heitmann, für das Amt des Bundespräsidenten war auch einer der zahllosen Versuche, die trotz hoher Transferleistungen unzufriedenen Ostdeutschen mit dem Zustand der Dinge zu versöhnen.

Zu Beginn des Jahres 1994 sieht es nicht so aus, als ob Helmut Kohl noch einmal eine regierungsfähige Mehrheit erringen kann, doch zeigt der kurze Abriß seiner Karriere, daß schon oft Nachrufe auf ihn geschrieben wurden, die verfrüht waren – auch diesmal ist ein Comeback nicht ausgeschlossen. Helmut Kohl ist durch eigenes Verdienst und glückliche Umstände zu einer historischen Figur geworden. Er ist wie kein anderer lebender Politiker ein Repräsentant der alten Bundesrepublik an der Schwelle zur neuen. Sein Abgang wäre ein Zeichen dafür, daß eine Epoche unwiderruflich zu Ende ist.

Die alte Ordnung

Es gehört zu den ironischen Kapriolen des Einigungsprozesses, daß so mancher Konservative, der die Bundesrepublik über Jahre gestützt und verteidigt hatte, ihr angesichts der Einigung die Treue brach, wohingegen nicht wenige Linke, die sie zu ihren Lebzeiten als unvollkommen und restaurativ von sich gewiesen hatten, sie im Untergang in ihr Herz schlossen. Den einen war sie eine historische Kümmerexistenz in einer Nische der Weltgeschichte, apolitisch, fremdbestimmt und im Sybaritismus versinkend19, den anderen wurde sie im Vergehen zum Modellfall aufgeklärter Staatlichkeit, eine »civil society« auf dem Weg zur herrschaftsfreien Kommunikation.20 Beide Positionen überzeichnen, und doch enthalten beide mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.

Die Bundesrepublik hatte bei ihrer Gründung im Jahre 1949 Startchancen, die uns erst heute, da sie bedroht scheinen, recht bewußt werden. Schon die räumliche Begrenzung erwies sich als Glücksfall. Das alte Reich mußte den Spannungsbogen zwischen rheinischem Katholizismus und ostpreußischem Pietismus aushalten. Köln verband fast nichts mit Königsberg, die Pfalz nichts mit der Uckermark. Wolf Jobst Siedler hat einmal davon gesprochen, daß man Deutschland in das Weinland im Westen, das Bierland in der Mitte und das Schnapsland im Osten teilen könne, das dann umstandslos in die slawische Wodkawelt übergehe.21 Historischer ausgedrückt kann man davon sprechen, daß die alte Bundesrepublik in ihrem Kern Limesland, also römisches Erbe war, daß die vormalige DDR bis zur Elbe das ottonische Deutschland umfaßte, in dem die mittelalterlichen Kaiser gotische Dome mit römischen Ziegeln gebaut hatten, und daß östlich der Elbe Kolonialland lag, Ostelbien eben. War das Hohenzollernreich evangelisch geprägt, so war die alte Bundesrepublik konfessionell ausgeglichen. Doch da die Stätten deutscher Innerlichkeit – Wittenberg und Naumburg, Eisleben und die Wartburg – aus dem Blickfeld verschwunden waren, prägte das katholische Deutschland den Weststaat stärker als sein evangelisches Element. Es fiel der alten Bundesrepublik folglich auch nicht schwer, sich in die angelsächsische Weltzivilisation einzufügen; denn der Rhein hatte schon immer Teil an der westeuropäischen Entwicklung, an römischem Institutionendenken, an Renaissance, Aufklärung und den Idealen von 1789. Rom, London, Paris, Dublin und Washington sind einander viel näher als jede dieser Städte zu Berlin, Warschau oder Budapest. Der alte Stechlin blickte nach Osten, nach Rußland, nicht nach Westen, ganz anders der Düsseldorfer Jude Heine und der rheinische Katholik Adenauer. Trotz Kant und Humboldt war das Gesicht Preußens gen Osten gewandt, schließlich war Preußen im Siebenjährigen Krieg und in den Befreiungskriegen von Rußland gerettet worden und auch Bismarcks Einigungswerk nur durch den Seitenwechsel Rußlands nach dem Krimkrieg möglich gewesen. Unsere westlichen Nachbarn haben diese Veränderung Deutschlands sehr viel schärfer gesehen als wir selbst. Graf Krockow zitiert in seinem Buch Die Deutschen in ihrem Jahrhundert einen Holländer mit den Worten: »Ihr Deutschen klagt immer darüber, daß 1945 der Osten so weit vorgedrungen ist bis an die Elbe und die Werra. Für uns sieht es anders aus: Die Grenze Westeuropas ist um ein paar hundert Kilometer von Aachen bis Helmstedt nach Osten vorverlegt worden.«22

