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Kitabı oku: «Die Inseln der Weisheit», sayfa 16

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–An denen liegt nicht viel. Wir rechnen die Orchesterdirigenten schon heute zu den Leichtathleten mit einem Anflug von Komik. Ihre Bewegungen am Dirigentenpult sind illustrative, nicht ernst zu nehmende Turnübungen. Der eine sticht mit dem Taktstock wie mit einer Nadel in die Violinpassagen, der andere angelt mit ihm einen imaginären Fisch aus der Kapelle, der dritte produziert sich mit Verrenkungen als Schlangenmensch. Unser Dynamophon macht diesen Clownerien ein Ende.

* * *

In einem reizenden, von bunten Strahlkörpern erhellten Gartenpavillon wurde der Tee eingenommen. Zur Vergnügung der Gesellschaft hatte unser Wirt mehrere Tänzerpaare bestellt. So konnten wir auch etliche Blüten der Tanzkunst erhaschen, ohne unsere Auffassungskraft besonders zu strapazieren. Denn zu den Tänzen gab es keine elektrische Tonkunst, sondern die Begleitung eines richtigen kleinen Orchesters. Es sah nicht viel anders aus, als in einer großstädtischen Diele.

Jeder Nummer lag sozusagen eine zoologische Idee zu Grunde; wie ja auch bei uns der Fuchs und der Grislybär die wertvollsten choreographischen Grundmotive gegeben haben. Die Kunst-Insel hat sich natürlich von diesem viel zu engen Schema emanzipiert und den Umkreis der Tiermotive wesentlich erweitert. Sehr sinnig imitierten hier die gleitenden und hüpfenden Darsteller eine Mannigfaltigkeit aus allen Gebieten der behaarten, geschwänzten und gefiederten Welt: den epileptischen Kranich, den elegisch vibrierenden Moschusochsen, den wirbelnden Polypen, und eine durch Selbststich zum Tanzorgiasmus erregte Tarantelspinne. Die Beziehung des Tanzes zur Begleitmusik bestimmt sich dadurch, daß die Taktarten konträr gegeneinanderlaufen. Daß der Tanz als eine Darstellung seelischer Zustände, durch Menschenbewegung verkörpert, eine gewisse lyrische Übereinstimmung mit dem Klangrhythmus bedingt, ist durch die Ästhetiker der Insel längst und auf immer widerlegt.

* * *

Zu später Stunde trennten wir uns von der gastlichen Stätte. Die drei Gewaltigen begleiteten uns, und Kakordo beantragte ein kleines gemütliches Stündchen bei einem Glase Wein in seiner Behausung. Meine Gefährten waren zu erschöpft, um dieser Einladung zu willfahren, ich allein entschloß mich zu dem weiten Weg an die Stadtgrenze. Unterwegs eröffneten mir die Ultragenialen, daß sie seit drei Monaten dabei wären, die definitive Neukunst zu erfinden, gegen die alles frühere zum Range von Gestammel und Geklexe herabsinken sollte. Die gesamte Intelligenz der Insel fiebre schon dieser erlösenden Tat entgegen; der Vereinigung aller Künste zu einer einzigen, als deren Träger und Empfänger nicht Auge noch Ohr in Betracht komme, sondern die Nase.

Daß die Sinne selbst diese Vereinigung verlangen, sagte Dadalbra, das steht außer allem Zweifel; sogar vom Tast- und Geschmacksinn läßt sich das behaupten. Man kann ein und dieselbe Sonate in gelb, rosa oder grün spielen. Für meine Empfindung tragen Sie, mein Herr, eine Krawatte in D-dur und die amerikanische Dame, die wir eben verließen, trägt einen Hut in As-moll. Ich subjektiv empfinde einen Septimenakkord als viereckig und eine diatonische Skala als sauer. In einem meiner Dramen kommt ein Held vor, der immer ein salziges Echo in der Pupille hat, und der sich mit einer spitzigen Fuge ersticht. Jeder Klarinetttriller riecht nach roten Nelken und jede Triole nach Moschus. Vertieft man sich in diese Phänomene, so erkennt man, daß sämtliche Sinne nur Ausstrahlungen eines einzigen sind, und dieser einzige sitzt in der Nase.

»Warum denn grade dort? Auge und Ohr sind doch für uns wesentlicher?«

– Es geht nicht nach der physiologischen Wichtigkeit, sondern nach der transzendentalen Bedeutung. Diese sublimiert sich in der Nase zu einer Höhe, hinter der alle andern Sinne weltenfern zurückbleiben. Wir stehen hier durchaus auf dem wissenschaftlichen Boden der Forschungen von Spallanzani, Ribot und Lubbock. Dementsprechend schaffen wir die Nasenkunst durch die »odorische Symphonie«, welche die Dichtung, Musik und Bildnerei überflüssig machen wird.

