Kitabı oku: «Kulturpessimismus», sayfa 2
I. Nach der Kultur
KULTUR ist das, was anders sein könnte. Das unterscheidet sie von der Natur. Denn Kulturen beruhen auf Konventionen. Anders die Natur. Auch sie könnte theoretisch anders sein. Doch vor dem Hintergrund der gegebenen Bedingungen haben ihre Gesetze universale Gültigkeit. Es gibt keine unkonventionellen Naturereignisse. Wenn etwa das Glucoseniveau im Blut eines Menschen einen gewissen Schwellenwert unterschreitet, dann hat er Hunger und wird, sofern es ihm möglich ist, Nahrung zu sich nehmen. Was er jedoch isst, welche Sitten er dabei hat, welche Tischmanieren, das ist kulturell bedingt. Menschen können mit den Händen essen, mit Messer und Gabel, mit Stäbchen – sie können aber nicht nicht essen.
Allerdings ist die kategoriale Trennung von Kultur und Natur, die insbesondere das abendländische Denken seit dreitausend Jahren beherrscht, künstlich. Denn Kultur basiert auf Natur. Kultur ist, wenn man so will, Natur mit anderen Mitteln. Sie ermöglicht dem Menschen Anpassungsleistungen an seine Umwelt, die mit rein evolutionsbiologischen Mitteln ungleich länger dauern würden und sehr viel unsicherer in ihrem Ausgang wären. Zugleich prägt die Kultur die Natur. Denn Menschen haben gelernt, ihre Umwelt zu manipulieren. Etwa so, dass sie Nahrungsmittel in einem Maße bereitstellt, die den natürlichen Gegebenheiten zuwiderläuft. Das Mittel dazu bietet die Landwirtschaft, der Ackerbau, vulgo: die Kultivierung der Natur. Also genau das, was das Wort cultura im Lateinischen bezeichnet.
Diese Form von Kultivierung des Natürlichen war allerdings nur deshalb möglich, weil der Mensch von Natur aus ein Allesfresser ist. Er kann als Eskimo sich nahezu ausschließlich von Fisch und Robbenfleisch ernähren oder, wie die arme Landbevölkerung Europas über Jahrhunderte, weitgehend von Getreidebrei. Weder das eine noch das andere ist aus Sicht moderner Ernährungshypochonder besonders gesund, es funktioniert aber. Kultur unter dieser weit gefassten Perspektive ist also die Manipulation des natürlich Gegebenen im Rahmen des natürlich Gegebenen und damit die Eröffnung neuer Handlungsmöglichkeiten. Indem der Mensch Landschaften und Gegenstände schuf, eröffnete er sich neue Handlungsräume und erschloss sich Potentiale. Erst Kultur ermöglichte es ihm, ein Leben zu führen, das sich von demjenigen anderer Säugetiere grundlegend unterscheidet.
In diesem Sinne also ist jedes Artefakt ein Kulturgegenstand und die Fähigkeit, diese Artefakte herzustellen und ihre Produktionstechnik zu überliefern, Kultur. Das klingt nüchtern, ist es aber nicht: Der Fertigkeit, Umwelt zu gestalten, wohnt eine normative und normierende Kraft inne. Denn das Natürliche ist das Beliebige, Chaotische, Urwüchsige, Kultur hingegen das Geordnete, Systematische und Geregelte. Ihr Zweck ist Beständigkeit. Sie ermöglicht den sesshaft gewordenen Menschen Kontinuität und Stetigkeit. Kultur sichert Räume, um Zeit berechenbar zu machen. Kultur soll vor Überraschungen schützen. Aus diesem Grund ist nicht erst Religion im engeren Sinne, sondern Kultur als Ganzes Kontingenzbewältigung. Sie versucht, die Welt übersichtlicher und kalkulierbarer zu machen. Zumindest bis zur nächsten Ernte und zum Waldrand hinter dem Feld. Kultur dient insofern der Beruhigung. Sie markiert einen Bereich menschlichen Ordnungssinns gegen die Unbilden der Natur.
