Kitabı oku: «Achtung Ahnen, ich komme!», sayfa 2

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1. Kapitel:
Zum Warmlaufen, oder: Notizen über Familie, Geschichte und biografische Figuren

Jede Familie ist einzigartig. Andererseits gibt es auch Gemeinsamkeiten, Muster und archetypische Persönlichkeiten. »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich.« – so lautet der Romanfang von Anna Karenina, so beobachtete es Lew Tolstoi im Russland des 19. Jahrhunderts. Familiengeschichte zu betreiben und Kontakt zu den Ahnen aufzunehmen, bedeutet, sich mit den Mustern der Vergangenheit auseinanderzusetzen. In Familien werden oftmals immer wieder die gleichen Rollen besetzt, grundlegende Gefühle von Glück oder Leid, von Außenseitertum oder Erfolg werden über die Generationen geradezu vererbt. Natürlich werden solche Rollen ganz stark durch soziale und wirtschaftliche Verhältnisse mitgeprägt. Wenn eine Familie Geld hatte, ist es relativ erwartbar, dass die Nachkommen es im Leben zumindest in Bezug auf Ausbildung und Beruf einfacher haben werden. Diese Konstellationen sind vielfach untersucht worden: Die Reichen rekrutieren und verheiraten sich immer wieder aus den gleichen Milieus, die Eliten sind mehr oder weniger abgeschlossen, ebenso wie Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe über Generationen vererbt werden können. Der Sozialstatus hat Auswirkungen auf Glücksempfinden und das Gefühl, »richtig« zu sein. Aber darüber hinaus gibt es noch mehr, was bei der Familienforschung eine Rolle spielt.


Was also sind die prägenden Faktoren für Familienkonstellationen, wodurch entsteht Kontinuität und das Gefühl einer Familientradition? Macht und Liebe – beides kann großen Einfluss auf eine Familie ausüben. Gerade die materiellen Gegebenheiten – Besitztümer und Erbansprüche – sind in der Geschichte jeder Familie ein wichtiges Element für Konflikte. Und Konflikte und damit negative Emotionen machen einen großen Teil von Familiengeschichten aus. Gefühle allerdings sind für Historiker ein schwieriges Terrain: Von Person zu Person wird schon so unterschiedlich empfunden und dann müssen noch zeitspezifische Gefühlsprägungen berücksichtigt werden, so dass deren Analyse von der Geschichtswissenschaft als zu wenig akademisch gemieden und vernachlässigt worden ist. Aber: Sprechen wir trotzdem darüber! Denn auch Sie als Nachfahren werden bei Ihren Recherchen mit Gefühlen konfrontiert, die Ihnen fremd sind. Sowohl Gefühle der Vorfahren, von denen Sie erzählt bekommen, oder die Sie sich erschließen wollen, als auch Gefühle, die in Ihnen selbst plötzlich hochkommen. Denn fast jede Familiengeschichte bietet auch befremdliche, schräge oder einfach nur unverständliche »Typen«, mit denen Sie biografisch existenziell verbunden sind.

Nehmen Sie diese Gedanken einmal als Anlass, um einen ersten Schritt zu Ihren eigenen Familienforschungen zu machen. Stürzen Sie also nicht gleich drauf los. Es ist immer wichtig, eigene Forschungsfragen zu haben, um darauf aufbauend Suchstrategien und Ziele zu definieren. Zu Beginn steht deshalb für uns das Nachdenken über die eigene Familie, offensichtliche Traditionen, und vor allem auch die Rollen, die die einzelnen Familienmitglieder spielen. Also führen wir uns zunächst einmal einen Reigen von typischen Figuren aus Familiengeschichten vor Augen. Die biografischen Figuren, die wir hier vorstellen, haben zum Zweck, dass wir Ihnen vorstellen wollen, in welchen Dimensionen sich Ihr Verhältnis zur Vergangenheit und den Ahnen abspielt. Gleichzeitig sind diese biografischen Figuren bereits eine Stütze, um Familiengeschichte zu deuten und zu erzählen. Entziffern Sie die Rollenspiele in Ihrer Familie!