»Aber, um Himmelswillen, durch welche Instrumente wollen Sie denn das bewirken?«

– Durch gar keine Instrumente. Nur durch trajektorische Willensakte, die vom Genie ausgehen und die Nasennerven suggestiv bearbeiten. Dann werden sich im Empfangsapparat des Geruchmenschen Schwingungen entwickeln, die ihm das wirkliche Wesen aller kombinierten Künste offenbaren.

Ich verstummte und verharrte in meinem Schweigen, als wir uns schon im Salon des Tonkünstlers zu nächtlicher Runde niedergelassen hatten. Vor uns standen die gefüllten Kelche. Plötzlich löste sich mir die Zunge in spontanem Durchbruch: »Na prost, meine Herrschaften, es lebe der Schwindel! Den habe ich heute in seinem genialen Maximum erfahren, und für dieses Erlebnis bin ich Ihnen dankbar.«

Die Ultras wechselten seltsame Blicke. Ich wartete auf Bescheid. Unser Amphitryo sagte zögernd: »Sie sind recht unhöflich.«

»Sagen Sie lieber: sehr aufrichtig. Und in meiner Aufrichtigkeit steckt ein größeres Lob, als in allen Hymnen, die Sie umrauschen. Sie sind für mich die größten Meister, denen ich je begegnet bin; Meister der Neukunst, über alle Widerstände des überlieferten Kunstverstandes zu triumphieren. Meinen eigenen nehme ich aus. Der ist nämlich auch eines trajektorischen Willensaktes fähig, und er verlangt von Ihnen: Vergelten Sie Gleiches mit Gleichem. Ehrlichkeit gegen Ehrlichkeit! Sie haben sich über so viele Peripherien hinweggesetzt, überspringen Sie noch die letzte, die Ihr vorgespiegeltes Jenseits von meinem bescheidenen Diesseits trennt – dann wollen wir uns die Hände reichen.«

Kakordo biß sich auf die Lippen: »Wie lange gedenken Sie noch in Helikonda zu bleiben?«

»Das hängt von Ihrem Bescheid ab. Oder wollen Sie mir Bedingungen stellen? Ich akzeptiere jede, die Sie ohne Vorbehalt aussprechen. Keine Hintergedanken – das ist meine Bedingung.«

– Gut. Sie werden morgen mit dem Frühesten die Anker lichten. Und Sie geloben mir bei dem Höchsten, was Sie in der Kunst kennen, bei Gott, Goethe und Beethoven, daß Sie keinem unserer Volksgenossen von dem, was wir Ihnen eröffnen werden, eine Mitteilung machen.«

»Mein Wort darauf. Ihre Eröffnung verrät sich danach von selbst. Sie werden mir anvertrauen, daß Sie nicht eine Silbe von dem Hokuspokus glauben, den Sie der Insel vormachen.«

– Er ist ein Mittel im Kampf ums Dasein; eine Leiter zum Aufstieg; und die Hauptsache: In den Anfangsstadien glaubt man selber an ihn. Man gerät in den Bann der Halluzinationen, und verfängt sich in Wahngebilden, deren Betörung auf den Urheber zurückwirkt. Später gerät man an einen merkwürdigen Punkt, wo Erkenntnis, Ironie und Verachtung zusammenfließen. Man probiert, wie weit man im Kunstgebiet mit dem Bluff gehen kann, und man findet keine Grenze. Folgt erst einer, dann ergeht es dem ganzen Troß wie den Hammeln des Panurg; besonders wenn ein so tüchtiger Oberhammel vorhanden ist wie unser Präfekt Spiridon. Für den Veranstalter der Charlatanerie liegt eine psychologische Wollust in dem sicheren Vorgefühl: er darf alles wagen, alles bieten, noch so dick aufstreichen – die Leute kriechen auf die Leimrute. Es ist wie eine Lotterie ohne Nieten. Man setzt auf die Verblendung der Betölpelten und kommt immer mit Gewinn heraus. Jede Exaltation wird die Mutter einer Horde von Gaukeleien. Ja, wir haben die ganze Insel unter Bluff gesetzt, und in den nächsten Wochen werden sich alle an unserer Odorischen Symphonie berauschen, die gar nicht existiert und niemals existieren kann. Wo die Möglichkeit des Erzeugers aufhört, fängt die Phantasie der Genießer an.«