Damit markiert die Kultur das Eigene gegen das Fremde, den Schutzraum gegen die Bedrohung. Kultur, selbst in ihren einfachen Ursprüngen, ist daher immer mehr als ein wenig Ackerland und ein paar Hütten drum herum. Kultur hat utopisches Potential, indem ihr immer ein visionärer Überschuss implantiert ist. Sie ist Heimat im realen und Heimat im verklärten Sinne, Ort faktischen Lebens und Sehnsuchtsziel. Zugleich ist Kultur latent bedroht: durch die Natur, durch das Unberechenbare. Und zu diesem bedrohlichen Chaos gehört das Unbekannte, das Andere, das Überraschungen bergen kann. Deshalb ist Kultur permanent zu schützen, zu bewahren und zu erkämpfen. Ohne einen entschlossenen Willen zur Kultur wird Kultur untergehen. Dann wird die Natur das Geordnete und Aufgeräumte wieder in Chaos verwandeln.
Weil Kultur fragil ist, versucht sie Ordnung nicht nur im Raum zu schaffen, sondern auch in der Zeit. Aus diesem Grund tradiert Kultur sich selbst. Nur die Überlieferung ermöglicht Konstanz. Daher steht am Anfang aller Kultur die Weitergabe des Wissens über die Kultivierung der Natur, also die Ordnung des Raumes. Doch andauernde Ordnung im Raum ist nicht alles. Dauer, die wirklich dauerhaft sein will, braucht ihrerseits Struktur, also Ordnung in der Zeit. Diese schaffen Rituale. Sie kultivieren die Zeit, indem sie sie gliedern. Und sie gliedern sie anhand des einzig Gegebenen, das sich als berechenbar und dauerhaft erweist, ja als Verkörperung von Ordnung schlechthin: der zyklischen Bewegungen der Sterne, der Sonne, des Mondes. Die Himmelsphänomene in ihrer vermeintlichen Ordnung scheinen dem Chaos enthoben und erweisen sich für den prähistorischen Menschen als berechenbar. So wird Kultur, also das Schaffen von Ordnung, mit dem Kult, der Anbetung der Ordnung verklammert. Das hat Folgen für die normative Grundausrichtung von Kultur überhaupt. Als wertvoll gilt das Althergebrachte, das Überlieferte, das Stabile, dasjenige, was einer Pflege, was einer Hinwendung bedarf. Minderwertig hingegen ist das Wildwüchsige, Ungeordnete, das Plötzliche und Überraschende. Oder anders formuliert: Kultur ist konservativ.
Doch Religion verherrlicht nicht nur Ordnung, zugleich verankert sie die Kultur qua Mythos in einer sagenhaften Vergangenheit. Die Herkunft der Kultur ist nun nicht mehr dunkel oder vage, sondern sie hat einen konkreten Anfang, einen Ort und damit einen Sinn. Als sinnvoll wird die Überwindung des Natürlichen empfunden, das Versprechen auf eine zeitlose Ordnung. Zugleich verankern Mythen Herkunft und Abstammung im Raum, indem sie von Abfolgen erzählen, von Genealogien, von Gründungen und Ursprüngen. Das Chaos der Zeit wird so gebändigt. Die Kulte, die Gemeinschaften entwickeln, hegen und pflegen die Zeit, so wie der Ackerbau den Raum pflegt. Kultische Handlungen jedoch müssen organisiert, sie müssen ausgeführt und reglementiert werden. Dafür bedarf es der Ämter und Institutionen. So trägt der Kult dreifach zur Stabilisierung bei: durch Verherrlichung der Ordnung, indem er der Zeit Rhythmus und Struktur gibt, Institutionen notwendig macht, die auf Dauer angelegt sind und der natürlichen Vergänglichkeit den Anspruch kultureller Ewigkeit entgegensetzen. Diese Institutionalisierung von Ritualen führt zugleich zu einer Homogenisierung des kulturellen Gedächtnisses. Es kommt zu einer Monopolisierung der Überlieferung, Mythen und Erzählungen werden kanonisiert.
