Kitabı oku: «Die Inseln der Weisheit», sayfa 6
Eva: Mir scheint, Sie verallgemeinern da allzusehr. Sie stehen noch unter dem einseitigen Druck unserer Erlebnisse bei diesen Abderiten von der Insel, die wir soeben verlassen haben. Vielleicht stoßen wir noch auf Gebiete mit vernünftigeren Systemen und besseren Resultaten.
Ich: Dann will ich mich gern belehren lassen. Einstweilen hake ich bei Ihrem Ausdruck »Abderiten« ein, um Ihnen zu zeigen, wie sogar eine Systemisierung nach Worten in eine Sackgasse führt. Wir unterscheiden seit Alters her zwischen klassischem Athen mit hoher Intelligenz und närrischem Abdera. Ich mache mich anheischig, Ihnen zu beweisen, daß die Abderiten gescheiter waren, als die Athener.
Donath: Oho, jetzt wirst du paradox.
Ich: Nur im Verhältnis zur landläufigen Ansicht, die sich immer noch zu dem Dogma bekennt: Alles was ist, ist vernünftig. Das Gegenteil ist der Fall. Die Welt ist ein ungeheures Paradoxon. Wir halten es für ausgemacht, daß Abdera eine Brutstätte der Dummheit gewesen ist, und die bekannten Beweise genügen uns. Folglich ist es vernünftig, die Abderiten für Blödlinge zu halten. Ich brauche nur den Gesichtswinkel etwas zu verschieben, und die Dinge verkehren sich ins Gegenteil…
Der Arzt: Sie meinen, ein Abderitengehirn wäre gar nicht fähig gewesen, so einen Musterstaat wie den platonischen zu erfinden?
Ich: Es hätte auch keine Veranlassung gehabt, denn sein Realstaat war gar nicht so übel. Der ionisch-tejische Volksstamm, der Grundstock Abderas, übertraf an natürlicher Begabung weitaus alle Nachbarvölker des Altertums. Hat ein Homer gelebt, so stammt er aus Ionien, das auch der Ursprung war des Alkäos, der Sappho, der Aspasia, des Apelles, des Anakreon; dieser als geborener Tejer kann schon als halber Abderit gelten. Ihnen schließt sich eine glänzende Reihe großer Männer an, die erweislich im echten Abdera zur Welt kamen: Der Philosoph Anaxarch, Hekatäus, der Philosoph und Geschichtsschreiber, beide Begleiter Alexanders des Großen, der geniale Protagoras, und vor allem Demokritos. Soll man nun wirklich annehmen, daß so viele auserlesene Geister auf einem Boden erwuchsen, der im Übrigen nur Trottel hervorbrachte?
Der Arzt: Aber die Geschichte der Abderiten ist doch eine Fabel von Wieland!
Ich: Sie irren. Wieland hat nur dichterisch frei ausgestaltet, was er in guten Quellen vorfand und bei anderen Fabulierern; im Lucian, im Plutarch, Diogenes Laertius, Athenäus, Galenus und besonders im Juvenal. Alles in allem eine systemisierte Mythologie, die den gebildeten Großstädtern zeigen sollte, wie es in einer beschränkten, von zweibeinigen Eseln bevölkerten Kleinstadt zugeht. Systemisierte Schilda und Schöppenstedt. Unzählige Tausende haben das mit eitlem Amüsement gelesen, ohne auch nur einen Augenblick zu stutzen; ohne sich zu fragen: wie, wenn das ganze Maßsystem dieser Legende falsch wäre? Ich lese das anders; und aus meiner Art, es zu lesen, entwickelt sich die Überzeugung: waren die Abderiten wirklich so wie sie geschildert werden, dann repräsentieren sie einen höheren Menschenschlag, und wir haben alle Ursache, sie zu beneiden.
Erstens einmal: Welche Gesundheit! und als Exponent dieser Gesundheit: welche Galerie von Frauenschönheit! Fast jede Abderitin, die uns vorgestellt wird, eine Atalanta, eine Juno, eine Aphrodite. Das sicherste Merkzeichen einer hohen, in edler Geistigkeit wurzelnden Kultur. Es gibt keine Prachtfiguren wie Aspasia, ohne Periklesse und Alcibiadesse ringsum. Wer das verkennt, der stellt sich selbst – — um in der alten Redeweise zu bleiben – auf den Abderitischen Standpunkt. Ferner: In Abdera wohnte ein Künstlervolk von höchstem Range. Es besaß ein prächtiges Nationaltheater und pflegte die Musik mit jener Leidenschaft, die nur aus ursprünglichem Kunstingenium emporschlägt. Aber diese Musik – so erfahren wir ja – war schlecht, pfuscherisch, närrisch, abderitenhaft; sie verfolgte nicht die einfache Linie, sondern erging sich in Trillern, Koloraturen und Nachtigallkadenzen. Wirklich? Dann haben die Abderiten eine Kunstentwicklung vorweggenommen, die Italien, Frankreich und die germanischen Länder erst um viele Jahrhunderte später nachzuliefern vermochten.