Der Fortfall der Provinzen, aus denen die Führungsschichten des Hohenzollernreiches kamen, hatte aber auch eine personale Folge, die zugleich Verlust und Gewinn bedeutete. Diejenigen, die die deutsche Großmachtpolitik getragen und den deutschen Weg zwischen West und Ost verkörpert hatten, waren ihrer materiellen Basis beraubt. Was der Nationalsozialismus begonnen hatte, vollendete seine Niederlage. Zum letzten Male waren die großen preußischen Namen am 20. Juli 1944 in Erscheinung getreten. Im Aufbäumen gegen Hitler verblutete sich der preußischdeutsche Konservativismus. Nach dem Kriege gab es jenes Deutschland nicht mehr, das sich von der politischen Kultur Westeuropas dadurch zu unterscheiden suchte, daß es die »volkhafte Lebensordnung« über den bürgerlichen Staat stellte.23 Eine Neuauflage der Politik der Brockdorff-Rantzau und Schulenburg war weder machtpolitisch noch räumlich, noch geistig möglich.

Die nachwachsende Generation, in jüngster Zeit abwertend als »Jalta-Generation« tituliert24, wandte sich deshalb entschlossen nach Westen. Die einen suchten der irrationalistischen deutschen Tradition durch die Hinwendung zum linken Hegel und einem »westlich gelegenen Marx« zu entkommen25, die anderen entdeckten in Burke und Tocqueville jenen demokratischen Konservativismus, den Heidegger und Carl Schmitt in Deutschland zuerst verdrängt und schließlich zerstört hatten. Sosehr die 68er-Revolte auch »Linke« und »Rechte« trennen sollte, einig blieben sie sich in der Überzeugung, daß es einen gesonderten deutschen Weg nicht mehr geben konnte. Fast spurlos verschwanden die letzten Vertreter einer nationalen Tradition aus dem literarischen und öffentlichen Leben. Reinhold Schneider, Hans-Joachim Schoeps und Ludwig Dehio wecken heute nur noch vage Erinnerungen an eine kulturelle Traditionslinie zwischen Weimar und Potsdam, die im Niemandsland endete. Allein Gerhard Ritters Versuch, das Recht des von der Exekutive geprägten kontinentalen Machtstaates gegen die von der Legislative beherrschten insularen Mächte England und Amerika zu behaupten, gewann in der »Fischer-Kontroverse« noch einmal eine gewisse Dynamik. Doch obwohl Ritter in der Kriegszieldiskussion eher recht und Fischer eher unrecht hatte, waren es gerade die Ritterschen Grundprinzipien einer machtstaatlichen, vom Westen getrennten preußischdeutschen Tradition, die seinem Standpunkt die Wirkung raubten. Während die »Rechten« das westliche Deutschland konsequent in die transatlantischen Institutionen einfügten, bekämpften die »Linken« diese Institutionalisierung ihrer mentalen Westbindung als Restauration des Kapitalismus. Entlang dieser Scheidelinie verlief auch der 68er-Konflikt. Was für die einen ein Gewinn an Homogenität und Weltoffenheit war, erscheint den anderen als ein Verlust an Urbanität und geistiger Tiefe.