Da Kanonisierung Stabilität in einer instabilen Welt verspricht, werden immer mehr Artefakte, Überlieferungen und Herstellungsweisen in den Kanon einbezogen. Kurz: Kultur besteht ganz wesentlich aus Normierung, Kanonisierung und Standardisierung qua Regeln. Kanonisieren aber bedeutet Exklusion. Es muss zwischen demjenigen unterschieden werden, das überliefert werden soll, und demjenigen, das der Vergessenheit anheimgegeben werden kann. Folglich geht die Kanonisierung einher mit der Verfestigung und Ausprägung moralischer und ästhetischer Normen und Ideale. Es bildet sich so etwas wie ein normatives Netz, das über alle Handlungen, Entscheidungen und Artefakte gelegt wird und die Welt in gut und schlecht und mehr oder minder wertvoll einteilt. In diesem Sinne hat Kulturalisierung auch immer eine ästhetische Dimension. Mit der Unterscheidung zwischen dem zu Kanonisierenden und dem Belanglosen geht die Ausbildung ästhetischer Normen einher: vom Körperschmuck über die Kleidung bis zur Redekunst und Architektur. Sprache, Bildnisse, Schmuck werden an Schönheitsnormen ausgerichtet. Es entsteht, was später Kunst genannt wird. Die Ästhetisierung der Welt wertet die Natur jedoch zwangsläufig weiter ab. Diese steht nun nicht nur für das Chaotische, Fremde und Bedrohliche, sondern zugleich für das Hässliche, Ungestaltete, Wildwüchsige. Das Kulturelle wird zum Schönen, das Natürliche zum zu Kultivierenden.
Über drei Jahrtausende funktionierte diese Zuordnung in Europa einigermaßen zuverlässig. Dann wird sie im Zuge der Moderne dekonstruiert. Das Schöne wird aufgegeben zugunsten anderer Konzepte, Kultivierung selbst wird hinterfragt und das Natürliche rehabilitiert. Kurz: Die Moderne verabschiedet die traditionelle Idee von Kultur. Es kommt zu einer Umwertung aller Werte. Nicht das Beständige, das Geordnete, das Überlieferte, das Stabile und Althergebrachte gilt als wertvoll, sondern das Spontane, das Kreative, das Andere, das Befremdliche, Überraschende und Schockierende. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die westliche Welt von dem verabschiedet, was vormals als Ausweis einer Kulturgesellschaft gesehen wurde. Das ist zumindest erklärungsbedürftig.
Wie sehr Kultur mit Vorstellungen des Bewahrens, Veredelns und Verehrens über Jahrtausende assoziiert war, machen allein die Bedeutungsebenen des lateinischen Verbs colere deutlich, die von Ackerbau betreiben, ansässig sein und bewahren über schmücken, putzen, veredeln bis zu hochhalten, huldigen und anbeten reichen, also genau das umreißen, was vormoderne Kultur ausmachte. Indem diese verschiedenen Bedeutungsebenen sowohl die Idee der Kultivierung des Raumes als auch die Kultivierung der Zeit erfassen, markieren sie zugleich den Unterschied zwischen Kultur und Kult, also dem Profanen und dem Heiligen. Man könnte auch sagen: Das Bestellen des Ackers mündet in der Anbetung des Ewigen.
Doch wie betet man das Ewige an in einer Welt, in der nichts ewig ist? Indem man Ewigkeit darstellt. Anders formuliert: Man muss sie symbolisieren. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass heilige Stätten geschaffen werden, also Übergangsräume zwischen der Endlichkeit und dem Unendlichen, dem Vergänglichen und dem Ewigen. Hier, in den heiligen Bezirken, an den Kultstätten, in Kulträumen und Tempeln wird nicht nur den Göttern gehuldigt, sondern zugleich auch den Normen, Werten und Idealvorstellungen einer Gemeinschaft. Hier wird Kultur zu einem Ensemble symbolischer Formen, zu einem System von Ornamenten, Bildern, Gesten, Zeichen und schließlich Texten. Denn Symbole sind, anders als physische Gegenstände, der Vergänglichkeit enthoben. Das bedeutet, dass Symbole nicht nur Ewigkeit darzustellen vermögen. Sie selbst konstituieren Zeitlosigkeit. Vermittels ihrer Symbole versucht Kultur mithin, sich selbst zu transzendieren und Ewigkeit in der Vergänglichkeit zu schaffen.
Dies muss naturgemäß scheitern, doch genau hierin liegt ihre menschliche Würde. Kultur ist Ausdruck der Revolte des Menschen gegen den Tod. Sie sucht Ewigkeit und Ordnung zu schaffen, wo im Grunde nur Chaos, Zufall und Endlichkeit sind. Daher ist Kultur wesentlich Religion und Religion Kultur. Oder anders: Kultur ist, folgt man T. S. Eliot, »ihrem eigentlichen Wesen nach die fleischgewordene Religion eines Volkes«.1 In dem Moment, in dem Kultur ihren religiösen Charakter verliert, verliert sie sich selbst. Es gibt in diesem Sinne keine säkulare Kultur. Doch dazu weiter unten mehr.