Sie spielten den Euripides und bewogen den Meister selbst, seine Andromeda auf ihrer Nationalbühne zu inszenieren. Dabei fiel die ganze Republik in einen unerhörten Taumel der Begeisterung, alle Einwohner wurden zu Deklamatoren, Sängern, Tragikern, die, wo sie auch standen und wandelten, die herrlichsten Stellen des Dramas wollustfiebernd vortrugen. Wie heute nur ein gelungenes Couplet, ein reißerischer Gassenhauer die Masse ergreift, ja hundertmal intensiver, packten Euripides Verse das Völkchen, und Straßen wie Hallen durchbebte das Echo des Anrufs »Du aber, der Götter und der Menschen Herrscher Eros!« Hätte sich die Legende darauf versteift, uns ein Gemeinwesen von tiefster Empfindlichkeit, von höchstem Seelenadel vorzustellen, so konnte sie kein besseres Ausdrucksmittel finden, als die Darstellung dieses künstlerischen Paroxysmus. Wie im Falle Euripides, so erwiesen sich die Abderiten auch beim Besuch des Arztes Hippokrates als Menschen, denen es Herzensbedürfnis ist, großen Erscheinungen zu huldigen. Und nach Schopenhauer – nicht wahr, Fräulein Eva? – ist ja die Stärke der Verehrung für das Bedeutende zugleich das Maß für den Eigenwert. Sie bewunderten auch den Demokrit, wenngleich sie an ihm mancherlei auszustellen fanden; aber um zu beurteilen, wie sie sich mit ihm auseinandersetzten, vergleiche man ihr Verhalten mit dem der ihnen angeblich unendlich überlegenen Athener. Diese vergifteten Sokrates und befleckten sich durch abscheuliche Verfolgungen fast aller Größen, die ihnen erreichbar waren; in den Schicksalen des Aristides, Protagoras, Aristoteles, Diagoras und vieler anderer dünstet es von Borniertheiten, rauchen Brandfanale. Die Abderiten verbannten nicht, quälten nicht, sie debattierten; oft mit naivem Verstande, aber niemals mit dummem Gerede. Wenn sie sich gegen die Tierversuche Demokrits auflehnten, so haben sie dabei Gelehrte auf ihrer Seite, die in ethischem Betracht vielleicht höher stehen als mancher Vivisektor. Es gab neben Demokrit Philosophen, in der Stadt Protagoras-Schüler, die drauf und dran waren, die letzten denkerischen Geheimnisse aufzudecken. Ihnen waren schon einige Argumente geläufig, die dem Ideenkreis von Hume angehörten; sie entwarfen Kosmogenien, die in einigen Punkten an die von Kant und Laplace erinnern. Daß die Berichterstatter und Fabulierer ihren ewigen Refrain »Albernheiten!« dazwischenwerfen, beweist nur, daß sie von ihrem System, die Leute als Cretins zu verulken, niemals loskonnten. Allgemein bezeichnen sie als Gipfel der Trottelosis, die ernsten Gegenstände heiter, die heiteren ernst zu behandeln. Verfuhren die Abderiten wirklich so, dann haben sie wiederum nur eine tiefe Weisheit weit vorausgenommen, die Gleichsetzung der res severa mit dem verum gaudium, als deren Urheber uns Seneca gilt. Ihr Prozeß um des Esels Schatten zeigt sie als Träger rechtlicher Empfindung und als scharfsinnige Advokaten. Nein, nein! brüllt die systemisierte Legende, dieser Prozeß mit seinem Gewirr von Spitzfindigkeiten zeigt nur, daß sie selbst Esel waren. Man vergegenwärtige sich: »spitzfindige Esel!« Man verleugne das System nur auf eine Stunde und man wird erkennen, daß die Auseinandersetzungen dieser geschichtlich als Idioten abgestempelten Leute eloquenter waren, interessanter und geistreicher als die meisten Plaidoyers des Cicero; daß sie nicht nur spitzsucherisch zu Werke gingen, sondern spitzfinderisch, als die Finder feinster Spitzen in der Kunst des Argumentierens.
