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2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › IV. Unionsrechtskonforme Auslegung › 2. Rahmenbeschlusskonforme Auslegung

2. Rahmenbeschlusskonforme Auslegung

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In der Entscheidung Pupino[1] hat der EuGH weiterhin ausgeführt, ein europäischer Rahmenbeschluss könne den einem Richter eingeräumten Entscheidungsspielraum dahingehend beschränken, dass er seine Entscheidung im Interesse der Umsetzung der Ziele des Rahmenbeschlusses und unter Berücksichtigung der Grundsätze des Unionsrechts (hier: Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Recht auf faires Verfahren) zu treffen hat. In der Entscheidung mahnt der EuGH an:

Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlusses heranzuziehen, endet, wenn dieser nicht so angewandt werden kann, dass ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluss angestrebten Ergebnis vereinbar ist. Mit anderen Worten darf der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen. Er verlangt jedoch, dass das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass kein dem Rahmenbeschluss widersprechendes Ergebnis erzielt wird. [2]

Anmerkungen

[1]

EuGH EuZw 2005, 433 ff. – Pupino; Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 289.

[2]

EuGH EuZw 2005, 433 ff. – Pupino, Rn. 44.

2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › IV. Unionsrechtskonforme Auslegung › 3. Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung

3. Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung

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Die unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht findet ihre Schranken zunächst in den Grenzen der Unionskompetenzen selbst. Daher kommt eine unionsrechtskonforme Auslegung nur soweit in Betracht, wie auch das anzuwendende Strafrecht der Durchführung des Unionsrechts dient. Insofern ist jedoch Folgendes zu beachten: Der EuGH versteht den Begriff der Durchführung von Unionsrecht in der Entscheidung Akerberg Fransson[1] weit, so dass auch der Schutz der Durchführung von Unionspolitiken durch flankierendes Strafrecht (hier: strafrechtlicher Schutz von Mehrwertsteueransprüchen) ausreichend ist, um den notwendigen Konnex zum europäischen Recht herzustellen.

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Hierzu hat sich das BVerfG allerdings in einem obiter dictum der Entscheidung zur Anti-Terror-Datei kritisch geäußert und sich vorbehalten, eine Anwendung von Unionsrecht, die zu einer Verletzung der Verfassungsidentität[2] der Bundesrepublik Deutschland führen sollte, zu unterbinden.[3]

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Darüber hinaus findet die unionsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht – auch nach der Judikatur des EuGH[4] – ihre Grenzen in dem auch im Unionsrecht anerkannten Grundsatz nullum crimen sine lege.[5] Daher darf ein nationales Gesetz nicht nur aus national-verfassungsrechtlichen Gründen (für Deutschland aus Art. 103 Abs. 2 GG) keinesfalls über seinen Wortlaut hinaus strafbegründend oder strafschärfend ausgelegt werden. Der Wortlaut des Gesetzes wirkt – das hat der EuGH in der Rechtssache Pupino[6] deutlich gemacht – auch in einem europäisierten mitgliedstaatlichen Strafrecht als äußerste Grenze der Strafbarkeit. Ferner steht außer Zweifel, dass eine Auslegung, die zur Verletzung von Menschenrechten oder europäischen Grund- und Freiheitsrechten führen würde, keine unionsrechtskonforme Auslegung darstellen kann. Der EuGH hat sich in der Entscheidung Steffensen[7] dazu wie folgt geäußert:

Die Grundrechte gehören zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der EuGH zu sichern hat.“ Ferner heißt es in der Berlusconi-Entscheidung: „Daraus folgt, dass dieser Grundsatz [hier lex mitior] als Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts anzusehen ist, die der nationale Richter zu beachten hat, wenn er das nationale Recht, das zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts erlassen wurde, und im vorliegenden Fall insbesondere die Richtlinien zum Gesellschaftsrecht anwendet.

Auch aus der Entscheidung Jeremy F.[8] wird deutlich, dass die europäischen Grundrechte sowie die Grundsätze des Unionsrechts stets zu berücksichtigen sind, wenn harmonisiertes Recht angewendet wird.

a) Grenzen der nationalen Grundrechte im Verfahrensrecht (Taricco)