»Es wird Ihnen aber schwer fallen, danach noch einen neuen Ismus aufzubringen.«

– Gar nicht schwer. Aus jeder Vokabel im Lexikon läßt sich ein Ismus destillieren, der besorgt dann allein seine Propaganda. Und schließlich, warum soll man der Gemeinde ihre Illusionen rauben? Sie würde unglücklich sein, wenn sie erführe, daß es in Wahrheit nur zwei Ismen gibt: den Talentismus und den Stupidismus! Jeder bezeichnet die ewige Richtung, und ihr wollen wir noch eine kleine Huldigung bringen, bevor wir auseinandergehen.«

Er holte drei Pulte herbei und die Extremisten griffen nach den alten Instrumenten. Erste Überraschung: richtige Streichwerkzeuge waren im Hause des Ultra vorhanden, und richtige Notenblätter aus der überwundenen Epoche. Zweite Überraschung: auch der Maler und der Dichter verstanden sich auf die tönende Kunstübung, und ich erfuhr, daß sich die drei Verwegenen hier allwöchentlich bei tiefer Nacht zusammenfanden, um heimlich Kammermusik zu machen.

Und nach wenigen Sekunden intonierten sie Mozarts Streichtrio in Es-dur vom Jahre 1788. Alle sechs Sätze wurden gespielt, und in blühenden Figuren stiegen sie auf, aus einfachen Motiven mit seraphischer Kunst entwickelt. Wie seltsam, daß solcher Zauber aufzukeimen vermochte, in den antiquierten Ganz- und Halbtönen, ohne elektrischen Transzendentaltonerzeuger, ohne Dynamobetrieb, bloß aus einigen mit Schafsdärmen bespannten Holzbrettchen!

Ich träumte mich in die Rückertsche Gestalt hinein, in den ewig jungen Chidher: »und aber nach fünfhundert Jahren will ich desselbigen Weges fahren«. Unausdenkbar, welche Futurismen dann auf der Kunstinsel Helikonda umgehen werden. Aber vielleicht werden auch dann noch in einer verlorenen Ecke des Eilandes solche Töne der Vorwelt auferstehen, um in gänzlich zurückgebliebene Ohren ein Glücksgefühl zu träufeln.

Die Zwischen-Inseln

Bei den Zweiflern. – Die Relativisten und die Als Ob-Leute. – Insula complicatoria. – Die Epikureische Insel. – Die Pramiten. – Die Insel des Einsamen.

Unser jeweiliger Aufenthalt auf den einzelnen Inseln war nicht so kurz, als es nach dieser Darstellung manchem Leser scheinen möchte. Ich habe mich da eines Verfahrens bedient, das auch der Lehrfilm anwendet, wenn etwa das Wachstum einer Pflanze in Zeitverkürzung veranschaulicht wird. Gerade durch Überschlagung der zwischenzeitlichen Glieder soll die Deutlichkeit des Vorgangs gesteigert werden. Sonach verlief unsere Fahrt, chronologisch genommen doch erheblich gedehnter, als dieser Bericht verrät, und mancherlei Einzelheiten, die hier als im Minutenmaß ausgeführt wurden, haben in Wirklichkeit Stunden und Tage beansprucht. Und hieraus erklärt es sich auch, daß eine auf›s Praktische gestellte Natur wie unser Amerikaner allmählich gewisse Zeichen von Ungeduld aufsteckte. Er wäre nun schon so lange unterwegs, das Entdeckungsprogramm sei doch im Großen und Ganzen schon vollzogen, und er verspüre Heimweh nach seinen heimischen Geschäften; und wenn er sich auch nicht als Despoten der Expedition aufspielen wolle, so wünsche er doch bald ein Limitum.

Das mußten wir ihm schon bewilligen, und zwar derart, daß wir eine bestimmte Gruppe als die letzten festlegten, auf der wir Aufenthalt nehmen wollten. Ich hatte in meinem Nostradamus eine Stelle gefunden, die lose auf sie anzuspielen schien, und dieser dunkle Hinweis wurde durch gewisse Mitteilungen ergänzt, die uns unterwegs gerüchtweise angeflogen waren. Ich entsann mich einer gelegentlichen Äußerung Forsankars, der von »Inseln Ethischer Kultur« gesprochen hatte; und durch weiteres Kombinieren mit Hinzuziehung unserer Lagekarte ließ sich deren Position auch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit im Süden der Tuskarora-Fläche nautisch bestimmen.