An diesem Punkt ist zunächst festzuhalten: Kulturen sind Zeichensysteme, also Codes, letztlich Sprachen. Und wie alle Sprachen wirken sie auf die eigene Sprachgemeinschaft integrierend, aber auch hierarchisch und nach außen hin exkludierend. Denn Sprachgemeinschaften unterscheiden zwischen kompetenten, weniger kompetenten und inkompetenten Sprechern. Gleiches gilt für Kulturen. Auch deren Codes werden besser oder schlechter beherrscht, wobei die Codebeherrschung sozialen Status beglaubigt. Dieses Wissen um kulturelle Codes wird traditionell Bildung genannt. Hochgebildet ist derjenige, der den symbolischen Code einer Gemeinschaft, ihre Kultur, umfassend beherrscht. Dabei wirkt Bildung als Kulturdestillator. Aus dem Angebot des Überlieferten und Kanonisierten schafft sie durch Bildungsnobilitierung ein Konzentrat dessen, was ein kompetenter Angehöriger einer Kultur wissen muss, und welches Wissen wiederum nur Fachleute, etwa Schamanen, zu haben brauchen. Zudem formt Bildung Kulturwissen zu einem expliziten Wissen um. Ist das kulturelle Wissen in Vorbildungskulturen implizit und in tradiertes, mystisch fixiertes Brauchtum eingewoben, so erfordert die Kanonisierung zum Bildungsgut eine bewusste Unterscheidung in wertvoll und weniger wertvoll.
Das Konzept der Bildung hat also eine mehrfache kulturelle Verstärkerfunktion: Es trennt das Wesentliche vom Unwesentlichen, es differenziert das Wesentliche hinsichtlich verschiedener sozialer Bedürfnisse aus, macht kulturelle Inhalte bewusst und schafft damit zugleich ein Zentrum kulturellen Wissens, das in der Lage ist, in zunehmend komplexen Gesellschaften Zusammenhang herzustellen. So ermöglicht Bildung qua Kanonisierung und Differenzierung schließlich den Übergang von vorhochkulturellen Gesellschaften zu Hochkulturen. Es bildet sich ein Spezialistentum heraus, repräsentiert durch Priester, Gelehrte, Künstler und Rezitatoren, das kulturelles Wissen bewahrt, aufzeichnet, weitergibt und zur Verfügung stellt. Damit entlassen diese Spezialisten die Gemeinschaft teilweise aus dem umfassend normierenden und streng standardisierenden System kultureller Überlieferung und ermöglichen das Entstehen einer kulturellen Peripherie. Hier, entfernt vom Zentrum der Kulturfachleute, können sich Gewohnheiten, Techniken und Mentalitäten ausbilden, die zwar im Einklang mit dem kulturellen Zentrum stehen, aber dennoch weit genug von ihm entfernt sind, um seinen Standardisierungsnormen zu entkommen und so Freiräume zu schaffen, die der Entfaltung unterschiedlicher sozialer und technischer Potentiale dienen.
Anders formuliert: Vorhochkulturelle Stammesgesellschaften synthetisierten aufgrund ihrer normativen Bindungskraft die verschiedenen Bedürfnisse und Ansprüche ihrer Mitglieder, von Männern und Frauen, Jungen und Alten, Schamanen und Jägern, Hirten und Kriegern. Damit verhinderten sie eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Gemeinschaft. Sie bleibt auf ein starkes, den Alltag aller Individuen reglementierendes Netz von Überlieferungen fixiert, das Identität und Gemeinschaft durch Homogenität stiftete, zugleich aber statisch blieb. Gegenüber solchen vorhochkulturellen Gesellschaften sind Hochkulturen deutlich heterogener. Genauer: Eine Hochkultur entsteht dann, wenn das kulturelle Zentrum auf die Peripherie einer Gemeinschaft nicht mehr im umfassenden Sinne standardisierend wirken kann: »In allen Hochkulturen lockert sich das kulturelle Band, welches die Subsysteme im Sinne der Normintegration gefesselt hatte; sie gewinnen an Spielraum zur Autonomisierung und stehen nicht mehr ausschließlich unter dem Diktat verbindlicher Mythen.«2
Wichtig hier ist das Wort ›ausschließlich‹. Denn natürlich zeichnen sich auch und gerade Hochkulturen durch eine gewisse Homogenität und Fixiertheit auf ein normgebendes kulturelles Zentrum aus. Allerdings erlaubt dieses kulturelle Zentrum nicht Abweichungen und Differenz und damit das Entstehen von Subkulturen, die sich an der Symbolsprache und Ästhetik der normgebenden gesellschaftlichen Instanzen orientieren. Diese sind naturgemäß die Repräsentanten religiöser, weltlicher und ökonomischer Macht. Was als kulturelle Norm zu gelten hat, was also Kultur ist, wird daher von der jeweiligen Elite bestimmt. Das war in vorhochkulturellen Stammesgesellschaften schon so, wird in Hochkulturen, nicht zuletzt aufgrund ihrer stärkeren Diversität, jedoch offensichtlicher.