Der Patriarch, das Geld und die Macht

Denken Sie nicht an einen sizilianischen Paten. Dreh- und Angelpunkt vieler Familiengeschichten ist (fast) immer schon der älteste Mann – der Patriarch. Hier geht es um die Macht: Der Älteste hat das Erbe zu verteilen. In ländlichen Gegenden, das trifft also in vergangenen Jahrhunderten auf die Mehrzahl der Menschen zu, wurden Land, Hof und alles andere innerhalb der Familie vom Vater auf den erstgeborenen Sohn vererbt. Patrilinear nennt man das. Dieses Erbrecht war in Deutschland auf vielen Höfen Norddeutschlands gebräuchlich, um sicherzustellen, dass der Hof groß genug und damit überlebensfähig blieb. Andererseits war das Erbrecht lange Zeit lokal geregelt, d. h. es konnte je nach Kirchspiel oder Gut unterschiedlich gehandhabt werden. Jede kleine Ortschaft konnte einen Mikrokosmos mit ganz eigenen Erbregeln bilden.

Töchter wurden oft mit einer Aussteuer abgefunden und damit für die Ehe ausgerüstet. Die jüngeren Söhne mussten ausgezahlt werden und sich einen neuen Beruf suchen. Nur manchmal wurden Bauernhöfe geteilt und das Erbe somit auf mehrere Söhne verteilt. Das materielle Erbe ist in vielen Familien Auslöser von Konflikten, und sicher gibt es auch in Ihrer Familie zerstrittene Flügel, ausgelöst durch einen Erbstreit. Damit befinden Sie sich in guter Gesellschaft. Denken Sie nur an die Familie von Bismarck und ihre zwei rivalisierenden Brüder Carl Eduard und Gregor. Seit dem 15. Jahrhundert besitzt die Familie einen riesigen Wald, heute 70 Quadratkilometer groß, und ein stattliches Anwesen östlich von Hamburg. Fürst Ferdinand von Bismarck, über 80 Jahre alt, und seine Frau Gemahlin, Fürstin Elisabeth, seien sich nicht ganz einig über die Erbfolge, so las man in der Presse. Der Erstgeborene Carl Eduard sei in den Augen des Patriarchen Fürst Ferdinand der natürliche Nachfolger, der jüngere, Gregor, in den Augen der Fürstin allerdings der Geeignetere. Bis zum SEK-Einsatz kam es schon bei den Rangeleien um den Wald. Ur-Ur-Opa Otto, erster deutscher Reichskanzler, dreht sich im Grabe um!

Neben einem Streit um materielle Güter kann auch die Frage der richtigen künstlerischen Gesinnung Anlass für Bruderzwist um das moralische Erbe sein. So zankten sich Thomas und Heinrich Mann in feinster Intellektuellenart darum, wer das Erbe der Weltgeschichte als Literat besser ausdrücke. Heinrich forderte direkt nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der Romancier müsse »das rhythmische Wogen der modernen Demokratie« in sich walten lassen: »Hinauf Menschen! Heraus aus eurem Schmutz, den ich nachmale… hinauf mit mir, arbeitend ich und ihr!« Wer da nicht künstlerisch-politisch aktiv sei, schade der Gesellschaft wie ein Parasit. Thomas Mann fühlte sich davon zu Unrecht angegriffen und schrieb am 3. Januar 1918 ein paar letzte böse Zeilen: »Mögest Du und mögen die Deinen mich einen Schmarotzer nennen. Die Wahrheit, meine Wahrheit ist, daß ich keiner bin.«7 Konkurrenz und Entfremdung herrschte, jahrelange Funkstille, die die gesamte Familie belastete und erst 1922 im Angesicht einer schweren Krankheit Heinrich Manns beendet wurde.