Dahin hielten wir also den Kurs, mit dem Versprechen, etwaige kleinere Inseln, an denen wir nunmehr vorbeikämen, nur ganz flüchtig zu berühren. Es sollte uns genügen, wenn wir von diesen Objekten nur soviel erhaschten, als nötig war, um das Gesamtbild der Entdeckung abzurunden. Dementsprechend wird hier auch der Bericht eine abermalige Zusammendrängung erfahren. Nur die äußersten, eindringlichsten Momente will ich herausstellen, mit dem Vorbehalt, den Finalsatz der Expedition auf den Inseln der Ethischen Kultur wiederum etwas breiter auszumalen. —

Die nächste Insel, die wir anliefen, Dubiaxo, liegt klimatisch wie geistig in einer Atmosphäre des Nebels. Ich möchte sie die »Insel der Zweifler« nennen, nach dem Hauptprinzip, das auf ihr Geltung gewonnen hat. Die Bewohner haben sich – wie schon manche Philosophen seit Pyrrho – in den Gedanken versponnen, daß der Mensch überhaupt in keinem Betracht zu einer halbwegs sicheren Einsicht gelangen könne. Die Natur, so meinen sie, und besonders unsere Organe und Verstandesapparate befinden sich in einem unaufhörlichen Wechselspiel des Täuschens und Getäuschtwerdens, alles was uns als Denkprozeß, als Empfindungsvorgang, als Erlebnis erscheint, ist nur Halluzination. Und aus diesem Prinzip ziehen sie logisch ziemlich einwandfrei die Folgerung, daß es im Grunde recht gleichgültig wäre, was der Mensch beginne, wie er plane, arbeite, sein Leben gestalte, da er ja nie wissen könne, ob er überhaupt ein Leben absolviere.

Es verlohnt sich nicht, ihnen mit Beweisen beizukommen, denn sie halten ihre Argumente für unüberwindlich, und so phlegmatisch sie auch diese Argumente vortragen, so merkt man doch, daß es ganz unmöglich ist, sie zu entwurzeln. Freilich könnte man ihnen zurufen: wenn ihr schon ganz waschechte Skeptiker sein wollt, so bezweifelt doch auch euren Zweifel! Wo nichts Denkbares gilt, kann doch auch euer Argument der absoluten Ungültigkeit nichts gelten!

Sie haben dagegen nur ein trübes Lächeln. Diesen Fehlerzirkel des Denkens, so murmeln sie, haben wir in uns selbst schon tausendmal abgehaspelt. Schließlich muß man an irgendeinem Punkte dieses Zirkels haltmachen, sonst bliebe man ganz ohne Prinzip, und an irgendein Prinzip muß man sich doch klammern. Das ist ein Zwang, dem wir nicht ausweichen können, also sind wir Skeptiker und leben skeptisch.

»Also ihr gebt wenigstens zu, daß ihr lebt. Das ist schon ein Zugeständnis.«

– Wenn euch an diesem Scheingeständnis etwas liegt, so soll es uns scheinbar freuen, in dem Zustand, der uns augenblicklich wie eine reale Existenz vorkommt. Ob dieses wirklich der Fall ist, das läßt sich niemals ermitteln, denn zwischen Wachen und Träumen ist ein zuverlässiges Kriterium niemals auffindbar. Sie, Herr, sind fest überzeugt, daß Sie sich auf einer Expedition befinden, und daß Sie soeben die seltsame Insel der Zweifler entdeckt haben. Hätten Sie sich aus ihrer Heimat nie herausgerührt und die ganze Fahrt nur geträumt, so wären Sie davon genau ebenso überzeugt, so lange der Traum anhält.

»Aber das Moment des Erwachens gibt die wirkliche Sicherheit. Ich habe in der verflossenen Nacht geträumt, ich befände mich in Berlin. Als ich aufwachte, erkannte ich meinen Irrtum mit absoluter Helligkeit. Das Schiff, meine Gefährten, unsere Matrosen, der Ozean und der Anblick ihrer Insel gab mir im Augenblick die volle Evidenz des wahren Erlebens.«

– Nur die subjektive Evidenz, die auch alle Täuschungen begleitet. Sie können in der nächsten Minute abermals aufwachen und eine ganz neue, völlig ungeahnte Evidenz erleben. Sie können sich dann auf einem fernen Stern der Milchstraße vorfinden, oder in der Arche Noahs, oder in einem außermenschlichen Zustand Ihrer Körperlichkeit. Niemals gelangen Sie an eine objektive Instanz. Der Stuhl des entscheidenden Richters ist unbesetzt, und Ihre eigene Persönlichkeit zerfällt immer in zwei Parteien, von denen nur die eine gegenwärtig ist, während die Gründe der abwesenden gar nicht gehört werden. Sobald Sie aufwachen oder einschlafen, tritt das Gegenspiel ein: die andere Partei deklamiert, und die erste ist verschwunden. Es wird also immer nur in die Luft hineinplädiert, ohne daß die leiseste Möglichkeit vorhanden wäre, ein Urteil zu erzielen.