Ort der aufgegliederten Hochkultur ist die Stadt, besser: die Metropole. Sie ist Bedingung und Ergebnis der Ausdifferenzierung weitestgehend homogener Siedlungsgemeinschaften. Die Stadt ermöglicht einen Grad der Autonomisierung von Lebensräumen, der in traditionellen Siedlungen und Sozialverbänden undenkbar war. Dörfer vorhochkultureller Gesellschaften, so kann man folglich sagen, entwickeln sich dann zu Städten, wenn Umweltveränderungen die Teilautonomisierung unterschiedlicher Stammesgruppen notwendig machen und damit zugleich eine gewisse lebensweltliche und normative Trennung zum kulturbestimmenden Zentrum vollzogen wird. Hochkulturelle Städte – Babylon, Ninive oder Ur an Euphrat und Tigris, Sakkara, Memphis, Theben und Luxor am Nil – zeigen daher einen gewissen Grad an sozialer und lebensweltlicher Diversität. Das wird unter anderem dadurch ermöglicht, dass große Bevölkerungsgruppen von der unmittelbaren Nahrungsbeschaffung befreit sind. Voraussetzung dafür ist eine ertragreiche Landwirtschaft, die in der Lage ist, über den Eigenbedarf der Bauern hinaus zu produzieren und ein Heer von Handwerkern, Soldaten, Beamten, Priestern und Höflingen zu ernähren. Die landwirtschaftliche Überproduktion bedingt zugleich einen Überschuss handwerklicher Erzeugung. Da Handwerker sich nun im wesentlichen auf ihr Handwerk konzentrieren können und nicht einen Teil ihrer Arbeitszeit mit der Herstellung von Lebensmitteln verbringen, steigt die Produktivität. Überschüssige Produkte aber erfordern neue Absatzmärkte, also Handel. Dadurch entsteht nicht nur eine ganz neue soziale Gruppe von Händlern und Kaufleuten, sondern zugleich ein Warentransfer mit anderen Kulturen. Somit sorgt Handel für kulturellen Austausch.
Hochkulturen sind infolgedessen immer dynamische Kulturen. Und Kulturen, die eine gewisse Dynamik zu entwickeln vermögen, transformieren sich zu Hochkulturen. Doch Dynamik widerspricht dem konservativen Prinzip von Kultur. Aus diesem Grund sind Hochkulturen latent fragil: Sie laufen einerseits Gefahr zu erstarren, andererseits durch soziale, ökonomische oder subkulturelle Umformungsprozesse ihre Normierungskraft zu verlieren und sich aufzulösen. Insbesondere die Autonomisierung ganzer Gesellschaftsbereiche und die Interaktion mit anderen Kulturen birgt die Gefahr, dass das kulturelle Zentrum entweder seine notwendige Bindungskraft verliert oder überformt wird. T. S. Eliot zufolge dürfe »ein Volk weder zu einheitlich noch zu uneinheitlich sein (…), wenn seine Kultur blühen soll«.3 Zu große Homogenität führe ebenso zu Tyrannei und Niedergang wie zu starke Heterogenität. Sowohl hinsichtlich sozialer, religiöser als auch regionaler Differenzen seien funktionierende Kulturen darauf angewiesen, eine Balance zwischen Differenz und Einheitlichkeit aufrechtzuerhalten. Dies gilt um so mehr, als arbeitsteilige Hochkulturen ökonomisch sehr viel erfolgreicher sind als vorhochkulturelle Gesellschaften. Die daraus entstehende Macht führt zu militärisch herbeigeführter räumlicher Ausdehnung, der entstehende Reichtum zu Zuwanderung. Im Ergebnis wächst das Herrschaftsgebiet der jeweiligen Kultur ebenso wie die Bevölkerungszahl. Neben der sozialen und kulturellen Peripherie entsteht eine räumliche Peripherie, deren Eigenständigkeit allein durch die Entfernung vom kultischen und administrativen Zentrum gegeben ist. Anders ausgedrückt: Das Entstehen einer räumlichen Peripherie verstärkt die Distanz der kulturellen Peripherie von ihrem Zentrum.