Ich übergehe ihren stets regen Patriotismus und verweile nur eine Sekunde bei einigen ihrer vortrefflichen Einrichtungen für Kunstpflege und soziale Fürsorge. Bei den Abderiten, und wohl bei ihnen zuerst, entsagte man dem barbarischen Gebrauch, Weiber von Mannspersonen spielen zu lassen; ihre Iphigenien und Andromachen waren wirkliche Frauen, die ihre fraulichen Reize auf der Bühne voll entfalten durften. Das Theater, als staatliche Angelegenheit, wurde aus staatlichen Geldern gespeist, dergestalt, daß nicht nur die Schauspieler und das Orchester, sondern auch die Dichter und Tonsetzer von Staats wegen reichlich versorgt waren. Und obendrein erhielten die beiden untersten Zuschauerklassen zu ihren Freikarten eine Gratisverköstigung in Brot und Feigen für die Dauer jeder Vorstellung. Bitte, vergleichen Sie damit die Maßregeln, die heute für uns Nicht-Abderiten gelten; die sich mit der Devise »die Kunst dem Volke« drapieren und die sogar den Besuch der Galerien und Museen einer Eintrittstaxe unterwerfen. Ja, wir haben schon Grund, die Einwohner der thrazischen »Schöpsenstadt« zu bespotten. Weil einer unserer Gewährsmänner, Juvenal, tatsächlich für Demokrits Heimat den Ausdruck geprägt hat: Vaterland der Schöpse! Und nun zur Hauptsache. Die Abderiten waren glücklich. Wie ein langgehaltener Orgelpunkt schwingt sich der Grundton fröhlicher Zufriedenheit durch alle Darstellung. In ihrem Bewußtsein lebte es unerschütterlich, daß sie sich aller Welt voraus die beste Verfassung, die besten Einrichtungen, Sitten und Denkweisen erschaffen hatten. Der Gradmesser für diese Taxe war ihr Glück, und sie hielten ihn für den einzig zuverlässigen. Er ist es auch wirklich, er steht als in sich evident außerhalb des Beweises, unnahbar für irgend einen Gegenbeweis. Und da uns von keinem Staatswesen berichtet wird, das seine Selbstzufriedenheit so nachdrücklich bekannt hat, so bleibt uns nichts übrig, als zuzugeben: Abdera war unter allen uns bekannten Staaten der vollendetste.
Eva: Mit einer Ausnahme, allenfalls. Der Platonische Staat von Balëuto schien mir, nach dem Glück der Insulaner beurteilt, nicht wesentlich hinter dem Abderitischen zurückzustehen.
Donath: Sollten wir etwa danach alle unsere Einsichten umkrempeln?
Ich: Das wird uns nicht gelingen, denn hierzu müßten wir einen Betrachtungsstandpunkt außerhalb unserer Person gewinnen. Aber der Vorsicht halber wollen wir uns erinnern, niemals unser Urteil abzuschließen. Es gibt immer eine Berufung. Diese Menschen, die sich im Zeichen Platos freuten, erscheinen uns als Abderiten. Vielleicht sind sie es im Sinne derer, die in Abdera nur ein närrisches Krähwinkel sehen; vielleicht in dem anderen Sinne, den ich Ihnen soeben entwickelt habe. Dann wären wiederum wir, als Betrachter, die Juvenalischen Abderiten. Wie soll man diese Antithesen überbrücken, wie aus diesem Circulus sich her auswickeln? Ich weiß es nicht. Aber es ist ja nicht unsere Aufgabe, solche Widersprüche erklärend zu lösen, sondern sie aufzusuchen. Wenn die erste Insel darin vorbildlich war, so läge eigentlich hierin der Zweck unserer Entdeckungsreise. Segeln wir also weiter, ich sehne mich nach Abfahrt.
Mein Wunsch war erfüllt, ehe ich ihn noch ausgesprochen hatte. Wir fuhren schon seit einer Viertelstunde, ohne daß ich das Loslösen vom Kai bemerkt hatte. Spiegelglatt lag die Tuscarora-Fläche, und in wenigen Tagen erreichten wir ein neues unbekanntes Eiland.