»Schließlich bleibt immer noch die Sicherheit des Gefühls. Man kneift sich mit aller Gewalt in den Arm, man spürt den Schmerz und daran erkennt man, daß der Traum aufgehört hat.«

– Und darauf wollen Sie sich verlassen? Das ist, mit Verlaub zu sagen, kindisch und einfältig. Alle Sinne führen irre, und das Gefühl mindestens so stark, wie Auge und Ohr. Nehmen Sie eine Flocke von fester Kohlensäure. Sie ist so eisig kalt, daß Quecksilber darauf im Augenblick gefriert. Aber wenn Sie sie mit dem Finger berühren, erklären Sie sie für kochend heiß, und der Schmerz objektiviert sich in einer Brandblase. Wenn einem das ganze Bein abgenommen ist, spürt man immer noch die Hühneraugen am nicht vorhandenen Fuß; der Verstümmelte weiß, und das Auge bestätigt, daß das Glied fehlt, sein Gefühl behauptet trotzdem das Gegenteil. Von den übrigen zahllosen Sinnestäuschungen ganz zu schweigen. Selbst der gelehrteste Mensch steht den Erscheinungen gegenüber, wie das Kind, das nach dem Mond greift. Ja, der ganze Inhalt Ihrer europäischen Wissenschaft ist doch gar nichts anderes als der fortgesetzte und auf ewig unerfüllbare Versuch, den Menschen aus diesen Täuschungen herauszuwickeln, wobei immer nur ein alter Sinnentrug durch zehn neue ersetzt wird. Wir auf der Insel Dubiaxo verfahren nur konsequent, indem wir ein für allemal den Zweifel als den alleinigen Souverän des Denkens erklären.

»Und wie verhalten Sie sich, wenn einmal alle Sinne aller Beteiligten über eine Tatsache genau dasselbe melden? Da haben Sie doch eine unumstößliche Kontrolle?«

– Nicht im Geringsten. Denn das, was Sie eben sagen, kommt überhaupt niemals vor. Die Sinne widersprechen einander schnurstraks und dauernd, im Größten wie im Kleinsten. Ich sehe Sie, mein Herr, was heißt das? Es ist die Umschreibung dafür, daß ich von Ihnen ein winzig kleines Bildchen auf der Netzfläche meines Auges habe. Und dieses Miniaturbildchen steht verkehrt, mit dem Kopf nach unten. Schon haben Sie den Krieg zwischen Gesicht und Gefühl, denn der Tastsinn bebehauptet ganz etwas anderes. Er führt das Auge ad absurdum, er will mit festen Maßstäben messen und verfällt nun seinerseits ins Absurde, denn um aus den Maßstäben etwas zu erfahren, müssen wir wieder das Auge heranholen, dessen verschrumpfendes Zeugnis wir soeben verworfen haben. Also unlöslicher Wirrwarr schon im ersten Anlauf aller Betrachtung.

»Aus dem die Physik und Mathematik den Ausweg zu finden hat.«

– Schöne Auswege haben wir da erlebt. Die Physik soll eine mathematische Angelegenheit sein. Ei, wie pompös! Sie hat sich mit mathematischer Unfehlbarkeit aufgedonnert, um schließlich herauszubekommen, daß für jeden Punkt im Universum eine andere Geometrie gilt. Wo aber unendlich viele Herren mit unendlich verschiedenen Verordnungen Gewalt haben, da regiert selbstverständlich gar keiner, das besagt: die Geometrie ist ein Phantom, sie existiert überhaupt nicht als reale Brauchbarkeit. Selbst die Exakten geben heut zu, daß die mechanisch-mathematische Weltanschauung in allen Fugen kracht und nahe daran ist, sich in einen Trümmerhaufen zu verwandeln. Und nun gar in aller Psychologie, in der Erkenntniskritik, wo sie Wunder versprach, was hat die Mathematik geleistet? Ein einziges fadenscheiniges Gesetzelchen, einen papierenen Paragraphen, eine Lächerlichkeit!Der Sprecher meinte offenbar das sogenannte Weber-Fechnersche Gesetz, den ersten und allerdings unzureichenden Ansatz zu einer mathematischen Ausgestaltung der Psychophysik Nun ist aber – nach Ihrem Kant – in jeder Lehre so viel Wissenschaft enthalten, als Mathematik darin anzutreffen. Und da in allen Geisteslehren nicht eine Spur von zuverlässiger Mathematik steckt, so gibt es gar keine Geisteswissenschaft, und nichts bleibt übrig als die absolute Skepsis an allem, was gedacht wird. Der mathematische Siegesrausch ist verflogen und hat sich in einen kontramathematischen Katzenjammer verwandelt …