Karl Heinz Bohrer hat in seinen bitteren Marginalien zum Provinzialismus26 das Versagen der bundesrepublikanischen »classe politique« im Golfkrieg gegeißelt und ihr ihre Flucht aus dem Politischen vorgeworfen. Dabei hat er den Verlust der alten politischen Führungsschichten für die »intellektuelle Begrenzung und die kulturelle Niveaulosigkeit« der neuen kleinbürgerlichen Politikergeneration verantwortlich gemacht, die er in Kohl und Lafontaine repräsentiert sieht. Nicht erst der Betroffenheitskult in der Nachfolge der 68er, sondern bereits das Aufgeben der existentiellen metaphysischen Dimension in den 68er und 70er Jahren habe Deutschland als eine geistige Möglichkeit ausgelöscht. Doch die Bindung an den Westen setze eine eigene akzeptierte Identität voraus, die das Erbe nicht schematisch in rational und irrational unterteile, da ebendiese Selbstverstümmelung der tiefere Grund für den Mangel an Existenzwillen und Handlungsbereitschaft in der alten Bundesrepublik sei.

Diese Kritik, die jüngst Botho Strauß in seinem »Anschwellenden Bocksgesang« wiederaufgenommen hat27, zielt zugleich auf jene »political correctness», die schon die Frühromantik in den deutschen Sonderweg einbiegen sieht und mit Ernst Jüngers Arbeiter auch seine Marmorklippen verwirft. Die alte Bundesrepublik, so ihre Kritiker, habe ein Milieu hervorgebracht, das »betont kommunikativ, aber evasiv, liebenswürdig, aber ängstlich, programmatisch-ideologisch, aber undeutlich und unkonkret« sei.28 »Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich.«29 Diesen nicht unberechtigten Einwänden gegen unsere »alltägliche Vernünftigkeit« kann man nur mit einem Rückgriff auf Edmund Burke begegnen, der das »bundesrepublikanische Sittengesetz« bereits in seiner Auseinandersetzung mit dem Extremismus der Französischen Revolution formuliert hat: »Alle Regungen, ja alle menschlichen Freuden und Genüsse, jede Tugend und jede kluge Handlung ist auf einen Kompromiß, eine Balance, gegründet, wir wägen Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten ab, wir nehmen und geben, wir nehmen einige Rechte nicht in Anspruch, damit wir uns anderer erfreuen können, und wir wollen lieber glückliche Bürger als spitzfindige Disputanten sein.«30 Nachdem die Deutschen lernen mußten, daß die Freund-Feind-Unterscheidung Schmittscher Observanz zur Krisenbewältigung nicht geeignet ist, entschieden sie sich für die Konsenssuche als ein Gegenmodell. Nicht Ausgrenzung, sondern Einhegung wurde die Zauberformel der alten Bundesrepublik. Es war der Abschied von dem tragischen Versuch, »mit welch geistigen und moralischen Mitteln auch immer – uns selbst als besondere Kategorie, die Metaphysik des Ichs gegen eine internationale Regel ins Feld zu führen».31

Kurzschlüsse, die in Verurteilungen münden, sind immer gefährlich – dennoch gab es natürlich eine Verbindungslinie von Fichtes nationaler Metaphysik über die Verwerfung der Modernität und der rationalistischen Tradition durch den »Rembrandt-Deutschen« hin zu »Bruder Hitler». Diese Verbindungslinie, die das Scheitern des deutschen Weges nach Europa symbolisiert und an deren Ende die Ersetzung des »Ich« durch das »Es« in der Heideggerschen Philosophie stand, brach 1945 ab. Daß dabei auch kulturelle Verluste zu beklagen sind, steht außer Frage. Doch die Gewinne überwiegen. Zum ersten Mal ist die parlamentarische Demokratie westeuropäischer Prägung fest in Deutschland verankert. Zum ersten Mal ist es den Deutschen gelungen, Konfliktlösungsmodelle zu entwickeln, deren Fehlen die Republik von Weimar zerstört hat, zum ersten Mal hat sich in Deutschland eine zivile bürgerliche Gesellschaft gebildet, hat Deutschland Abschied genommen vom lutherischen Gemeinschaftsideal. Das erste Mal haben die Deutschen ein gesellschaftliches Mindestmaß an Toleranz ausgebildet, zum ersten Mal hat auch eine politische Klasse in Deutschland pragmatischen Realismus als Tugend begriffen. Die Staatsräson der Bundesrepublik stützt sich nicht wie die des Kaiserreiches auf zwei Augen, deren Erlöschen den Staat zum Schiff ohne Steuermann werden ließ.