Auch wenn es in Ihrer Familie nicht um gigantische Forstbetriebe, kleine Schlösser oder Zivilisationskritik geht, die Frage nach der gerechten Verteilung von Geld und Gut ist von großer Relevanz in jeder Sippe. Jede Generation muss sich wieder damit auseinander setzen. Zweieinhalb Billionen Euro sind in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren vererbt worden – genug Geld für viele, viele hässliche Streitigkeiten, die auch schon vor dem eigentlichen Erbfall beginnen können. Der Erblasser hat mit dem Vermögen jede Menge Macht über seine Nachfahren, kann den Kurs des Unternehmens steuern und die Lebenswege seiner Kinder über Jahrzehnte lenken. Ohne sein Einwilligen ändert sich nichts. So war es auch beim Wagner-Clan, der bis 2008 von dem schon fast 90-jährigen Wolfgang Wagner dominiert wurde. Noch als Greis, nach einem halben Jahrhundert im Dienste des Gedenkens an seinen Großvater Richard Wagner, ließ er sich keine Entscheidung auf dem Grünen Hügel in Bayreuth abnehmen und machte seinen designierten Nachfolgerinnen, seinen Töchtern Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, das Leben schwer. Jahrelang dauerte das Ringen um die Nachfolge und viele Familienmitglieder kämpften darum, das Erbe des großen Komponisten Richard Wagner auch in der dritten und vierten Generation in Ehren zu halten.

Darüber hinaus spielt der Patriarch auch eine wichtige Rolle als moralische Instanz. Vor seinen hohen Ansprüchen gilt es als Sohn und Tochter und als Enkel und Enkelin zu bestehen. Die biografische Figur des Patriarchen zeigt aber auch: Im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft, oft auch im Familiengedächtnis, haben Männer und Frauen sehr unterschiedliche Rollen.

Gibt es auch bei Ihnen Urväter oder Mütter, die solche Rollen ausgefüllt haben? Wie war das Verhältnis dieser Menschen zu ihren Kindern? Was hat sich an Wissen über den Patriarchen oder die Matriarchin bis zu Ihnen durchgesetzt? Welche Eigenschaften leitet man in Familiengesprächen von diesen Personen ab?

Blutsbrüder und verschwundene Frauen

Wenn Sie an Vorfahren und Verwandtschaftsverhältnisse denken, dann muss man sich heute auch fragen, wie die modernen Patchworkfamilien in die Familienforschung eingebunden werden können. Ebenso ist es übrigens an der Zeit, den Glauben aufzubrechen, dass Familien nur über Stammväter verfügen und die männlichen Vorfahren das Konstrukt Familie aufrechterhalten. Weil Frauen die höhere Lebenserwartung als Männer haben, ist es manchmal schließlich eine Matriarchin, die das Sagen hat. Eine typische Matriarchin kämpfte im Fernsehen heroisch um das Ansehen ihrer Familie: Herta Gräfin von Guldenburg, verkörpert von Brigitte Horney, war so eine Frauenfigur, die über zwei Staffeln in der vor Jahren erfolgreichen ZDF-Serie versuchte, den Niedergang der Familie und ihrer Privatbrauerei zu verhindern. Marge Simpson stellte in der Comicserie »Die Simpsons« einen anderen Urtyp von Frau dar, der die Männer der Familie mit Humor gut zu dirigieren weiß. Unsere Meinung ist ganz klar: Schluss mit dieser altmodischen und vielfach sehr fragwürdigen Blut-und-Boden-Ideologie. Und: Her mit den Frauen! Ja, genetisch kann man eine Familie als Reproduktionsgemeinschaft sehen, aber: Neben den Eiweißverbindungen gibt es auch eine soziale Familienschaft. Der zweite Mann der Großmutter kann für einen Enkel wesentlich bestimmender in seinem Leben gewesen sein als der leibliche Großvater, der schon früh verstarb und den der Enkel nie gesehen hat. Der leibliche Großvater tauchte nie in Erzählungen auf, er konnte als Vorbild und Referenz für den Enkel nie genutzt werden. In solchen Konstellationen kommt die soziale Familienschaft zum Tragen. Auch wenn Sie nur Genealogie-Bücher finden werden, die Ihnen die strenge Lehre der Blutsverwandtschaft vermitteln, möchten wir Sie ermuntern, sich darüber hinwegzusetzen. Integrieren Sie die Menschen, Blutsverwandtschaft hin oder her, die für Sie oder Menschen in den Generationen vor Ihnen eine Rolle gespielt haben. Sampeln Sie sozusagen sowohl die biologische als auch soziale Familienschaft.