»Sie wollen sagen, die Menschheit hat ein paar Jahrtausende lang regulär mathematisch geträumt und findet sich beim Erwachen in einer irregulären, unmathematisch konstruierten Welt?«

– Beim Erwachen? Wieso denn? Auch davon wissen wir ja nichts. Es ist vielleicht nur eine andere Traumphase, die Ihnen jetzt, wo Sie sich in unseren Verdacht einzufühlen anfangen, als Wachzustand erscheint.

»Ihnen aber ebenfalls. Sie sind augenblicklich davon überzeugt, daß Sie mir etwas erklären. Was haben Sie zuvor getan und was werden Sie nach unserer Abreise tun?«

–Ich habe, ein Amt, das heißt, ich bin in der Illusion befangen, ein Amt zu verwalten. Äußerlich betrachtet leben wir ja, und Ihnen selbst mag die Wirtschaft auf dieser Insel nicht sehr viel anders vorkommen, als Ihre eigenen imaginierten Lebensformen. Also was mein Amt betrifft, so bin ich hier »Skeptophylax«.

»Das würde ungefähr dem »Nomophylax« der alten griechischen Freistaaten entsprechen, also dem Gesetzeshüter, der obrigkeitlich über die Beobachtung der Normen zu wachen hat.«

– Daher der Name. Ich sorge dafür, daß das Prinzip des Landes, die Skepsis, der Verdacht, der Argwohn, durchweg aufrecht erhalten wird; angefangen von den Schulen, deren Lehrplan mir unterstellt ist. Die Knaben, Jünglinge, Mädchen und Jungfrauen lernen ihre Fächer, erhalten ihren Unterricht in Sprache, Rechnen, Geographie, Geschichte, und so weiter, wie vermutlich auch anderswo. Nur daß der Lehrer in jeder Lektion ihnen unablässig das größte Mißtrauen gegen den Lehrgegenstand einträufelt. Sie erfahren zum Beispiel, daß die Erde sich um die Sonne dreht, vorausgesetzt, daß man provisorisch die Existenz einer Erde und einer Sonne annehmen will. Der Lehrer erläutert dazu, daß auch die gegenteilige Behauptung – Drehung der Sonne um die Erde – ihre Berechtigung hat. Ich selbst kontrolliere oft den Unterricht und verschärfe die Zweifel: es wäre sehr wohl möglich, daß überhaupt gar keine Drehung stattfände und daß alles stillstünde…

»Herr Skeptophylax, das geht zu weit. Sie übertreiben die Skepsis. Gewisse Dinge bleiben doch dem Verstand erkennbar.«

– Nicht ein einziges. Muß ich Sie an Ihre eigenen Berühmtheiten erinnern? Parmenides hat jede Bewegung geleugnet. Wir folgern das nur weiter aus und halten darauf, daß in den jungen Seelen der Zweifel aufsteigt; auch an der Sonne und an deren Helligkeit. Anaxagoras lehrte, daß der Schnee schwarz sei. Wir tragen das den jungen Leuten vor mit dem skeptischen Anhang »vielleicht«. Wir können es nicht wissen. Möglicherweise ist der Schnee schwarz und die Sonne dunkel.

»Bei dieser Erziehung wird es Ihnen schwer fallen, irgendwelche Definitionen aufzustellen.«

– Brauchen wir auch nicht. Es gibt keine Definitionen, sondern nur Infinitionen. Sie unterscheiden zum Beispiel mit anmaßender Sicherheit zoologische Arten. Die Natur weiß hiervon nichts, und wenn der Mensch Unterscheidungsstriche einträgt, so betrügt er sich selbst. In der Südsee gibt es Inseln, deren Bewohner vor anderthalb Jahrhunderten nur Vögel und Fische kannten. Danach also hatten sie ihre Definitionen. Als fremde Fahrer zum erstenmal Ziegen heranbrachten, erklärten die Insulaner: das sind bestimmt keine Fische; folglich müssen die Ziegen zu den Vögeln gerechnet werden. Einfältige Leute? Aber genau so einfältig verfahren Sie, wenn Sie irgendwelche Abgrenzung für möglich halten. Dem Skeptiker fließt alles ineinander, die Arten, die Individuen, die Erscheinungen, das Ich und das Nicht-Ich.