Diese Entwicklung, so Eliot, »ist nicht frei von Gefahren«. Der Grund: »Aus kultureller Spezialisierung kann sich kulturelle Auflösung ergeben, und diese Art von Auflösung ist die radikalste, die eine Gesellschaft erleiden kann.«4 Wenn das kulturelle Zentrum seine normierende und synthetisierende Kraft verliert, zerfällt die jeweilige Kultur. In das entstehende Vakuum stößt entweder eine fremde Kultur oder eine periphere Subkultur, die in der Lage ist, das vakante Zentrum auszufüllen.
Eine erhebliche Gefahr für eine Kultur liegt somit paradoxerweise in ihrem wirtschaftlichen Erfolg. Je größer dieser ist, desto größer ist das Risiko der Selbstzerstörung durch Überstrapazierung der jeweiligen Normierungskraft und des Zerfalls in Diadochenkulturen oder aber die kulturelle Überformung durch ein fremdes Standardisierungssystem. Denn Normierungssysteme sind nicht grenzenlos belastbar. Ab einem gewissen Punkt gesellschaftlicher Heterogenität verlieren sie ihre integrierende und synthetisierende Kraft.
In vormodernen Gesellschaften mit vergleichsweise geringer Mobilität waren Desintegrationseffekte, die zum Untergang einer Kultur führen können, stets regional und zeitlich begrenzt. Der Standardisierungsdruck erweist sich langfristig als stärker als die sozialen, ökonomischen oder ethnischen Fliehkräfte. Die Autonomisierungsprozesse hochkultureller Agrargesellschaften laufen niemals so schnell und intensiv ab, dass sie großräumig desintegrierend wirken und die Bildung eines neuen Normierungssystems nachhaltig verhindern könnten.
Das änderte sich mit der aufkommenden Moderne. Spätestens Ende des 18. Jahrhunderts wurden einzelne Teilbereiche der europäischen Gesellschaften so schnell und stark umgeformt, dass ihre Einbindung in das jeweilige kulturelle Normierungszentrum kaum noch aufrechtzuerhalten war. Zunächst gegen den Widerstand der von den ökonomischen und sozialen Veränderungen weitgehend ausgesparten Milieus löste sich die Bindungsfähigkeit der alteuropäischen Kulturen zunehmend auf. Eine der Hauptursachen dafür war, dass sich die rasanten Veränderungen nicht auf einzelne technische, wissenschaftliche oder soziale Bereiche beschränkten, sondern ein umfassender Transformationsprozess einsetzte, der keinen Lebensbereich ausließ.
Spätestens die Industrialisierung, die mit ihr einhergehende Urbanisierung, die Neuformierung der sozialen Abhängigkeits- und Machtverhältnisse, die Zerstörung bisheriger Sozialgefüge im Zusammenhang mit technischen Neuerungen, die innerhalb weniger Jahrzehnte die Lebenswelt der Menschen mehr veränderten als in den 3 000 Jahren zuvor, die Verdichtung und Beschleunigung der Kommunikation und ein mit diesen drastischen Veränderungen einhergehender tiefgreifender Wertewandel setzten Fliehkräfte frei, die unendlich stärker waren als jede kulturelle Gravitation. Selbst dort, wo sich kurzfristig neue Kulturalisierungsmuster mit Normierungspotential zeigten, wurden diese – etwa die bildungsbürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts – durch andere Transformationsprozesse überlagert und marginalisiert. Dies ist der Moment, in dem die Moderne modern wird. Wandel und Autonomisierung gelten nicht länger als bloße Begleiterscheinungen von technischen oder sozialen Veränderungen, sondern werden zum Ideal erhoben. Autonomisierung wird zum Selbstzweck, die kulturellen Bindungskräfte werden pulverisiert.