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Innerhalb der Rechtsetzungskompetenzen der EU kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts jedoch im Einzelfall auch Auswirkungen über den Wortlaut des nationalen Gesetzes hinaus haben, wenn dies notwendig ist, um die Effektivität des Rechts der Europäischen Union zu wahren und die Union von ihrer Rechtsetzungskompetenz bereits Gebrauch gemacht hat. Der EuGH hat in der Entscheidung Taricco[9] vom 8.9.2015 dementsprechend für eine italienische Verjährungsvorschrift entschieden, dass die Regelung durch das nationale Strafgericht grundsätzlich nicht angewendet werden darf, wenn dies dazu führen würde, dass eine effektive Verfolgung von Mehrwertsteuerhinterziehungen, -missbrauch oder -umgehungen nicht verhindert oder geahndet werden kann. Der EuGH betont in dieser Entscheidung die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 325 AEUV rechtswidrige Handlungen zu bekämpfen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union richten. Solchen Taten sei mit abschreckenden und wirksamen Maßnahmen zu begegnen.[10] Aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den Eigenmitteln der Union und der Mehrwertsteuer gelte diese Verpflichtung auch für den Bereich der Mehrwertsteuer. Grundsätzlich seien die Mitgliedstaaten zwar frei darin, ob sie Verwaltungssanktionen oder Kriminalstrafen als Mittel der Bekämpfung des Mehrwertsteuermissbrauchs wählen, jedoch seien strafrechtliche Maßnahmen im Bereich schweren Mehrwertsteuerbetrugs unerlässlich. Zumindest in schweren Betrugsfällen, müsse das nationale Recht nach Art. 2 Abs. 1 des PIF-Abkommens auch Freiheitsstrafen vorsehen.[11]

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In dem zu entscheidenden Fall sah die Große Kammer des Gerichts diese Effektivität dadurch beeinträchtigt, dass die vom nationalen Gericht abzuurteilenden schweren Fälle von Mehrwertsteuerbetrug durch eine kriminelle Vereinigung nach italienischem Strafrecht nach höchstens acht Jahren und neun Monaten – einschließlich aller Verlängerungen und Ruhensphasen – verjährten. Dies führte nach der Darstellung des vorlegenden Gerichts dazu, dass bereits im Jahr 2014 absehbar war, dass die Durchführung des Strafverfahrens in allen Instanzen nicht bis zur Verjährung im Jahr 2018 erfolgt sein würde, die Taten mithin nicht bestraft werden könnten. Der EuGH stellte daher fest, dass eine nationale Verjährungsvorschrift, die dazu führt, dass schwere Fälle von Mehrwertsteuerbetrug in einer großen Zahl nicht sanktioniert werden können, weil sie regelmäßig verjährt sind, bevor eine endgültige Entscheidung ergehen kann, zur mangelnden Abschreckung und Wirksamkeit des nationalen Strafrechts führt.[12] Soweit das nationale Gericht zu dem Ergebnis komme, dass die nationalen Bestimmungen unter dieser Maßgabe dem Unionsrecht nicht genügen, seien sie ggf. unangewendet zu lassen, um die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.[13]

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Für den Fall der Nichtanwendung einer solchen, den Beschuldigten begünstigenden Bestimmung hat der EuGH allerdings angemahnt, dass die Grundrechte des Beschuldigten zu wahren sind. Der Anwendungsvorrang könne hier nämlich dazu führen, dass Sanktionen verhängt werden, denen die Beschuldigten wahrscheinlich nicht hätten unterworfen werden können, wenn die Bestimmungen des nationalen Rechts angewendet worden wären. Doch weist die Große Kammer auch darauf hin, dass Art. 49 der GRCh nicht verletzt wäre, wenn man ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage die Verjährungsvorschriften ablehnte, weil weder eine Handlung oder Unterlassung unter Strafe gestellt wäre, die vorher nicht strafbar war, noch eine Sanktion verhängt würde, die zuvor nicht angedroht wurde. Vor einer Aussetzung der Verjährung, die die Strafbarkeit als solche nicht betreffe, schütze weder Art. 49 GRCh noch Art. 7 EMRK.[14] Verjährungsrecht ist nach Auffassung des EuGH also – wie nach der h.M. im deutschen Strafrecht – Verfahrensrecht und unterfällt daher nach h.M. nicht dem Anwendungsbereich des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Analogieverbots.

b) Verfassungsidentität und Effektivität des Unionsrechts (M.A.S. & M.B.)