Und: Wir sind keine Emanzen, aber was Sie als Zweites ignorieren sollten ist, dass es in der konventionellen Familienforschung immer nur um die Männer als konstituierende Elemente von Familie geht. Sie müssen sich dieser Sichtweise zwar vielfach unterwerfen. So zum Beispiel, wenn Sie alte Ahnenlisten finden und sehen, dass immer nur die Stammväter, die männlichen Linien, erfasst worden sind. Die Frauen verschwinden, nehmen die Namen der Männer an, und wurden in der Geschichte insgesamt als eher unwichtig angesehen. Sie wissen vielleicht aus Ihrer eigenen Familie, dass eine solche Weltsicht und Gewichtung der Geschlechter kaum zutreffend ist. Es gibt Familien, da haben die Frauen das Sagen (Stichwort Matriarchin), oder sind selbst dann die emotional dominanteren Vorfahren, wenn sie auch aufgrund ihres öffentlichen Sozialstatus kaum in Erscheinung traten. Für Sie heißt das heute: Lassen Sie sich nicht von der überalterten Herangehensweise leiten, den Stammvätern alleine eine Vererbungsfähigkeit zuzuschreiben. Es bleibt Ihnen überlassen, Ihre Forschungsfragen und Ihr Erkenntnisinteresse auf die Männer oder die Frauen unter Ihren biologischen oder sozialen Vorfahren zu beziehen. Wir finden, dass dieses herkömmliche »Generationenabklappern« sich überholt hat. Entscheiden Sie selbst, wohin Sie Ihre Taschenlampe richten und welchen Bereich der Vergangenheit Sie erhellen wollen. Wenn Sie zum Beispiel meinen, dass die Frauen in Ihrer Familie immer alles zusammengehalten haben, vor allem in Kriegszeiten oder danach, als die Männer starben, in Kriegsgefangenschaft kamen und gebrochen heimkehrten, dann bildet eben das den roten Faden für Ihre Familiengeschichte.

Welche Rolle spielen Frauen und Männer generell in Ihrer Familiengeschichte? Ist eine Familiengeschichtsschreibung in Ihrem Fall nur über die männlichen Vorfahren sinnvoll? Welche sozialen Verwandten waren für Sie prägend und müssten in Ihrer Familiengeschichte eine Rolle spielen?

Märtyrerinnen oder Mannweiber – über typische Frauenrollen

Ja, die Rolle der Frauen hat sich in den vergangenen Jahrhunderten stark verändert. Aber vieles ist auch noch wie eh und je: Es sind die Frauen, die die Kinder bekommen und meist sind es auch sie, die jahrelang für ihr Wohl sorgen und nebenbei ihrem Gatten den Rücken freihalten. Weder in Hinsicht auf politischen und gesellschaftlichen Einf luss noch in Bezug auf die Gehaltsklasse sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Sie müssen sich also eher wundern, sollten Sie in Ihrer Familie Frauen finden, die Unternehmerinnen, Ärztinnen oder Bürgermeisterinnen waren. Ausnahmen bestätigen nur die Regel, dass Frauen nicht dieselben Chancen hatten wie Männer. Lange Zeit konnte man die Frauenrollen mit den drei berühmten K’s beschreiben: Küche, Kinder, Kirche. Innerhalb dieses Dreiecks befand sich der weibliche Kosmos. Anstandslos zogen sich die Frauen bescheiden darin zurück. Sollten Sie dennoch eine Frauenfigur in Ihrer Familiengeschichte treffen, die davon abweichend Expeditionen nach Afrika machte, mehrere Liebhaber hatte, Fußball spielte, studierte, rauchte etc. – dann haben Sie nicht nur eine interessante Begegnung, sondern sofort eine wunderbare Story für Ihre Familiengeschichte.