Vor diesem Hintergrund ist die Welt, in der wir noch leben, leicht zu skizzieren. Die Bundesrepublik ist eine demokratische Industriegesellschaft, deren Klassenstruktur weit schwächer ausgebildet ist als die der klassischen Demokratien. Dies bedeutete von Anfang an die Suche nach dem Kompromiß als einer Strategie zur zivilisierten Beilegung von Konflikten, wenn nicht gar zu ihrer Vermeidung. Die Schlüsselworte der westdeutschen Gesellschaft sind Stabilität und Konsens. Schon am Beginn der zweiten deutschen Demokratie stand mit der sozialen Marktwirtschaft ein Ordnungsbegriff, der Ausgleich und Partnerschaft signalisierte. Alle Begriffe, die im öffentlichen Leben der Bundesrepublik eine Rolle gespielt haben, atmen diesen Geist der Konfliktvermeidung. Mitbestimmung, Friedenspflicht, innerer Friede, sozialer Friede, soziales Netz, Sozialpartnerschaft, Sicherheitspartnerschaft, konzertierte Aktion und Solidarpakt. Zu keiner Zeit hatte jene kalte Marktgesellschaft, die Margaret Thatcher und Präsident Reagan vorschwebte, in diesem Lande eine Chance. Die manchmal beklagten Verkrustungen – ob beim Ladenschluß, in der Tarifpolitik oder auf dem Arbeitsmarkt – sind die Folge eines leidenschaftlichen Sicherheitsbedürfnisses, das in dem Wahlkampfslogan der 50er Jahre: »Keine Experimente« einen überzeitlichen und allgemeingültigen Ausdruck fand. Das Bild des Staates als einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit hat sich weit von der Hegelschen Staatsmystik entfernt. Dem Streben nach gesellschaftlichem Konsens entspricht die Ausrichtung der deutschen Politik und ihrer Institutionen auf die politische Mitte. Risikovermeidung um jeden Preis mag auch die Folge des Fehlens einer homogenen Führungselite sein, da dieser Mangel fast zwangsläufig durch das Streben nach Konsens und institutionellem Zwang zu politischer Gemeinsamkeit ausgeglichen werden muß?32 Wie in der Innenpolitik, so bestand in der alten Bundesrepublik am Ende auch Konsens über die Außenpolitik, obwohl hier anders als bei den gesellschaftlichen Grundlagen die leidenschaftliche politische Debatte am Anfang stand und alle Grundentscheidungen gegen den Widerstand einer beträchtlichen Minderheit durchgesetzt werden mußten. Das galt für die Wiederaufrüstung, die NATO-Mitgliedschaft, die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, die Brandtsche Ostpolitik und die Nachrüstung. Was heute klar und einleuchtend erscheint, war am Anfang weit umstrittener als die gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ausrichtung der Republik. Das eigentlich Neue an der alten Bundesrepublik ist die Selbstverständlichkeit, mit der ihre Bürger sich als Teil des Westens und seiner politischen Kultur, als Teil einer immer enger zusammenwachsenden Gemeinschaft europäischer Nationen empfinden, europäische Integration und atlantische Ligaturen gehören heute (noch!) zum Kernbestand deutscher Staatsräson.33

Erstaunlicherweise hat die Revolte von 68 weder die innenpolitischen Grundlagen der Republik noch die außenpolitischen Richtungsentscheidungen in Frage gestellt. Dennoch war sie eine Zäsur für die bundesrepublikanische Gesellschaft, über deren Auswirkungen und Folgen noch immer gestritten wird. Doch während die konservative Publizistik noch immer alles Unheil dieser Welt mit dem Jahre 68 beginnen läßt34 und dabei übersieht, daß diese Revolte die Folge eines »konservativen« Modernisierungsschubs mit gesellschaftlichen Auflösungstendenzen in Richtung auf mehr Wohlstand, mehr Freiheit und damit verbunden größeren Wahlmöglichkeiten war, sind die damaligen Revolutionäre merkwürdig still geworden oder haben sich zu Kritikern der gesellschaftlichen Folgen von 68 gemausert.35