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Bevor sich die Wirkungen dieser Entscheidung richtig abzeichnen konnten, hat die Große Kammer auf Vorlage des italienischen Verfassungsgerichts erneut über diese Fallgestaltung entscheiden und ihre Ausführungen präzisieren müssen. In der Entscheidung M.A.S. vom 5.12.2017[15] bestätigte der Gerichtshof zunächst grundsätzlich seine Taricco-Rechtsprechung und stellt fest, die nationalen Gerichte seien aus Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV verpflichtet, in Strafverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten innerstaatliche Verjährungsvorschriften, die der Verhängung wirksamer und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegenstehen oder für schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union kürzere Verjährungsfristen vorsehen als für Fälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats, auch dann unangewendet zu lassen, wenn sie zum nationalen materiellen Recht gehören. Eine Ausnahme lässt der EuGH jedoch für den Fall zu, dass ihre Nichtanwendung wegen mangelnder Bestimmtheit der anwendbaren Rechtsnorm oder wegen der rückwirkenden Anwendung von Rechtsvorschriften, die strengere Strafbarkeitsbedingungen aufstellen als die zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat geltenden Rechtsvorschriften, zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen führt.

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Diese auch als Taricco II bezeichnete Entscheidung wird z.T. als Kehrtwende in der Rechtsprechung des EuGH und als konkludente Bestätigung des Vorbehalts der Verfassungsidentität angesehen.[16] Der italienische Verfassungsgerichtshof hatte den Sachverhalt nämlich zur Beantwortung der Frage vorgelegt, ob ein nationales Gericht die verfassungsrechtlich vorgesehenen Garantien (Gesetzlichkeitsprinzip) unbeachtet lassen muss, um dem Unionsrecht zur effektiven Durchsetzung zu verhelfen. Der EuGH hat hier nach der wohl überwiegenden Ansicht der Verfassungsidentität einen Platz eingeräumt und dem nationalen Verfassungsrecht die Entscheidung überlassen, wie weit der Schutz durch den Nullum-crimen-Grundsatz gehen soll, indem ihm die Entscheidung zusteht, was straf- und strafbarkeitsbestimmende Vorschriften sind. Hier wird nach Burchardt[17] die Absolutheit des Vorrangs des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht ein Stück weit zurückgenommen.

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Doch sollte sich die nationale (Verfassungs-)gerichtsbarkeit keinesfalls darauf verlassen, dass der EuGH die Behauptung, durch die Durchsetzung des Unionsrechts sei die Verfassungsidentität betroffen stets ungeprüft hinnehmen wird.[18] Vielmehr wird der EuGH insofern zumindest die bereits vom Generalanwalt Bot in seinem Schlussantrag angedeutete Plausibilitätskontrolle durchführen, so dass nur elementare Garantien vom Gewicht des Gesetzlichkeitsprinzips und des Schuldgrundsatzes[19] zur Verfassungsidentität gehören dürften. Es geht also um den unantastbaren Kern des Grundgesetzes.[20] Schon bei einzelnen Ausprägungen des Nemo-tenetur-Grundsatzes hat das BVerfG die Verfassungsidentität nicht mehr berührt gesehen, weil dieser Grundsatz nur im Kernbereich zur Verfassungsidentität gehöre.[21]

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Der Entscheidung des EuGH in Sachen M.A.S. & M.B. könnte noch eine weitere Relativierung des Schutzes der nationalen Grundrechte entnommen werden. Denn die Große Kammer formuliert ihre These von der Berücksichtigung nationaler Verfassungsidentität vor dem Hintergrund des Vorbehalts einer nur teilweise erfolgten Harmonisierung:

Im vorliegenden Fall waren die Rechtsvorschriften über die Verjährung von Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit auf Unionsebene noch nicht harmonisiert. Dies ist erst durch die Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29) teilweise geschehen. Es stand der Italienischen Republik damals also frei, zu bestimmen, dass die Rechtsvorschriften über die Verjährung ebenso wie die Rechtsvorschriften über die Straftatbestände und das Strafmaß zum materiellen Strafrecht gehören und deshalb wie Letztere dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unterliegen. [22]

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Damit legt der EuGH die Frage nach der Verfassungsidentität nicht vollständig in die Hand der Mitgliedstaaten. Die Passage ist vielmehr wohl so zu verstehen, dass den Mitgliedsstaaten das Recht zustehen kann, ihre Verfassungsidentität auch in der Weise zu schützen, dass Vorschriften, die einer effektiven Durchsetzung des Unionsrechts entgegenstehen angewendet werden, um die elementaren Garantien der mitgliedstaatlichen Verfassung zu schützen. Aber Kriterien für die Beurteilung, ob die Verfassungsgarantien zur Anwendung kommen, kann eine durch Unionsrecht determinierte Frage sein. Das bedeutet, man müsste also nicht nur fragen, ob der Bestimmtheitsgrundsatz als solcher zur Verfassungsidentität gehört, sondern auch ob der Schutz des Beschuldigten im konkreten Fall vor einer Veränderung oder Aussetzung der Verjährungsfristen durch die Verfassung zwingend geboten ist und die Aufgabe dieses Schutz den Kern der Grundrechtsgarantien beträfe.