Vléha
Die Insel der glücklichen Bedingungen
Ich habe stets die poetisierenden Schriftsteller beneidet, die es auf gut Glück unternehmen, eine Landschaft in Worten abzubilden. Nicht nur wegen des standhaften Glaubens, den sie in ihre Kunst setzen, sondern auch wegen der Virtuosität, mit der sie ihre beziehungsreichen Bilder aufs Papier zaubern. Aber bis zu der Anerkennung, daß es auch nur einem einzigen geglückt wäre, eine Kongruenz, oder auch nur Ähnlichkeit zwischen Landschaft und Wortbild herzustellen, kann ich mich nicht versteigen. Ich muß dies vorausschicken, da ich selbst sehr bald in die fatale Lage geraten werde, einen landschaftsbildnerischen Versuch zu unternehmen. Denn mit der bloßen Versicherung, daß das zweite der von uns entdeckten Gelände, die Insel Vléha, ein landschaftliches Wunder sei, ist nicht auszukommen. Ich verspüre vielmehr die Pflicht und Notwendigkeit, die Besonderheit dieses Landschaftswunders herauszuheben, da mir dies für die Darstellung der dort angetroffenen Menschencharaktere unerläßlich erscheint. Was uns als Verfassung, als Geistesrichtung der Menschen entgegentrat, ist so innig mit der Natur verflochten, daß ich im ersten Anlauf nicht umhin kann, es auszusprechen: für diese Insel hat die Natur selbst die Verfassung aufgestellt! Alles Menschenwesen auf ihr besteht nur in der verschiedenen Einstellung der Individuen auf sie, auf die Art, in der sie demiurgisch, architektonisch, gärtnerisch, physikalisch über den Raum disponiert hat.
Aber wie gelange ich zur Schilderung? Ich sehe mich unter den besten Mustern des Schrifttums um, fest entschlossen, zu benutzen, was nur brauchbar wäre, und ich finde keinen Anhalt. Alle Be-schreibungen lösen sich bei näherem Zusehen in Um-schreibungen auf. Nichts als Gleichnisse, Metaphern, Figuren, die projektivisch sein wollen, ohne die Möglichkeit projektivischer Gestaltung. Weil Dinge auf einander bezogen werden, die in ganz verschiedenen Welten liegen. Der Dichter will mir einen Höhenzug, eine Berglinie schildern, und er tut dies mit Metaphern, die aus der Musik stammen; er führt mich in ein Labyrinth von Felsen und erläutert sie mit Bildern aus der Zoologie; optische Wirkungen, die von bestrahlten oder vernebelten Wiesen und Wäldern ausgehen, werden mythologisch auf irgend einen unvergleichbaren Vergleichsboden überpflanzt. Diese Metaphorik führt, rein literarisch genommen, zu prachtvollen Ergebnissen, und der Leser verwechselt dann regelmäßig den literarischen Genuß mit der Anschaulichkeit, die ihm niemals geboten wird, noch geboten werden kann. Äußerstenfalls tauchen in ihm Erinnerungsbilder an Bekanntes auf, nicht an das Einzigartige, Unbekannte, aus dem Schema herausfallende. Nicht dieses wird durch die Darstellung enthüllt, sondern das Unvermögen und die Verlegenheit des Autors, der sich vor dem Objekt der Landschaft in derselben Lage befindet, wie der Schriftsteller vor den Objekten der Tonkunst. Der kann meine Erinnerung wecken, wenn er das bekannte Werk analysiert, aber Berge von Metaphern helfen ihm und mir nichts, wenn er eine Symphonie beschreibt, die nur er kennt, nicht aber ich, der Leser.
Auch die wirkliche Illustration, das mit akademischen oder sezessionistischen Mitteln ausgeführte Farbenbild bleibt kümmerlicher Behelf und tastende Andeutung. Wiederum müssen wir unterscheiden zwischen dem artistischen Wert und dem Erwecken einer sinnlichen Vorstellung, die auch nur in losestem Anklang das landschaftliche Original wiedergibt. Ich leugne es rundweg, daß irgend ein Landschafter über das rein metaphorische hinauskommt. Er ergreift ein Stimmungsmoment, übersetzt es in ein farbiges Gleichnis und vernachlässigt tausend andere, von denen kein einziges fortgelassen werden dürfte. Er arbeitet mit dem Auge fürs Auge, das heißt für einen Sinn unter den vielen, die der Landschaft gegenüber in Tätigkeit treten. In vielen Fällen kann schon das Ohr, als das empfangsfähige Raumorgan und der Geruch wichtiger werden. Und zudem: der Mensch besitzt unzählige Sinne, von denen die Physiologie nichts weiß, weil sie sich in ihrer Feinheit jeder materiellen Erprobung entziehen. Es gibt keine Wissenschaft von ihnen, nur eine unter der Schwelle des Bewußtseins dämmernde Ahnung, daß sie vorhanden sind. Und erst aus dem Zusammenklingen ihrer aller entsteht das, was wir unter dem lebendigen Eindruck einer wirklichen Landschaft begreifen.