»Damit sind Sie ja nahe beim Solipsismus?«

– Nahe? Nein. Wir sind längst darüber hinaus. Der Solipsist glaubt nur an sein Innenbewüßtsein und hält es für unmöglich, von diesem auf die Dinge und auf andere Menschen zu schließen. Wir glauben auch nicht an das Innen-Ich. Was da innen vorgeht, und was ihr andern nach Verstand, Instinkt, Vernunft, Empfindung, Wort, Begriff und griechisch nach Nous, Dianoia, Logos, Idea auseinanderlegt, das schwebt für uns in einem gestaltlosen Nebelchaos, und wir geben uns gar keine Mühe, da irgendwelche Sichtung zu veranstalten. Und dieser Verzicht ist die beste Vorschulung für das Weitere, für den jungen Menschen, der mit Zweifel gesättigt aus der Schule ins Leben tritt. Ich muß mich schon so ausdrücken, in der Ihnen geläufigen Redeweise, da wir uns sonst ganz und gar nicht verständigen könnten. Also er handelt sozusagen, er arbeitet, schafft sich eine Existenz und pflanzt sich fort. Aber der anerzogene Denk- und Willensverzicht bleibt ihm treu. Er quält sich nicht damit, weite Pläne zu bauen, lange Veranstaltungen zu treffen und sich in einer Welt der Zwecklosigkeiten auf umständliche Ermittelung des Zweckhaften einzulassen. Ihm genügt das Nächstliegende, zumal auch in diesem die Tat beständig von der Täuschung begleitet wird. Ein Beispiel: Wir hatten vor zwei Jahren ein Schadenfeuer in einem Gäßchen der Stadt. Was tut man in einem solchen Fall? Man löscht mit Wasser, weil man eben von der alten eingewurzelten Übung nicht los kann. Aber die Skepsis meldet sich auch hier mit der Frage: hat dieses Löschen einen Sinn? Wäre es nicht vielleicht zweckhafter, mit Spiritus, mit Öl oder mit Sauerstoff zu spritzen?

»Es ist anzunehmen, daß Sie diesem törichten Zweifel kein Gehör gaben, sondern bei der stets bewährten Wassermethode verblieben.«

– Ja, das taten wir aus alter Gewohnheit, Aber eines der abgelöschten Häuser war, wie sich später herausstellte, ein Seuchenherd. Die Pestilenz griff um sich, und in der Stadt starb der vierte Teil der Einwohnerschaft. Hätten wir damals mit Spiritus gespritzt, so verbrannte das Seuchenhaus mit allen Infektionskeimen in wenigen Minuten, und das wäre sehr viel zweckvoller gewesen. Da sind wir wieder bei den Definitionen: man sagt Schadenfeuer, wo man Nutzfeuer sagen sollte. Und so auch umgekehrt. Sie in Europa haben in einer Welt von gescheiten Nutzvorrichtungen gelebt und Sie haben den gräßlichsten Schaden davon gehabt. Ihnen fehlen ein paar Millionen Skeptiker. Jetzt blicken Sie nach rückwärts und glauben, die Fehler zu entdecken. Aber Ihr ganzes System war ein einziger großer Fehler, und wird ein Fehler bleiben, wenn Sie bei der vermeintlichen Zweckmäßigkeit und bei weitausschauenden Plänen verharren. Weil sämtliche Richtigkeiten von heute lauter Falschheiten von morgen sind. Wir auf der Insel Dubioxa sind wenigstens von vornherein mit den Enttäuschungen befreundet, und diese fallen um so geringer aus, je weniger wir Veranstaltungen treffen, um ihnen zu entgehen.