Märtyrer(innen) sind aber typischerweise nicht nur weiblich, das sei auch noch betont. Auch Männer tauchen immer wieder gerne in dieser Rolle auf, wenn sie sich totschuften, weil sie alles für die Familie geben. Märtyrer gab es auch in den Zeiten, als sich ganze Generationen von Männern für »Gott und Vaterland« im Krieg opferten und darin ihre Erfüllung sahen. Verbunden sind mit diesen biografischen Rollen oft aber auch problematische Konstellationen. Hinter dem Märtyrertum kann tiefe Enttäuschung über das eigene Leben stecken und das Gefühl, dass man selbst nicht mehr glücklich werden wird – deshalb opfert man alles für die Kinder oder Enkel, investiert endlos Zeit und Geld in ihre Ausbildung oder in das Familienunternehmen. Schnell kann daraus aber auch eine Erpressung werden: Märtyrer erpressen sich manchmal mit ihrer Selbstaufopferung Aufmerksamkeit und Dankbarkeit. Und hier fängt dann an, was zu heimlichem Groll, passiver Aggressivität und zu Verwerfungen zwischen den Generationen führt. Die Bringschuld, die die Alten mit all ihrem Opfertum von den Jüngeren einfordern, kann von denen gar nicht eingelöst werden. Dann wird das Kind zum Beispiel zum undankbaren Filou, der die Aufopferung der Eltern nicht wertschätzt – in ihren Augen ist es nie genug, was zurückkommt. Und ist der Filou selbst Vater, erwartet er von seinen eigenen Kindern vielleicht wieder mehr, als er selbst seinen Eltern geben konnte. Eine Art von intergenerationeller »Familienbuchführung« wirkt dann über Jahrhunderte.8

Gucken Sie genau hin, wie sich bestimmte Rollen auf das Leben Ihrer Vorfahren ausgewirkt haben – und fragen Sie sich auch, was davon vererbt wurde. Vielleicht geht es Ihnen ja auch immer noch so, dass Sie das Gefühl haben, gar nicht wirklich zu leben, sondern sich immer nur für andere aufzuopfern? War Ihre eigene Mutter auch eine dieser typischen Märtyrerinnen? Welche Rolle spielten grundlegende Zufriedenheit oder Unzufriedenheit über das Leben in Ihrer Familie?

Das Leben der Anderen: Auswanderer und Außenseiter

Zwischen 1890 und 1920 emigrierten 30 Millionen Menschen aus Europa nach Amerika. Allein im Hamburger Hafen bestiegen fünf Millionen Menschen Schiffe, um ihre Heimat zu verlassen. Weil diese Angehörigen bei Gesprächen über die Familie oft einfach ausgelassen wurden, ist die Überraschung manchmal groß, wenn Verwandte in den USA entdeckt werden. WDR-Moderatorin Bettina Böttinger fand bei den Recherchen über ihre Familie heraus, dass ein Ur-Onkel seine Frau und Kinder zurückgelassen hatte, um ins Ausland zu gehen und dort sein Glück zu suchen. Seine Nachfahren hatten aus Enttäuschung über sein Schicksal geschwiegen, Bettina Böttinger lüftete das Geheimnis.

Solche Schiffsreisen nach Amerika sind vergleichsweise gut dokumentiert. Auswandererlisten liegen beispielsweise im Hamburger Staatsarchiv.9 Auf der Webseite der Mormonen finden Sie auch Daten zu Neu-Amerikanern, die bei ihrer Einreise registriert wurden.10

Und dann gibt es noch die Angehörigen, die sich innerhalb des Landes entfernt und entfremdet haben. Sei es, weil sie in der Erbfolge auf aussichtslosem Posten standen, sei es, weil ihre beruflichen oder sexuellen Neigungen sie zum schwarzen Schaf machten. Männer und Frauen, die ins Kloster gingen, verließen den Schoß der Familie meist für immer. Das Leben in der Glaubensgemeinschaft ersetzte dann das Familienleben.

Während des Nationalsozialismus verließen viele Verfolgte Deutschland: Heinrich und Thomas Mann, Albert Einstein und Marlene Dietrich, Theodor W. Adorno, Anna Seghers und Ernst Bloch gehörten zu den vom Größenwahn der Nazis Bedrohten, denen die Flucht gelang. Aus heutiger Sicht gehören sie zu den Weitsichtigen, die immerhin ihr Leben retteten und denen zum Teil sogar im Ausland eine Karriere gelang. Andererseits bedeutete die Emigration immer auch, von der angestammten Basis fort zu gehen und damit stets einen Bruch in der Biografie hinzunehmen. Menschen, die das erlebten, ließen immer einen Teil von sich und ihrer Vergangenheit zurück. Als biografische Figur ist das sehr spannend: Im Bruch liegt schließlich die Möglichkeit zur Erneuerung und zum Abschließen mit alten, vielleicht auch schlechten Traditionen. Das Weggehen hat immer etwas mit dem Überlebenwollen zu tun. Dahinter verbirgt sich eine enorme Lebenskraft und großer Gestaltungswille, wenn das Weggehen eigenmächtig ausgeführt werden konnte. Damit wird die persönliche Souveränität unter Beweis gestellt. Umgekehrt kann es aber auch von den Wurzeln abschneiden und zur Verkümmerung führen, nämlich dann, wenn das Weggehen als erlittenes Schicksal und nicht als eigenständiges, gewolltes Abenteuer gedeutet wird. Die Linearität der Normalbiografie wird dann beendet. Das kann zu tragischen Verwerfungen führen, wenn sich jemand nicht mehr als Teil seiner Familie vorkommt, sich ungeliebt fühlt, in die Einsamkeit wegrennt, um seinen Schmerz zu betrauern.