Fälschlicherweise und voreilig hat man diesen Zustand, die damit einhergehende Heterogenität der verschiedenen gesellschaftlichen Sprachspiele, ihre Inkommensurabilität, als postmodern bezeichnet. Doch eine Moderne, die letzte Mentalitätsbestände vormodernen Denkens überwunden hat, ist keine Nachmoderne, sondern die Moderne in ihrer modernsten Form. Hier wird die Transformation, die Neuerung, die Überwindung des Althergebrachten, die Innovation zum Wert an sich und die Zentrifugalkräfte zum Lebenselixier und Garanten der Modernität. »Das entscheidende Charakteristikum des Industriesystems«, schreibt etwa Rolf Peter Sieferle, »ist gegenüber allen Hochkulturen, dass in ihm die Autonomisierung zum universellen Prinzip geworden ist.«5 Letztlich wird die Delegitimierung des Dauerhaften, Beständigen und Zeitlosen zum Signum der Moderne. Allerdings vollzog sich der Übergang von einer Hochkulturgesellschaft in die postkulturelle, autonomisierte Massengesellschaft nicht schlagartig und abhängig von den lokalen Gegebenheiten, der jeweiligen Industrialisierung, den sozialen Machtverhältnissen, dem Urbanisierungsstand und den politischen Traditionen. »Das Band«, so Sieferle, »das die Gesellschaft zusammengehalten hatte, riss nicht plötzlich, glatt und einheitlich, sondern Faser für Faser. Je schwächer das Band wurde, desto schneller schritt seine Auflösung voran. Wir erleben daher eine eindrucksvolle Beschleunigung der Autonomisierung, je näher wir an die Gegenwart kommen.«6
Diese Beschleunigung der Heterogenisierung westlicher Gesellschaften erfolgte auch deshalb, weil sie überaus erfolgreich war. Innerhalb weniger Generationen, zwischen der Mitte des 19. und dem beginnenden 21. Jahrhundert, erlebten die Menschen – nicht nur der westlichen Welt – eine Revolution der Lebensumstände, die mit der Auflistung von gestiegenen Lebenserwartungen, explodierenden Einwohnerzahlen, verkürzten Reisezeiten, marginalisierten Kommunikationszeiträumen, einer Vervielfachung des Lebensstandards und der Potenzierung des Wissens nur unzureichend beschrieben ist und sich nicht nur graduell, sondern kategorial von allem unterschied und unterscheidet, was die Menschheit bisher gekannt hat. Dabei entfaltete die moderne Industriegesellschaft eine selbstverstärkende Dynamik, die nicht nur die noch vorhandenen Restbestände traditioneller alteuropäischer Kultur sukzessive auflöste, sondern vor allem auch in außereuropäischen Kulturen soziale und ökonomische Umformungsprozesse auslöste, die deren Normierungsinstanzen marginalisierten.
Gegenüber den hochdynamischen Spezialisierungs- und Diversifizierungsprozessen der industrialisierten Moderne erweist sich das Konzept der Kultur als unterlegen. Kulturgesellschaften sind nicht in der Lage, schnell und umfassend auf technische und ökonomische Veränderungen zu reagieren. Sie basieren auf viskosen Standardisierungsstrukturen, die empfindlich sind gegenüber Transformationsdruck von außen.
Doch Gesellschaften, archaische ebenso wie moderne, bedürfen der Kommunikation qua symbolischer Formen. So entsteht in der Moderne ein Kulturderivat, die Massenkultur. Ihre Voraussetzung ist – neben der sozialen Entmachtung traditioneller Kulturträger und ökonomischem Massenwohlstand – die Diskreditierung des Konzepts der Kultur als Normierungssystem. Im Namen der pankulturalistischen Nivellierung möglicher kultureller Differenzen wird die Vielfalt, die Buntheit und Austauschbarkeit, kurz: die Normlosigkeit zur Norm. Wo jedoch Normlosigkeit zur Norm wird, ist die Zerstörung und Überwindung von Normen das Ideal. So werden Avantgardismus, Kreativität und Phantasie zu Fetischen der postkulturellen Gesellschaft. Dementsprechend hält es der Künstler im Zeitalter postkultureller Massenkultur für seine Aufgabe, zu verunsichern und angeblich Gewohntes in Frage zu stellen. Wo Kulturen das Ewige verehren, delektiert sich die Postkultur an der Zerstörung des ohnehin nicht mehr Gültigen und am Einreißen längst gefallener Mauern.