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Der EuGH macht mit seiner Bezugnahme auf die materiellen Vorgaben der RL 2017/1371 für den konkreten Fall deutlich, dass dem nationalen Straf- und Verfassungsrecht die Deutungshoheit über die Anwendbarkeit der (nationalen) Grundrechte nur soweit zusteht, wie keine unionsrechtliche Harmonisierung stattgefunden hat. Solange die Umsetzungsfrist der Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen noch nicht abgelaufen ist, hat das italienische Gericht also das Recht die Verjährung als materielle Regelung zu verstehen, die dem (nationalen) Bestimmtheitsgrundsatz unterfällt. Sobald aber die Harmonisierung mit Ablauf der Frist am 6.7.2019 erfolgt ist, gibt das Unionsrecht auch die materielle Bewertung vor. Die Verjährungsvorschriften sind dann als Teil des Verfahrensrechts anzusehen, das Gesetzlichkeitsprinzip für das Strafrecht gilt demnach – aus unionsrechtlicher Sicht – nicht und der nationale Bestimmtheitsgrundsatz darf nicht angewendet werden, wenn das italienische Gericht nicht plausibel darlegen kann, wie die italienische Verfassungsidentität im konkreten Fall der Nichtanwendung der Verjährungsvorschriften beeinträchtigt wäre (vgl. Rn. 66 ff.).

c) Keine Vorgabe einer Strafbarkeit für Nichtabführen von Steuern (Mauro Scaldone)

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Eine Konkretisierung der Vorgaben für das nationale Strafrecht bei der Bekämpfung von Mehrwertsteuermissbrauch hat der EuGH in der Sache Mauro Scaldone[23] vorgenommen: Das Nichtabführen der Mehrwertsteuer ist nicht grundsätzlich mit einem Mehrwertsteuerbetrug gleichzusetzen, sodass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, solche Handlungen ebenso unter Strafe zu stellen, wie die Hinterziehung der Mehrwertsteuer.

Anmerkungen

[1]

EuGH NJW 2013, 1415 ff.; u.a. m. Anm. Dannecker JZ 2013, 616; Dreher/Adick ZWH 2013, 234 f.; Eckstein ZIS 2013, 220 ff.; Streinz JuS 2013, 568 ff.; Winter NZA 2013, 473 ff.; ferner Risse HRRS 2014, 93 ff.; Rönnau/Wegner GA 2013, 561, 569 ff.; vgl. auch EuGH MwStR 2018, 551, 553, Rn. 18 – Menci.

[2]

Zu diesem Begriff Radermacher EuR 2018, 140 ff.

[3]

BVerfG NJW 2013, 1499, 1501 (Rn. 91) m. Anm. Gärditz JZ 2013, 633 ff.; vgl. zu den Einzelheiten Bülte/Krell StV 2013, 713 ff.; Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Esser § 56 Rn. 17.

[4]

EuGH MwStR 2018, 172, 175 – M.A.S.

[5]

Vgl. EuGH NJW 2007, 2237, 2239; vgl. aber bereits Hugger NStZ 1993, 421 ff.; ferner Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Vogel/Brodowski § 5 Rn. 43.

[6]

EuGH EuZw 2005, 433 ff. – Pupino; vgl. auch EuGH MwStR 2018, 172 – M.A.S. & M.B.

[7]

EuGH EuZW 2003, 666, 670, Rn. 69 – Steffensen m. Anm. Dannecker ZLR 2009, 606 ff.; Esser StV 2004, 221 ff.

[8]

EuGH EuGRZ 2013, 417 ff. – Jeremy F.

[9]

EuGH NZWiSt 2015, 390 ff – Taricco m. Anm. Bülte.

[10]

EuGH NZWiSt 2015, 390, 394 Rz. 37 f.; vgl. auch EuGH 20.3.2018 – C 524/15, Rn. 20 – Menci.

[11]

Vgl. insofern nun auch Art. 7 Abs. 3 RL (EU) 2017/1371, der Mindesthöchststrafen von vier Jahren vorsieht.

[12]

EuGH NZWiSt 2015, 390, 394 Rn. 47.

[13]

EuGH NZWiSt 2015, 390, 394 Rn. 49.

[14]

EuGH NZWiSt 2015, 390, 396 Rn. 55 ff.

[15]

EuGH MwStR 2018, 172 ff.

[16]

Burchardt EuR 2018, 248, 261.

[17]

Burchardt EuR 2018, 248, 257.