»Ich schließe aus alledem, daß Sie eine Art Schattendasein führen. Und die Menschen sehen auch danach aus. Ein eigentlicher Lebensdrang, ein turgor vitalis, wird in ihrem Äußeren nicht ersichtlich. Eine verschwommene Melancholie liegt über ihnen, etwas unbestimmt Vernebeltes…«

– Sie brauchen uns deswegen nicht zu bedauern. Ein Schatten lebt auf seine Weise ganz erträglich. Er stößt sich nirgends, er gleitet um alle Ecken, Kanten und Vorsprünge herum, an denen der Vollkörper Hindernisse findet und sich wundschlägt. Da ist ein Graben, eine Schlucht, ein Abgrund; Sie als Person müssen ausweichen, wenn Sie nicht tötlichen Absturz erleiden wollen, der Schatten fliegt glatt hinüber. Weil der Schatten ein zweidimensionales Gebilde ist, das von der Körperwelt nur die geometrischen Bedingungen, aber nicht die praktischen empfängt. Ein Schattendasein ist somit weit unabhängiger und ideeller als ein körperhaftes, und wenn es dem zum System erhobenen Zweifel gelingt, uns den Schatten anzunähern, so müßten Sie uns darum beneiden. Allerdings sind wir noch nicht ganz soweit, das an sich vorzügliche Prinzip hat sich noch nicht vollkommen ausgewirkt. Wir zollen der Körperlichkeit noch manchen Tribut, so durch Schmerzempfindung. Ich zum Beispiel werde sehr von Gallensteinen geplagt, und habe gerade in diesem Augenblick einen bösen Anfall.

Unser Doktor Wehner machte sich anheischig, ihm zu helfen, eventuell durch einen operativen Eingriff. Aber davon wollte der Mann nichts wissen: Skepsis ist besser als Chirurgie. Auch beim ärgsten Schmerz verläßt mich nie die Zweifelsfrage: ist es denn wirklich nicht bloß eine geträumte Qual? Ich könnte ja im nächsten Moment zu einer gänzlich schmerzfreien Existenz erwachen, etwa als ein Schatten, dem die zweidimensionalen Gallensteine nicht die geringste Beschwerde verursachen.

Es fiel mir schwer, diese Möglichkeit mitzudenken. Allein ich mußte mir gestehen, daß eine derart ins Extreme gesteigerte Skepsis ihrem Inhaber tatsächlich einen gewissen Vorteil zu gewähren vermöchte. Wie war es denn mit den klassischen Skeptikern mit Pyrrhon, Karneades, Ainesidemos, Sextus Empirikus? Man muß sie wohl als Vorläufer des auf der Insel herrschenden Prinzipes gelten lassen. Und wahrscheinlich operierten sie alle mit der Vermutung, daß im Höchstgrad des Zweifels eine Wohltat verborgen liegen könnte. Auf den Vorstufen eines Hauses bemerkten wir ein paar kleine Mädchen, die mit Puppen spielten. Diese noch lange nicht schulpflichtigen Kinder zweifelten nicht. Sie wußten ganz genau, daß ihre Puppen lebendige Geschöpfe waren. Es gab also doch noch einleuchtende, unbedingte Wahrheiten in dieser vom Mißtrauen zernagten Gemeinschaft, die vom Wissen nichts wissen wollte.

* * *

Nicht weit von Dubioxa befinden sich etliche Inseln, die wir aus dem bereits erwähnten Grunde der Zeitbedrängnis nur von fernher mit den Blicken begrüßen durften. Sie wären uns gänzlich verschlossen geblieben, hätte uns nicht unser Gewährsmann von der Zweifel-Insel einige Angaben zufließen lassen. Es muß späteren Expeditionen vorbehalten bleiben, festzustellen, ob diese Mitteilungen den Tatsachen entsprechen, oder ob gerade hier das Prinzip des Zweifels ein neues Feld der Betätigung findet.

Die Bewohner der Insel Tivarela, so erfuhren wir, sind seit langer Zeit zur Vorstellung eines besonderen Weltbildes erzogen worden. Während wir in Europa bis in dieses Jahrhundert auf die Offenbarungen der Relativitätstheorie warten mußten, besteht diese Lehre dort bereits seit vierzig Dezennien. Ein großer ortsansässiger Forscher Namens Olhazen, ein Zeit- und Geistesgenosse des Kopernikus, war ihr Begründer. Und so kam es, daß die Insulaner fast gleichzeitig das kopernikanische und das relativistische System in sich aufnahmen. Hieraus ist zu folgern, daß sie in geistiger Hinsicht einen enormen Vorsprung vor uns besitzen. Während wir uns noch anstrengen, der gedanklichen Schwierigkeiten Herr zu werden, ist ihnen die Relativität aller Erscheinungen längst in Fleisch und Blut übergegangen. Wie eine Selbstverständlichkeit hat sie von ihnen Besitz ergriffen, und es erscheint sonach angezeigt, das Gebiet nach dem herrschenden Prinzip als die Relativitäts-Insel zu bezeichnen.

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 ağustos 2016
Hacim:
400 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
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