Betrachtet man das Ende und nicht den Prozeß, so halten sich Negatives und Positives die Waage. Zu den Erbübeln von 68 muß man nach wie vor die Dominanz eines marxistischen Weltbildes rechnen, das den Ordoliberalismus verdrängte und uns in theoretischer Hilflosigkeit zurückgelassen hat. Die Rückkehr von Heidegger und Carl Schmitt hat auch damit zu tun, daß die Gedanken von Eucken, Röpke, Rüstow, Böhm und Müller-Armack nicht weiterentwickelt wurden und jetzt das theoretische Werkzeug zur Bewältigung der Krise fehlt. Die modische Verflachung von Erziehung und Bildung, die Aushöhlung traditioneller Institutionen wie die Auflösung des Politischen in einer zur Handlungsunfähigkeit verdammenden Betroffenheit sind weitere Negativa. Die Geringschätzung des Formalen und das Leugnen des Existentiellen haben die schon vorhandene Neigung verstärkt, alle Konflikte durch Sozialarbeit und Gesprächstherapie, durch Appelle an den »common sense« und gutes Zureden zu überwinden.

Doch den Verlusten stehen auch Gewinne gegenüber. Das Zerstörungspotential von Großtechnik ist uns seit Friedrich Georg Jüngers berühmtem Buch geläufig, ins tägliche Bewußtsein wurde es trotz Hiroshima erst von den Grünen gehoben. Daß wir Lebenswelten nur in dem Umfang und in der Geschwindigkeit preisgeben können, wie sich neue entwickeln, daß der Markt zwar Güter, aber keine Traditionen reproduziert, gehört ebenfalls zu den neueren Einsichten. Daß die Verlangsamung des Fortschritts eine Notwendigkeit für das Wohlbefinden der Menschen wie für die Kohärenz von Gesellschaften ist, wäre in den Anfangsjahren der Bundesrepublik nicht verstanden worden. Die Bewahrung des Romantischen, des Verspielten, des Individuellen gegen demokratische Egalität und wirtschaftliche Rationalität ist gleichfalls ein Stück – vielleicht sogar ungewollter – Betroffenheitserkenntnis. Die Zivilisierung des Politischen im Umgang mit anderen Völkern gehört ebenfalls hierher. Zeigt uns doch der Bürgerkrieg in Jugoslawien, was es für die Menschen heißt, wenn ein Volk sein Sittengesetz mit Blutopfern gegen andere behauptet.

Mag die »Toskana-Fraktion« heute Symbol für den Verlust des Politischen in der 68er-Generation sein, die zivilisierende Wirkung selbst oberflächlichster Tourismuserfahrungen läßt sich nicht leugnen. Während die ältere Generation trotz ihres »differenzierten Sprachwissens« und ihrer »kulturellen Erfahrung« mit Italien noch den »Verrat« von 1915 und 1943 verbindet, schätzen die Jungen Pinot Grigio und Bardolino. Sie sind damit trotz aller Bildungsverluste des Massentourismus in den Schoß jener weltbürgerlichen deutschen Tradition zurückgekehrt, die besonders im 18. und im frühen 19. Jahrhundert bestrebt war, sich fremde Lebens- und Kulturformen anzuverwandeln, auch wenn das politisch-kulturelle Interieur der bereisten Länder vielen verschlossen bleibt. Der Widerspruch zwischen Lebenswelt und Politik hat sich aufgelöst, und die antiamerikanisch kostümierte Revolte ist am Ende in eine weitere Verwestlichung Deutschlands gemündet. Statt des Marxismus und des Maoismus obsiegte die Pop- und Hippiekultur und die 68er wurden die kulturellen Erben Adenauers, ihre intellektuellen Wortführer zu Verfechtern der Westintegration. Wenn Jürgen Habermas sich heute zu Helmut Kohls Außenpolitik bekennt36, dann zeigt das auch die gewaltige Integrationsleistung der deutschen Nachkriegsgesellschaft, deren erster innenpolitischer Härtetest die Überführung des Generationenkonflikts in einen neuen Konsens war.

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