Mit dem Beschreiben ist es also nichts. Man kann nur versuchen, an vereinzelte Erinnerungen zu appellieren und die Phantasie anzurufen, die ein Schattenbild dessen gestalten möge, was zu formen dem Griffel versagt bleibt. Zumal hier, auf der Insel Vléha, die »wirkliche Landschaft« gleichsam unwirklich erschien, wie eine Unmöglichkeit, der gegenüber aus Träumen und Wachen schwer herauszukommen war. Denn sie enthielt in engem Umkreis Schönheiten und Gewalten, wie sie sich sonst in dieser Weise benachbart nirgends vorfinden.
Auf einer Grundfläche, die etwa das doppelte der Größe von Bornholm betragen mag, vereinigen sich tropische und hochnördliche Gestalten, diese bedingt durch gigantische, bis in die Eisregion starrende, von Hochplateaus durchsetzte Erhebungen, jene durch Gebirgsmauern, die ost-westlich verlaufend die Nordwinde absperren und wie Sonnenreflektoren das Tiefland mit allen Stufen von Wärme bis Glut versorgen. Eine Tour von wenigen Meilen erschließt Prospekte wie auf Eiger und Jungfrau, man glaubt sich in Wengernalp zu befinden. Doch nein; denn nahebei zacken sich Profillinien, die nur der Dolomitenwelt angehören; Cimone und Saas Maor grüßen herüber, und bei einer weiteren Wendung gewahrst du ein glühendes Vulkanhaupt, das mit seinem Feuerschein in eine azurene Bucht hinausstrahlt. Beschriebe mir›s einer, ohne daß ich es gesehen, so würde ich vermutlich sagen: stilloses Gemenge; der Eiger muß den Cimone, und der Vesuv muß die Jungfrau stören! ich verlange Einheitlichkeit der Landschaft! warum hätte ich das gefordert? weil eine aus körperlichen Erlebnissen abgeleitete Ästhetik regiert; weil die Allerweltsnatur knausert und wir aus ihrer Not eine ästhetische Tugend machen. Wären wir nie weiter gedrungen als bis zu den sanften Wellenlinien Thüringer Berge, so würde uns schon eine Matte auf dem Rigi mit ihren unendlichen Differenzierungen in Nah- und Fernsicht als verwirrend uneinheitlich vorkommen. Es hängt alles davon ab, wie die Dinge gegeneinander gestellt, miteinander instrumentiert sind. Und da bin ich im ersten Anlauf schon wieder bei dem nicht mehr Beschreibbaren. Man muß es erlebt haben, um zu beurteilen, was die Natur vermag, wenn sie es darauf anlegt, sich zu übertreffen. Dann schlägt sie unsere bequeme Einheitsästhetik glatt zu Boden und errichtet an deren Stelle etwas Neues, Übergeordnetes, Außerweltliches. Erst ist man betäubt, dann erwacht man zu der Idee, daß Ästhetisieren ein kleinliches Geschäft ist solchen Wundern gegenüber.