Viele Menschen – und sicherlich auch der Großteil Ihrer Vorfahren – interpretiert eine erfolgreiche Lebensführung auf Basis eines linearen Lebensplans: Es geht immer weiter, das eine ergibt sich aus dem anderen. Ein solcher Lebensplan sieht keine Brüche und Eskapaden vor. Alles Abweichende wird dann als Unglück gesehen. Interessant sind aber Muster, wo Vorfahren genau von dieser Norm abweichen. Auch daraus entstehen dann Familienmythen: So zum Beispiel der Mythos einer Familie, deren Mitglieder angeblich schon immer große Abenteurer und Seefahrer waren. Brüche in der Biografie werden dann zur Normalität, können positiv gedeutet werden – und ein Pathos entwickeln, dass nachfolgende Generationen positiv infiziert und zu einem stolzen Selbstbild beiträgt.

Die Ausreißer und Abenteurer, werden sie in einer Familiengeschichte hochgehalten, bedienen vielfach aber auch nur tief verwurzelte Ängste, Ängste vor sozialem Ausschluss, aber auch die Lust auf das Fremde, die große Freiheit und das Durchbrechen von Konventionen. Selbst wenn solche protobiografischen Erfahrungen nicht gemacht wurden, sind sie offensichtlich für manche so attraktiv, dass sie erfunden werden (das Erfinden von Traditionen ist eine der Lieblingsbeschäftigungen unserer Ahnen offensichtlich gewesen). Ein Bekannter erzählte uns, dass sein Vater ihm als Kind immer wieder Geschichten über die Vorfahren im Alten Ägypten erzählt habe, als der Ur-Ur-Ur-Ur-Ur…-Opa noch Sklaventreiber war und die schönen Pyramiden für die Pharaonen baute. Daraus entwickelte sich ein wirkungsmächtiger Mythos. Die Ferne, die Sonne, der Sand, das Auswandern wurden positiver Bestandteil der imaginären, aber lange geglaubten exotischen Familiengeschichte.

Auch wer versucht, als Teil der Familie zu leben, kann zum Außenseiter werden. Kaiser Wilhelm II. ist ein berühmtes Beispiel für ein klassisches Außenseiterschicksal. Von Geburt an konnte er schon körperlich nicht vor der Familie bestehen, denn sein linker Arm blieb als Folge von Komplikationen bei der Geburt zurück – für seine Mutter, Kronprinzessin Victoria, eine Art persönliches Versagen. Auch für ihn selbst bedeutete die Behinderung eine Kränkung, die vielleicht seinen Hang zu Theatralik und Pomp begünstigt hat. Was er auf dem Pferd an Repräsentation nicht leisten konnte, machte er durch immer exzentrischere Uniformen und aufwändige Reisereien wett. Nicht nur seine Mutter, die ganze Familie sah Wilhelm II. kritisch und bedauerte seine instabile Persönlichkeit in Zeiten, in denen die Monarchie an vielen Fronten gleichzeitig kämpfen musste. Anders als in Skandinavien und den benachbarten Benelux-Ländern war die deutsche Monarchie nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrem Kaiser Wilhelm II. an ihr Ende gekommen.

Welche Außenseiter gab es in Ihrer Familie? Wie wurde deren Schicksal gedeutet? Fühlen Sie sich als integrierter Teil Ihrer Familie, fest verwurzelt, aufgehoben in dieser Welt? Oder sehen Sie sich eher als entfernter Satellit?

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