[18]

Vgl. Burchardt EuR 2018, 248, 262.

[19]

BVerfGE 123, 267, 413 – Lissabon.

[20]

BVerfGE 123, 267, 354 ff. – Lissabon.

[21]

BVerfG NJOZ 2016, 1879.

[22]

EuGH MwStR 2018, 172, 175 Rn. 44 f.

[23]

EuGH 2.5.2018, C-547/15 – Mauro Scialdone.

2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › V. Begrenzung nationalen Strafrechts durch europäische Freiheitsrechte und Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des EuGH

V. Begrenzung nationalen Strafrechts durch europäische Freiheitsrechte und Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des EuGH

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Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann erhebliche Einschränkungen des nationalen Strafrechts zur Folge haben, soweit dessen unmodifizierte Anwendung zu einer Verletzung der europäischen Grundfreiheiten oder der Grundsätze des Unionsrechts führen würde.[1] Der folgende kurze Überblick über einige für das europäische Wirtschaftsstrafrecht wichtige Entscheidungen des EuGH soll einen Eindruck davon vermitteln, wie die Europäisierung des nationalen Wirtschaftsstrafrechts – in vielen Bereichen weitgehend unbemerkt – vor sich geht, und welche Ansatzpunkte für eine Umsetzung der europäischen Freiheitsrechte sich auch auf anderen, hier nicht unmittelbar betroffenen Gebieten ergeben können.

Anmerkungen

[1]

Vgl. hierzu Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 202 ff.

2. Kapitel Europäisierung des Strafrechts › V. Begrenzung nationalen Strafrechts durch europäische Freiheitsrechte und Grundfreiheiten in der Rechtsprechung des EuGH › 1. Entwicklung von den europäischen Grundfreiheiten zu den europäischen Freiheitsrechten

1. Entwicklung von den europäischen Grundfreiheiten zu den europäischen Freiheitsrechten

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Die europäische Rechtsprechung hat zunächst als europäische Verkehrsfreiheiten konzipierte Rechte wie das Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen (Art. 34 AEUV), das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 ff. AEUV), die Freizügigkeit (Art. 21 AEUV), die aktive und passive Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV), die Kapital- und Warenverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV) oder auch die Steuerneutralität,[1] im Laufe der Jahre zu Freiheitsrechten und schließlich zu echten Grundrechten vor und neben der europäischen Grundrechtecharta entwickelt.[2] So wurde etwa das Verbot von Einfuhrbeschränkungen i.V.m. dem Diskriminierungsverbot zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot ausgebaut.[3] Der Gleichheitsgrundsatz und der Grundsatz der Wettbewerbsfreiheit sind ebenfalls Elemente dieser Grundfreiheiten geworden und haben zu einem grundsätzlichen Verbot von Beschränkungen des Wirtschaftsverkehrs geführt, das weitreichende Auswirkungen haben kann.

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Beschränkungen des Wettbewerbs innerhalb von Europa und der Grundfreiheiten sind zwar immer noch möglich, sie müssen jedoch begründet sein und dürfen keine diskriminierende Anwendung von nationalem Recht bedeuten.[4] Die beschränkende Regelung muss sich zur Erreichung des durch den Normgeber gesetzten und zudem unionsrechtlich anerkannten Ziels eignen, durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein und das mildeste Mittel darstellen, um das Ziel effektiv zu erreichen. Es gilt also der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.[5]

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Unter Berufung auf diese Freiheitsrechte hat der EuGH in der Rechtssache Keck entschieden, dass nicht nur jede mengenmäßige Beschränkung des Handelns innerhalb der Union durch mitgliedstaatliches Recht verboten ist, sondern auch jede Maßnahme, die wie eine mengenmäßige Beschränkung wirkt. Das Verbot gilt damit für alle Maßnahmen, die geeignet sind,

den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern. Unter diese Definition fallen Hemmnisse für den freien Warenverkehr, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften daraus ergeben, daß Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten Vorschriften entsprechen müssen (…), selbst dann, wenn diese Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten, sofern sich die Anwendung dieser Vorschriften nicht durch einen Zweck rechtfertigen lässt, der im Allgemeininteresse liegt und den Erfordernissen des freien Warenverkehrs vorgeht. [6]

In der Rechtssache Morellato[7] hat der EuGH dementsprechend die Verhängung eines Bußgeldes wegen Inverkehrbringens eines in Frankreich rechtmäßig hergestellten Brotes in Italien für unzulässig erklärt: Eine solche Sanktion stelle sich als grundsätzlich unzulässige, weil einer mengenmäßigen Beschränkung ähnliche Maßnahme dar.