Der Umschlag von der vorindustriellen Hochkultur in die Massengesellschaft erfolgt vergleichsweise zügig, jedoch nicht schlagartig. Zwischen beiden steht das bürgerliche Zeitalter als Übergangsphase und – je nach Betrachtungsweise – Gipfel europäischer Hochkultur oder Anfang vom Ende. Waren die vormodernen Feudalgesellschaften auf Bewahrung der jeweiligen Herrschaftsstrukturen ausgelegt und bezog der Adel seine Legitimität vor allem aus einer als ewig angenommenen Weltordnung, seiner Abstammung und dem Alter seiner Herrschaft, so hält mit der Entwicklung des Bürgertums die Idee des Fortschritts Einzug in die Legitimationsdiskurse. Charakteristisch für die bürgerliche Ideologie wird der Versuch des Ausgleichs zwischen Progression und Bewahrung. Als neuer gesellschaftlicher Stand, der seine Stellung und seinen ökonomischen Wohlstand vor allem ökonomischen Umbrüchen verdankte, dem neuen Bankensystem, dem Handel in Übersee, neuen Produkten und neuen Märkten, war das sich formierende Bürgertum der Neuzeit der Idee der Innovation verpflichtet. Zudem konkurrierte es hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Anerkennung und Reputation mit dem Adel. Fortschritt und Wandel werden wesentliche Bestandteile bürgerlicher Ideologie.
Das bürgerliche Weltbild vereint somit Fortschrittsglauben und Innovationsvertrauen mit der Idee des Bewahrens. Das funktioniert nur, wenn der in diese Konstellation eingewebte Widerspruch ideologisch überformt wird. Normative Achse der bürgerlichen Weltanschauung wird daher, wie Panajotis Kondylis herausgearbeitet hat, der Harmonisierungsgedanke. »Der Versuch, Fortschritt und Ordnung, Entwicklung und in sich ruhendes Ganzes, Dynamik und Statik theoretisch in Einklang zu bringen und wenigstens zusammenzudenken, stellte einen bedeutenden Aspekt des allgemeinen bürgerlichen Harmonisierungsbestrebens dar.«7 Allerdings konnte dieses Streben nach Ausgleich die Zeit- und Fortschrittsorientierung der bürgerlichen Welt nicht kompensieren. Zu stark war der in der bürgerlichen Ideologie eingebaute Impuls, Progressives zu generieren oder zumindest zu akzeptieren, zu sehr definierte sich das Bürgertum letztlich über seine Modernität. Entsprechend wurde der Wunsch nach Ewigkeit und Dauer ausgelagert. Soziologisch durch die Entstehung eines Bildungsbürgertums, institutionell durch die Schaffung von Museen und Kunstsammlungen. Die Beschäftigung mit der Kunst wird konsequenterweise akademisiert. An den Universitäten werden entsprechende Studienfächer eingerichtet. Auch die künstlerische Praxis wird akademisch institutionalisiert, es entstehen Kunstakademien. Im bürgerlichen Bildungsideal schließlich wird versucht, beides zu vereinen: technisches Wissen und humanistische Bildung. Und auch die bürgerliche Ehe ist der Versuch, Kalkül und Herz, Vernunft und Sinnlichkeit, Ethik und Leidenschaft miteinander in Einklang zu bringen.
Das doppelgesichtige Bedürfnis des Bürgertums nach Fortschritt und Rationalisierung einerseits und dem Ewigen und Unvergänglichen andererseits kristallisiert sich auch in der gestaltgewordenen Gleichzeitigkeit von technischer Revolution und ästhetischem Historismus. Ihr Sinnbild ist die Fabrikhalle mit gotischer Fassade. Am deutlichsten wird dieser innere Widerspruch jedoch in den Künsten. Hier, in bildender Kunst, Architektur und Musik, wird der Untergang des bürgerlichen Zeitalters und mit ihm der Niedergang der letzten Kulturepoche der westlichen Welt am frühesten greifbar. Es sind Künstler und Intellektuelle, die sich als erste gegen die bürgerliche Synthese und Harmonisierungsideologie wenden und beginnen, zunächst deren ästhetische Normen zu zerstören. Als wertvoll gilt ihnen nicht die Verbindung von Fortschritt und Beständigkeit, von Erneuerung und ewig Gültigem, vielmehr verselbständigt sich die Idee der Progression. Aufgegeben wird das Ideal des Zeitlosen. Gefeiert wird die Veränderung. Gesucht wird ein neuer Normenkanon, der die Aporien des bürgerlichen Denkens hinter sich lässt. Dieses wird in seinem Harmoniebemühen als spießig, als philisterhaft wahrgenommen und soll zugunsten einer radikal modernen Normativität überwunden werden, die zugleich eine neue Zeit einläuten soll.
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