Aber da wir selbst Organismen sind, so beginnt für uns der Vollklang der Natursymphonie erst so recht eigentlich mit dem Organischen, mit der Vegetation. Wir steigen hinab von den Bergwänden und haben die Wahl zwischen Wiesen, Gärten und Dschungeln. Hat die Natur hier ganz selbständig gewaltet? haben Menschenhände mitgeholfen, um die Üppigkeit noch zu überraffinieren? Ansätze von Gartentechnik scheinen vorhanden, hier und da schimmert ein Promenadenweg, ein Pavillon, ein Springbrunnen durch das Gewirr. Aber diese Nachhilfen haben ersichtlich nur den Zweck, zu verhüten, daß eine Schönheit die andere erdrücke; sie sollen dämpfen, nicht erhöhen; sie treten nicht mit der Selbstbewußtheit auf, wie in den Landsitzen mit feenhafter Ausstattung, die Tasso und Ariost in ihren Gedichten feiern. Man hat sich nicht angestrengt, und man brauchte auch keinen besonderen Fleiß aufzubieten, denn hier waren schon tausend natürliche Feen am Werke, um den Zauber der Kunst über die elementaren Schöpfungen auszugießen. Alle Erinnerungen an jemals erlebte Üppigkeiten verblaßten vor dieser Verschwendung. Ich versuchte zurückzudenken an die Palmen von Bordighera, an die florentinischen Gärten, an die Gärten von Pallavicini und von Mortola, allein ich gab es bald auf, Vergleichspunkte herbeizuholen. Wo blieben die flammenden Rhododendren, die ungeheuren Magnolien der Villa Carlotta bei Bellaggio? Das waren stammelnde Andeutungen einer Natur, die erst hier vegetative Sprache gewonnen hatte. Und welch ein Leben zwischen den Fiederblättern der Palmen, über den Dolden und Kelchen! Die Luft jonglierte mit unwahrscheinlichen Schmetterlingen, mit Vögeln, die vom Kolibri die Zierlichkeit, vom Paradiesvogel die Pracht, von der Nachtigall den Gesang entliehen zu haben schienen, mit Geschöpfen, die sich in Zephyr badeten, aber nach Gestalt und Eigenart in der uns bekannten Klassifikation nicht unterzubringen waren. Wie denn hier nichts in die gewohnte Ordnung der Dinge paßte; weder die eingeschnittenen Buchten mit nordischem Fjordcharakter, die trotzdem Ausblicke auf vorgelagerte Inselchen wie Isola Bella gewährten, noch die Einzelheiten, welche die Szenerie belebten. Gewiß, es währte einige Zeit, bis wir uns von der Verwirrung erholten und unsere Empfänglichkeit auf die neuen Eindrücke umzustellen vermochten. Dann aber überkam es uns wie eine zum ersten Male erlauschte Sphärenharmonie, wie ein jenseitiges Glück, das ins Diesseits übergriff, mit einer Größe und Schönheit des Stils, die in uns die Mittätigkeit der unbekannten Sinne erweckte.
Erst allmählich gelangten wir zu der Erwägung, wie fruchtbar wohl die Insel sein müsse, im Sinne des praktischen Nutzens. Wenn irgendwo, so war hier das Gelände, auf dem man ernten konnte ohne zu säen, und wo das Bibelwort vom Schweiße des Angesichts seine Geltung verlor. Ich entsann mich der dürftigen Analogien aus dem Boden der alten Welt: in Ceylon wächst eine Banane, die 130 mal mehr Nahrungsstoff erzeugt als Weizen auf gleichem Boden; aber dieser Multiplikator war sicherlich verschwindend gegen die Ergiebigkeit der Gewächse auf Vléha. Sonach war anzunehmen, daß die Bewohner, unberührt von jeder materiellen Sorge dem Genuß leben durften, höchstens auf Maßregeln bedacht, wie sie sich des wuchernden Überflusses zu erwehren hätten.
Freilich bemerkten wir zuerst nicht allzuviel von der paradiesischen Frohlaunigkeit, die bei der Bevölkerung als selbstverständlich vorauszusetzen war. Allein wir hatten ja anfänglich mit der Betrachtung der Naturwunder so viel zu tun, daß wir kaum irgendwelche Aufmerksamkeit für die Menschen zu erübrigen imstande waren. Es war ja auch nicht nötig, daß diese die Symbole ihres Glückes wie eine Kokarde heraussteckten, wenn sie nur innerlich so zufrieden waren, wie sie bei solcher Freigebigkeit des Himmels Ursache hatten, es zu sein.
Es gibt in der Stadt Vléha leidlich eingerichtete Gasthöfe, in der Umgebung Rasthäuser und primitivere Bungalows mit und ohne Verpflegung, nach Art der ostindischen, und diese Unterkünfte sind den Bedürfnissen einer Reisebevölkerung angepaßt, die auf der Insel keine unbeträchtliche Rolle spielt. Denn Vléha genießt im ganzen Archipelagus verdiente Berühmtheit und lockt aus minder gesegneten Eilanden Touristen, die in ihrer Heimat jahrüber hart arbeiten, um hier einige freudige Ferienwochen zu genießen. Hieraus erklärt sich auch, daß das Gebiet von Verbindungsmitteln durchzogen ist, bis hinauf zu Steil- und Drahtseilbahnen, welche die alpinen Herrlichkeiten für rasche und bequeme Besichtigung erschließen. Aus eigenem Antrieb hätten die Vléhanesen desgleichen wohl kaum angelegt, ja nicht einmal an ihnen werktätig mitgewirkt; aber sie hatten auch nichts dagegen, daß die »Fremden«, will sagen die Insulaner aus der Ferne, mit ihren Kapitalien, Maschinen- und Menschenkräften hier eingriffen. Sie selbst benutzten die Kommunikationsmittel nur in sehr spärlichem Grade, da sie für Ausflüge, und nun gar für Hochgebirgstouren ursprünglich nur geringes Interesse besaßen.
Was uns selbst anlangt, die wirklich Fremden, die Entdecker, so fühlten wir uns hier, wie fast durchweg auf unserer Expeditionsfahrt, kaum als Objekt der Neugier; wie wir auch reziprok keinen erheblichen Anlaß zum Erstaunen hatten, da diese Insulaner in Aussehen und Tracht von den uns bereits bekannt gewordenen Typen nicht sonderlich abwichen. Sie waren um eine Schattierung dunkler als die Balëutenser, in den Bewegungen lässiger, im Gesichtsausdruck kühler. Ihre Bekleidung war dem Klima angepaßt, zumal die der Frauen und Mädchen, auf deren Stoffe die Bezeichnung des Petronius paßte: »gewebter Wind«. Sie trugen ihre gewirkten Nebel mit unstudierter Anmut, ohne sich dessen bewußt zu werden, daß von ihnen ein sinnlicher Reiz ausstrahlte. Unklar blieb die Optik ihrer Augen, die hin und wieder seelischen Ausdrucks fähig, bisweilen gläsern erschienen. Tritt der Mensch dem Menschen als eine Ladung von Energien gegenüber, so hatte ich den Eindruck, als ob diesen Leuten in ihren Energien eine Dimension fehlte.
* * *
Wir installierten uns flüchtig in einem Gasthof, der zufällig viel freie Räume darbot, und Herr Mac Lintock hielt es für angebracht zwei ganze Stockwerke zu belegen, mehr der Repräsentation als der Notwendigkeit wegen. Denn wir wollten uns wesentlich nomadisch einrichten, unter Mitwirkung von Zelten, für deren Transport wir Träger zu finden hofften. Aber der Amerikaner wollte auch eine Residenz in der Stadt haben und hier den Leuten etwas zu verdienen geben. Er fragte deshalb nach den Preisen und stieß auf Taxen von märchenhafter Billigkeit. Da herrschten patriarchalische Zustände, im Haus für Wohnung und Verpflegung, entsprechend den Marktpreisen, die ich eigentlich in einer Tabelle hierhersetzen müßte, um bei den Lesern ein Gefühl wollüstigen Neides zu erwecken. Es war wie eine Reise in längstvergangene Jahrhunderte, wo man nach den ausführlichen Rechnungsbelegen des Albrecht Dürer für etliche Weißpfennige in den Herbergen sich mit Schmaus und Gezech fröhliche Tage machen konnte. Mac Lintock erklärte durch Dolmetsch, er behielte sich vor, die ihm genannte Taxe merklich zu erhöhen und bei befriedigender Leistung eventuell zu verzehnfachen. Aber der erwartete Effekt blieb aus, unsere Wirtsleute, ein Ehepaar in mittleren Jahren, trafen nicht die geringsten Anstalten zu freudiger Dankesäußerung. Im Gegenteil entgegnete der Wirt ganz ruhig: »wenn der fremden Gesellschaft die Preise nicht gefielen, so stünde es ihr ja frei, anderswo Einkehr zu suchen.«
Donath brachte die Sache rasch und taktvoll in Ordnung und erkundigte sich noch nebenbei nach einer Einzelheit, die ihm am Herzen lag. Auf einer Insel, die schon von weitem gesehen, einen so durchaus tropischen Eindruck machte, müßte man doch auch gewisse zoologische Zugaben befürchten, etwa Schlangen und Skorpione, und er wünsche zu wissen, wie man sich gegen derartige Besuche in den Zimmern am besten schützte.
Der Wirt begriff die Frage nicht recht, und er konnte sie auch nach Maßgabe seiner zoologischen Kenntnisse nicht ausreichend verstehen. Denn die angedeuteten Tiersippen, die sonst als so wesentliche Begleiter extravaganter Natur erscheinen, fehlen fast gänzlich im Register dieser Insel. Ihre Gebelaune findet hier eine Begrenzung, und ihre Fauna reicht eben nur so weit, als die Species für den Menschen mit Nutzen und Erfreulichkeit in Betracht kommen. Von Schlangen insbesondere erzeugt Vléha nur eine einzige Art, eine Klapperschlange, die – wie wir später erfuhren – in den mit jungem Nachwuchs gesegneten Haushaltungen als lebendige Kinderklapper beliebt ist. Giftzähne? ein unbekannter Begriff. Allerdings besäßen diese Tiere Zahndrüsen, die eine eigentümliche Substanz absondern, nämlich ein Opiat, das sich herausziehen läßt und bei Schlaflosigkeit gute Dienste leistet.
Wir machten uns auf die Wanderschaft, um uns zuerst einmal mit den großen Eindrücken zu sättigen, die mit Sicherheit zu erwarten waren. Die Bekanntschaft mit den Menschen, ihren Denkarten und Einrichtungen, das hatte Zeit und trat für uns zurück, besonders für mich, der ich von tiefem Mißtrauen durchdrungen bin gegen den Chorsatz des Sophokles »Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch!« Hier vollends hätte es heißen müssen »nichts ist nebensächlicher als der Mensch«; seine Kleinheit, seine Schwäche und Unwichtigkeit konnte nirgends so evident sein, als in einer Natur, die sich selbst außermenschlich so gewaltig in Szene setzte.
Auf dem Marktplatze bemerkten wir einen Trauerzug mit einem Wagen in der Mitte, der zwei mit Blumen umwundene Särge trug. Sollten wir das etwa für ein unangenehmes Omen halten? Ich war zu solch trübseliger Erwägung nicht recht aufgelegt, zumal ich in dem spärlichen Gefolge die menschenübliche Andacht vermißte. Die Leute schlenderten, und der Kondukt verlor sich in eine Seitenstraße, um dort vor einem tempelartigen Bau haltzumachen. Wahrscheinlich sollten hier die beiden Leichen mit irgendwelchen Formalitäten eingesegnet werden, und es wäre interessant gewesen, diesen Ritus kennen zu lernen. Allein unser Programm wies uns gebieterisch aus der Stadt hinaus und verstattete keine Abzweigung in Raum und Zeit. Da waren wir schon bei den letzten Ausläufern des Ortes, die sich malerisch am Hügel hinauflehnten. Und hier gab es auch wirklich, von uns als unverhoffte Bequemlichkeit begrüßt, einen Triebwagen, der uns rasch weiter beförderte; erst in sanfter Hebung, dann steiler anstrebend zu jenen alpinen Höhen, deren Magie jeden Kulturmenschen so unwiderstehlich beeinflußt. An einer Haltestelle stiegen wir aus und teilten unseren Trupp. Die Mehrzahl der Herren vermutete ganz mit Recht in der Nähe noch besondere Aussichtspunkte und begab sich zur Rekognoszierung über eine Halde, die mit edelweißartigen Sternchen bestickt erschien. Ihr Ziel war ein isolierter Gipfel, den der Kapitän, nach Augenmaß zu urteilen, als in einer Stunde ersteigbar erachtete. Eva und ich blieben zurück, da sie einen Horizontalweg bevorzugte, dessen Eigenart sie noch sympathischer ansprach. Die Wiedervereinigung wurde nicht chronometrisch vereinbart; Zufall und Laune sollten ein wenig mitspielen, man würde sich schon wieder treffen.
Wir beide überschritten eine Alm und gelangten nach einer Pfadbiegung an einen Vorsprung, der einen ganz neuen Prospekt entschleierte. Eva meinte, er erinnere weitläufig an einen bestimmten, sehr berühmten Punkt in den Rocky Mountains. Was mich betrifft, so meinte ich gar nichts. Mir hatte die Gewalt des Eindrucks die Sprache verschlagen. Eine Steinbank lud uns zum Sitzen, und die Amerikanerin, die kleines Malgerät mitgenommen hatte, schickte sich an, eine Skizze zu entwerfen, was mir im Moment ganz erwünscht war, da ich dadurch der Verlegenheit überhoben wurde, Unaussprechbares konventionell in Worte zu fassen.
Nach einiger Zeit kam ein älterer graubärtiger Mann einher, auf Sandalen schreitend, in der Tracht der Insulaner; er ging barhäuptig, besaß indes eine auf den Rücken zurückgeklappte, an einer Halsschnur befestigte Mitra, die auf besondere Standeswürde schließen ließ. Beim langsamen Dahinwandern las er aufmerksam in einem Buche und er schritt vorüber, ohne von uns Notiz zu nehmen, obschon ein flüchtiger Seitenblick verriet, daß er uns bemerkt hatte. Nach etwa zwanzig Sekunden zögerte er, überlegte, senkte das Buch, kehrte um, blieb vor uns stehen und sagte: