Kitabı oku: «Der böse Trieb», sayfa 2
2
Rabbiner Bunem Kletzki war überrascht über Kleins Anruf.
»Ich wusste nicht, dass Sie mit Doktor Ehrenreich in Kontakt waren.«
»Seit einigen Jahren, ja.«
»Eine fürchterliche Geschichte. Weiß man denn schon mehr über den Tathergang? Gibt es eine Spur?«
»Das müssen Sie die Polizei fragen. Ich rufe Sie vor allem wegen eines Anliegens von Frau Ehrenreich an.«
Kletzki schwieg einen Augenblick. »Sie hat Ihnen gesagt, dass unser Verhältnis …«
»Ich habe aus ihren Worten herausgehört, dass es … angespannt ist. Warum eigentlich?«
»Das müssen Sie Frau Ehrenreich fragen. Von meiner Seite gibt es dazu keinen Anlass.«
»Lieber Reb Bunem«, sagte Klein freundlich und dennoch leicht gereizt. »Wir wissen alle, dass es immer zwei Seiten gibt. Sie werden vielleicht den Grund von Frau Ehrenreichs Zorn nicht verstehen. Aber kennen werden Sie ihn.«
»Ich hatte nie einen Konflikt mit Frau Ehrenreich. Mit ihrem Mann schon, das stimmt. Ich glaube, ihre Abneigung gegen mich ist mehr eine Form der Loyalität zu Viktor, als dass sie persönlich wäre.«
»Und was war Ihr Konflikt mit Viktor?«
Kletzki seufzte. »Ich will keinen Laschon hara sprechen.«
»Und ich will keinen Laschon hara hören«, sagte Klein leicht genervt. »Aber vielleicht hilft es ja, den Konflikt zwischen Ihnen und Sonja Ehrenreich beizulegen, wenn die Ursache analysiert werden kann. Gerade nachdem jetzt der Monat Elul begonnen hat.«
»Es fing eigentlich sehr gut an«, sagte Kletzki nach kurzem Zögern schließlich. »Die Ehrenreichs und unsere Familie kamen beide ungefähr gleichzeitig hierher. Ich war einer der ersten Absolventen des neuen Berliner Rabbinerseminars, Viktor übernahm die Praxis in Inzlingen vom Vater eines Studienfreunds, wenn ich mich nicht irre. Jeden Schabbat marschierte er stramm eine Dreiviertelstunde in die Synagoge und wieder zurück, am Freitagabend und am Schabbatmorgen. ›Sie durchqueren ein ganzes Land, um am Schabbat in die Synagoge zu kommen‹, sagte ich ihm damals. Wir haben uns gut verstanden.«
»Ein ganzes Land?«
»Na ja, die Eiserne Hand.«
»Reb Bunem, Sie sprechen in Rätseln.«
»Die Eiserne Hand ist ein schmales Stück Schweiz, das ins deutsche Staatsgebiet hineinragt. Das muss man durchqueren, um von Inzlingen ohne Umweg nach Lörrach zu kommen. Nur ein paar Hundert Meter, aber eben ein doppelter Grenzübertritt.«
»Ach so.«
»Jedenfalls, ich sah ihn immer als eine Stütze der Gemeinde an, er war ziemlich aktiv. Bis vor etwa sechs Jahren.«
Klein horchte auf. Das war kurz nachdem er Viktor in Arosa kennengelernt und bald darauf sein erstes Seelengespräch mit ihm geführt hatte.
»Was war vor sechs Jahren?«
»Kennen Sie Anschel Fink?«, fragte Kletzki zurück.
»Sie meinen den Anwalt? Mit dem Viktor die Neue Mussar-Bewegung gründete?«
Klein hörte Kletzki leise schnauben.
»Die Neue Mussar-Bewegung. Genau die, ja.«
»Die habe ich immer als leicht exzentrisches, aber harmloses Experiment verstanden«, meinte Klein. »Ich glaube, sie hatte zu ihren besten Zeiten etwa zwei Mitglieder.«
Kletzki lachte bitter.
»Exzentrisch können Sie laut sagen. Was die Harmlosigkeit angeht – kommt drauf an, was man darunter versteht.«
»Können Sie sich etwas klarer ausdrücken?«
»Die Neue Mussar-Bewegung verstand sich als Speerspitze gegen Chabad Lubawitsch. Oder jedenfalls verstand Viktor Ehrenreich sie so. Und weil ich Chabad Lubawitsch angehöre, hat er alles zu torpedieren versucht, was ich aufgegleist habe. Zuerst waren das nur diffuse Vorwürfe: Dass wir ein Feelgood-Judentum verkaufen und den Leuten mit unserem Maschiach-Gerede, wie er es nannte, den Kopf verdrehen. Was so üblicherweise von denen gesagt wird, die Chabad nicht mögen. Aber später hat er begonnen, regelrechte Komplotte gegen uns zu schmieden. Er hat behauptet, ich hätte Gelder der Gemeinde veruntreut, um eine Chabad-Veranstaltung zu bezahlen.«
Klein schwieg. Viktor Ehrenreich war mit seiner Skepsis gegenüber Chabad bei Weitem nicht allein. Die Bewegung lebte von Spenden, versuchte, säkulare Juden wieder für die Religion zurückzuerobern, und sei es nur für einige Minuten oder Stunden. Sie hatte über die letzten vierzig Jahre weltweit viel Dynamik in jüdische Gemeinden getragen, zuweilen aber auch viel Streit, weil sich manche Gemeinden durch ihre hervorragend organisierten Aktivitäten mit Konkurrenz konfrontiert und in die Enge getrieben fühlten. Wenn der Rabbiner einer Gemeinde selbst der Bewegung angehörte, gab es zuweilen auch Ängste, er wolle seine Gemeinde ›auf Kurs‹ bringen. Das musste keine finanziellen Implikationen haben – aber offenbar hatte Viktor solche vermutet.
»Frau Ehrenreich ist nie mit solchem Moizi Schem ra hervorgetreten«, sagte Kletzki, nachdem er vergebens auf eine Reaktion von Klein gewartet hatte. »Aber offenbar hat sie die Ansichten ihres Mannes verinnerlicht. Wenn sie meine Frau und mich traf, hat sie immer weggeschaut. Es sei fern von mir, dass ich cholile einer Almune nicht meine Unterstützung anbieten würde, aber …«
Kletzkis Gesülze ging Klein auf die Nerven. Auch wenn er es übertrieben und respektlos fand, dass Sonja Kletzki als Ratte bezeichnete und nicht wusste, ob Viktors Anwürfe gegen ihn eine wahre Grundlage besaßen – viel hatte er nicht für ihn übrig. Wenn Bunem Kletzki beleidigt war und es nicht über sich brachte, Sonja anzurufen, dann sollte er dazu stehen und sich nicht in umständlichen Redeschleifen winden.
»Hören Sie, Reb Bunem«, unterbrach er ihn deshalb. »Ich habe eigentlich vor allem angerufen, um Sie zu fragen, ob es Ihnen recht ist, wenn ich den Hesped auf Viktor halte. Frau Ehrenreich hat mich ausdrücklich darum gebeten.«
Rabbiner Kletzki räusperte sich.
»Wie gesagt, fern sei es von mir, dass ich cholile einer Almune einen Wunsch verwehre, nur …«
»Das ist sehr großzügig von Ihnen«, fiel Klein ihm ins Wort. »Ich werde es Frau Ehrenreich ausrichten. Kol tuv.« Während er auflegte, hörte er Kletzki noch eine verdatterte Abschiedsformel stottern.
Wie immer, wenn Klein an der Welt und den Menschen verzweifelte, die sich und einander die Existenz zur Hölle machten, suchte er Halt bei seiner Frau Rivka. Sie war zwar in diesen Tagen auch etwas nervöser als sonst, was in erster Linie damit zusammenhing, dass Dafna, die ältere Tochter der Kleins, vor wenigen Wochen, nach Abschluss ihrer Matur, nach Jerusalem abgereist war, um dort ein Jahr in einer religiösen Lehrinstitution für junge Frauen zu verbringen. Sie war nur für ein Jahr gegangen, aber sowohl sie selbst als auch ihre Eltern hatten gespürt, dass sie kaum je wieder für längere Zeit heimkommen würde. Die ganzen letzten Schuljahre hindurch hatte sie davon geträumt, in Israel ihr Jüdischsein nicht mehr als »Extrawurst«, wie sie es zu nennen pflegte, zu leben, sondern als Teil einer großen jüdischen Gemeinschaft. Seit Dafna weg war, las Rivka täglich die englischen Newsseiten der israelischen Presse, befürchtete dauernd Kriegsausbrüche oder Terrorwellen und machte sich überhaupt Sorgen. Als Dafna vor zwei Tagen mit etwas belegter Stimme angerufen hatte, da hatte sie sofort erkannt, dass ihre Tochter Fieber hatte und das Bett hüten musste.
»Ein normales Virus«, sagte Dafna.
»Du musst zum Arzt.«
»Ach, Mami.«
»Sofort.«
»Ich hab jetzt echt nicht die Kraft aufzustehen und zum Arzt zu gehen.«
»So schwach bist du? Soll ich kommen?«
Das war das beste Argument, um Dafna dazu zu bewegen, einen Arzt aufzusuchen. Dessen Diagnose lautete: ein normales Virus.
Doch Rivka wusste sich von der Besorgnis um ihre Tochter, die sie in dieser zuweilen aufflammenden Heftigkeit selbst etwas zu überraschen schien, auch abzulenken. Sie arbeitete enthusiastisch an der Übersetzung eines Romans, den eine junge rumänische Autorin geschrieben hatte. Sie war besonders stolz, weil sie selbst dem Verlag das Buch vorgeschlagen hatte und dieser begeistert darauf eingestiegen war. Sie konnte während eines ganzen Essens nur über diesen Roman sprechen, und Klein schaffte es nicht immer, die erwartete Aufmerksamkeit aufzubringen.
Rivka hatte schon damals in Arosa erkannt, dass Sonja Ehrenreich psychisch labil war. »Sie ist angespannt wie eine Feder, die nächstens zu springen droht«, hatte sie Klein noch auf der Rückfahrt erklärt.
»Sonja hat mich gebeten, den Hesped auf Viktor zu halten«, sagte Klein nun, als beide sich zum Nachtisch noch eine Orange schälten.
»Du musst wirklich für alles herhalten.«
»Sie ist mit dem Rabbiner dort verkracht.«
»Warum verkracht sich nie jemand mit dir?«
Klein war nicht unglücklich, dass Sonja sein Angebot, eine Weile bei ihnen zu wohnen, ausgeschlagen hatte.
»Ich habe ihn halt schon auch etwas gekannt«, meinte er matt.
Rivka nahm seine Hand.
»Mein Geliebter. Mein einziger, geliebter Mann. Ich mache mir Sorgen um dich. Du lässt dich dauernd in neue Sachen reinziehen. Ich möchte, dass du auch mal zur Ruhe kommst.«
»Es ist ja nur eine kurze Rede«, meinte er, »einfach hundert Kilometer weiter weg als sonst.«
Sie hielt seine Hand weiter, festigte etwas den Griff.
»Ehrlich gesagt fürchte ich sehr, dass es bei dieser Rede nicht bleibt. Immer in den letzten Jahren, wenn du auch nur in die Nähe eines Gewaltverbrechens geraten bist, hat dich das mit voller Macht reingezogen. Und so was kannst du jetzt wirklich nicht brauchen.«
Er lächelte.
»Warum soll ich in irgendwas reingezogen werden? Das Verbrechen ist weder in unserer Gemeinde passiert noch war ich dabei, und so nahe war ich Viktor nun auch nicht, dass mich die Ermittlungen irgendwie betreffen würden.«
Rivka gab ihm einen Kuss, einen etwas zu flüchtigen, wie er fand. Der Duft der Orange hatte sich auf ihren Körper gelegt und weckte seine Lust.
Doch Rivka trug ungerührt die Teller und Gläser zum Abwasch, und Klein trottete ihr mit den Schüsseln nach. Während er die Sachen in die Spülmaschine räumte, tauchte vor seinem Geist wieder die Fotografie vom Mann mit dem Bowler Hat auf, die etwas deplatziert wirkend bei Ehrenreichs im Salon hing. Es überkam ihn eine Ahnung, um wen es sich handeln könnte, und er eilte zu seinem Computer, um nachzuprüfen, ob seine Vermutung stimmte. Sie stimmte. Es fanden sich im Internet noch einige wenige andere Bilder von Israel Salanter, die der Vorstellung von einem osteuropäischen Rabbi des 19. Jahrhunderts eher entsprachen, aber auch ihm gefiel dasjenige, das Viktor aufgehängt hatte, bei dem die beiden verschiedenfarbigen Augen des Rabbi den Betrachter fast hypnotisch anschauten, am besten.
Rabbi Israel Salanter und seine Schüler. Das sind meine Leute, Herr Rabbiner Klein.
Die Mussar-Bewegung? Eine anspruchsvolle Schule.
Ja, genau das gefällt mir. Dienst am Oibersten durch tiefste Selbstprüfung. Du und deine freie Wahl gegen die Lust und den Trieb, dich über andere zu erheben. Du hast deine Selbstvervollkommnung in der eigenen Hand. Kein metaphysischer Hokuspokus. Kein Erlebnisjudentum. Kein Disneygott.
Disneygott! Sie gebrauchen vielleicht Worte!
Sie wissen, was ich meine. Allzeit wunderbereit.
Allmächtig nannte man das früher.
Gegen allmächtig hab ich nichts. Das Allmächtige hat auch Rabbi Israel beschäftigt. Aber von menschlicher Seite her gefällt mir am Mussar dieses nach innen Gewendete.
Und wie steht Ihre Frau dazu?
Meiner Frau gefällt, wenn ich schön den Schabbes halte, koscher esse und während der Nida-Zeit meine Hände von ihr lasse. Das tue ich zwar schon lange, seit bei ihr diese religiöse Umkehr eingesetzt hat. Aber nun habe ich wenigstens einen geistigen Überbau. Mussar eben.
Immer im Kampf gegen den bösen Trieb.
Sehen Sie, eigentlich ist es ganz einfach: Sie versuchen, das Ich mit dem Über-Ich in Übereinstimmung zu bringen und damit dem Es den Meister zu zeigen. Und das Über-Ich nennen Sie Gott.
Gott oder Sonja?
Vor Sonja nenne ich es Gott.
Ich glaube nicht, dass Rabbi Israel Salanter große Freude an Ihnen gehabt hätte. Der meinte immer Gott.
Ich bin am Anfang.
Über diesen Satz allerdings hätte sich Rabbi Israel gefreut.
Das wiederum freut mich. Und wissen Sie, wer mich überhaupt mit der Mussar-Bewegung bekannt gemacht hat? Ein Landsmann von Ihnen. Ebenfalls aus Zürich.
Keine Ahnung.
Anschel Fink. Sie kennen ihn, er war ja auch bei diesem Wochenende in Arosa. Wir sind in Kontakt geblieben.
Ein origineller Typ.
Hochintelligent.
Arbeitet als Anwalt in Zug, wenn ich mich nicht irre.
So ist es. Rohstoffsachen, viel Genaueres weiß ich auch nicht. Aber er hat mir gezeigt, dass du richtig religiös sein und dennoch mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität stehen kannst.
Das hätte ich für mich auch gerne in Anspruch genommen.
Rabbiner laufen außer Konkurrenz.
Berufsjuden, meinen Sie. Und Anschel Fink ist also auch ein Mussar-Vertreter?
Ja, und wie. Ich meine, der kennt ja auch die ganzen Schriften von Salanter und seinen Adepten. War jahrelang in der Jeschiwa. Ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich da eingeführt hat. Ich war schon kurz davor, alles fahren zu lassen. Diese Salbadereien von Kletzki und Konsorten, das kotzt einen ja nur noch an.
Herr Ehrenreich, nun wollen wir doch aber versuchen, in Richtung Tschuwa zu gehen. Es ist Anfang Elul. Deswegen sind Sie doch hier.
Sehen Sie, deswegen verehre ich Sie, Herr Rabbiner. Sie lassen sich nie von Ihren Emotionen forttragen.
Wenn Sie wüssten, Herr Ehrenreich, wenn Sie wüssten!
3
Es dauerte bis Montag, über eine Woche nach seinem Tod, bis Viktor Ehrenreich zu Grabe getragen werden konnte. Rabbiner Bunem Kletzki strich unentschlossen auf dem Friedhof herum, immer den Eindruck erweckend, er habe hier oder da noch dringend etwas zu erledigen, mit dem Gärtner zu reden, einen Schrank in der Abdankungshalle auf seinen Inhalt zu prüfen und so weiter. Sonja hatte ihn einfach ignoriert. Dennoch konnte sie ihm insgeheim dankbar sein; es waren so wenige Leute anwesend, dass ohne ihn kein Minjan zustande gekommen wäre, um den Kaddisch für den Verstorbenen zu beten.
Sonja kam Klein vor, als stehe sie unter Medikamenteneinfluss. Sie strömte eine Gelassenheit, ja beinahe Heiterkeit aus, die ihn befremdete. Anders als an dem Abend, als er sie trostlos zu Hause vorgefunden und dann wieder zurückgelassen hatte, wirkte sie nun geradezu elegant. Sie trug ein beinahe exquisites Kleid, das durch den obligaten Einriss in Kragenhöhe, den die Tradition von Trauernden forderte, noch eigenartiger wirkte, und wieder den berückenden schwarzen Scheitel, mit dem er sie in Arosa kennengelernt hatte. Natürlich war sie, dem Brauch folgend, ungeschminkt, aber sie schien zugleich den Eindruck erwecken zu wollen, dass das Leben für sie weiterginge.
Unter den nichtjüdischen Trauergästen, wohl hauptsächlich ein paar Lehrerkolleginnen und treue Zahnarztpatienten, versuchte Klein jemanden auszumachen, der wie ein Kommissar oder eine Kommissarin aussah. Von Karin Bänziger in Zürich wusste er, dass sie öfter die Beerdigung von Mordopfern besuchte, weil sie sich Aufschluss über die Tat erhoffte, aber wer konnte wissen, ob das die hiesige Polizei ebenso hielt?
Das einzige ihm bekannte Gesicht außer Sonja und Kletzki war Anschel Fink. Als Fink in die Abdankungshalle trat, gaben sie einander gemessen Handzeichen. Fink hatte angeboten, ihn von Zürich mit dem Wagen mitzunehmen, aber Klein hatte es vorgezogen, mit der Bahn zu kommen und sich unterwegs nochmals auf die Trauerrede zu konzentrieren. Viktors Tod, sein gewaltsamer, schrecklicher und früher Tod ließ ihn nicht los. Das Anhören der Gesprächsaufnahmen in den letzten Tagen, oder zumindest einiger von ihnen, hatte ihn noch zusätzlich mitgenommen. Es war irgendwie beklemmender, die Stimme eines Verstorbenen zu hören, als sein Bild zu sehen. So viele Details ließen sich aus der Stimme heraushören, Zärtlichkeit, Angst, Trauer, Freude, dass es Klein vorgekommen war, als säße Viktor tatsächlich wieder vor ihm. Er hatte selten so lange gebraucht, um eine Totenrede vorzubereiten. Darauf, Sonja nach weiteren Details von Viktors Leben zu fragen, hatte er verzichtet. Die Aufnahmen lieferten ihm so viel Information, dass Klein eher überlegen musste, was er verschweigen, als was er erzählen sollte.
Als er neben dem aufgebahrten Sarg stand, die kleine Trauergemeinde zu Füßen des kleinen Stehpults sitzend, steckte er seine Notizen ein und sprach frei.
»Wir sind hier zusammengekommen, um uns von einem außergewöhnlichen Menschen zu verabschieden, der leider auf verachtenswerte Weise ums Leben gebracht worden ist. Viktor Ehrenreich, in St. Petersburg geboren, in Berlin aufgewachsen und hier an der Grenze des Schwarzwalds ansässig geworden, war ein Mann, der immer genau wusste, was er wollte – und der das auch tat. Er wollte, wie seine Eltern es sich von ihm erhofften, ein erfolgreicher Akademiker werden und besaß am Ende seines Lebens eine gut gehende Zahnarztpraxis. Er wollte um jeden Preis seine geliebte Sonja heiraten und mit ihr leben, und er hat, von der geografischen Verschiebung von Berlin in ihre Heimatregion Süddeutschland bis hin zum gemeinsam gegangenen Weg zum Glauben alles getan, damit diese Liebe sich erfüllen konnte. Er wollte aber auch mehr tun, als nur dieses doch sehr behagliche Leben zu genießen, und so fuhr er seit einigen Jahren, durch Vermittlung seines Freundes Anschel Fink, jährlich für einige Wochen in den Kongo, um dort Menschen zahnärztlich zu behandeln, die sonst nie in den Genuss einer so teuren fachmännischen Pflege gekommen wären.
Viktor hatte sich schon vor einiger Zeit für die Mussar-Bewegung zu interessieren begonnen, die sich der ethischen inneren Aufrichtung der Menschen widmet. Alles Oberflächliche war ihm zuwider, und der Kampf um das Beste in ihm selbst entsprach ganz und gar seinem Wesen. Jedes Jahr um diese Jahreszeit, zu Beginn des Monats Elul, suchte er mich in Zürich auf, und wir führten ein sogenanntes Seelengespräch, in dem er sich mir öffnete und Einblick in seine vielseitige, sensible Seele gewährte. Das diesjährige Gespräch fand nicht mehr statt. Umsonst wartete ich heute vor einer Woche auf ihn, er antwortete nicht auf meine Anrufe – sie kamen zu spät.«
Unvermittelt stiegen Klein Tränen in die Augen. Er stammelte noch ein paar Sätze darüber, woran sich die trauernde Gattin aufrichten sollte, dass das jüdische Volk einen großartigen Fürsprecher in der jenseitigen Welt gefunden habe, und beendete die Rede ziemlich abrupt.
Er blickte in die Runde der Anwesenden. Kletzki konnte sich einer verächtlichen Grimasse nicht enthalten, während Sonja, die eine Sonnenbrille trug, ihn kurz anlächelte und dann das Gesicht senkte. Anschel Fink saß mit der Hand am Kinn versonnen nickend da. Klein sprach die Totengebete, danach folgte die Gruppe dem Sarg zum ausgehobenen Grab. Wie fast jedes Mal verursachte das Rumpeln des Sargs, der ins Grab gelassen wurde, bei Klein einen kurzen Schauer. Er half das Grab zuzuschaufeln, geradezu hektisch stieß er die Schaufel Mal für Mal in den aufgeschütteten Erdhügel und kippte sie über dem ausgehobenen Rechteck aus. Als die locker aufgeschüttete Erde bis zur Ebene des Bodens reichte, legte er das Werkzeug keuchend weg, wischte sich die Stirn ab und begann den Kaddisch zu rezitieren, den sonst für Viktor keiner gesagt hätte. Er hatte mitbekommen, dass Kletzki taktlos genug war, Sonja vor dem Herunterlassen des Sargs noch zuzuraunen, dass auf diesem Friedhof Frauen das Kaddischsagen verboten sei. Als hätte Sonja überhaupt solche Aspirationen gehabt.
Als Klein sich umdrehte, sah er, dass von Sonja jede Ruhe abgefallen war. Eine Frau stand nun bei ihr, etwa in ihrem Alter, ebenfalls mit dunkler Brille, die sie stützte und ihr mit der Hand sanft über das künstliche Haar fuhr. Die Trauergäste standen unentschlossen herum, die meisten schienen kondolieren zu wollen, obwohl das nach jüdischem Brauch nicht vorgesehen war, aber sie trauten sich nicht an die geradezu krampfhaft geschüttelte Sonja heran, die immer tiefer in den Armen der anderen Frau versank. Ein Mann, offenbar der Partner dieser Frau, stand in geringer Entfernung der beiden und blickte um sich.
Anschel Fink trat zu Klein.
»Ein schöner Hesped, wenn man das sagen darf. Ich fühle mich sehr geehrt, dass Sie mich erwähnt haben.«
»Sie haben Viktor geholfen, in seinem Judentum Sinn zu finden.«
»Die Leute im Gesundheitszentrum von Lubumbashi werden ihn vermissen. Die haben ihn geliebt.«
Er machte eine kurze, pietätvolle Pause.
»Übrigens: Wenn ich Sie schon nicht herfahren durfte, kann ich Sie wenigstens nach Zürich mit zurücknehmen?«
Klein zögerte einen Augenblick. Eigentlich war er gerne alleine unterwegs, er hatte interessante Lektüre dabei, der er sich nun, da der Druck der bevorstehenden Beerdigung nicht mehr auf ihm lastete, gerne gewidmet hätte. Aber er wollte nicht unfreundlich sein, und davon abgesehen war die Zeitersparnis tatsächlich beträchtlich. Also willigte er ein.
Hinter Fink hatte sich diskret ein korpulenter Herr in kariertem Hemd und olivgrüner Sommerwindjacke aufgestellt, offensichtlich mit dem Wunsch, Klein anzusprechen. Fink bemerkte es und trat mit einem Lächeln zur Seite.
»Ich warte beim Ausgang«, sagte er.
»Ja, dann komme ich wohl ungelegen, Herr Rabbiner«, sagte der Herr. »Wenn ich mich vorstellen darf: Kommissar Dietmar Unmüßig, Polizeidienstleiter in Lörrach. Ich ermittle in diesem traurigen Fall. Vielen Dank für Ihre gefühlvolle Rede. Sie haben Herrn Ehrenreich wohl ganz gut gekannt.«
»Wir haben uns eigentlich nur dieses eine Mal im Jahr getroffen. Aber dann zu sehr offenen und persönlichen Gesprächen.«
»Eben. Sie wussten vielleicht Dinge, die andere nicht wussten.«
»Das kann ich nicht beurteilen«, wich Klein aus.
»Es ist einfach so: Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Aber natürlich nicht hier, sondern bei uns auf der Dienststelle. Am besten wäre es natürlich gewesen, wenn Sie jetzt gerade noch ein Stündchen Zeit gehabt hätten. Aber wie ich verstanden habe, werden Sie erwartet.«
Klein schaute auf die Uhr, aber es spielte eigentlich keine Rolle. Wie immer hatte er darauf geachtet, nach der Beerdigung keine Termine mehr zu haben.
»Ich habe schon noch etwas Zeit. Ich muss nur dem anderen Herrn sagen, dass ich nicht mit ihm fahre.«
»Wenn das möglich wäre …«, meinte Unmüßig.
Klein trat noch rasch zu Sonja hin, die sich wieder etwas beruhigt und nun die Sonnenbrille abgenommen hatte.
»Danke, Herr Rabbiner, tausend Dank für Ihre Worte!«
Sie wies auf die Frau neben sich.
»Meine Freundin Anouk«, sagte sie. »Sie ist der beste Mensch der Welt. Und ihr lieber Mann, Werner. Sicher hat Ihnen Viktor auch von ihnen erzählt.«
Klein lächelte kurz zu Sonjas Freundin hinüber, nickte schwach. Die Namen Anouk und Werner sagten ihm nichts.
Anschel Fink erwartete ihn bereits in seinem Jaguar vor dem Friedhofstor.
»Schade, hätte mich gefreut, Sie mitzunehmen. Hoffentlich bald bei einer erfreulicheren Gelegenheit.«
In dem eleganten Auto, das da wegglitt, hätte Klein nicht ungern gesessen. Aber die Vorstellung, in den nächsten Tagen für eine Befragung extra noch einmal herzufahren, war auch nicht reizvoll.
Das Polizeigebäude von Lörrach war ein alter, düsterer Bau an der Hauptachse der Stadt, gleich neben dem Bahnhof. In einem geräumigen, aber ziemlich muffigen Büro im zweiten Stock erwartete sie, fast verschwindend in einem riesenhaften elektrischen Rollstuhl, Unmüßigs Assistentin.
»Anke Frowein«, empfing sie Klein. »Verstehen Sie meine Worte als Händedruck. Den krieg ich nämlich grad nicht hin.«
»Alles klar«, sagte Klein etwas verkrampft und stellte sich ebenfalls vor.
»Wir machen gleich noch die Vernehmung von Herrn Klein«, sagte Unmüßig in Richtung seiner Assistentin. »Rabbiner Klein hat die Totenrede auf Herrn Ehrenreich gehalten. Ich denke, er kannte ihn ganz gut.«
»Schön«, sagte Frau Frowein. Auf der einen Armlehne hatte sie ein Tablet liegen, auf dem ihr Zeigefinger behände hin und her strich. »Ich mache alles für das Interview bereit.«
»Was zu trinken?«, fragte Unmüßig leutselig.
»Gern ein Glas Wasser.«
Der Kommissar schenkte ihm ein und schaltete einen Wasserkocher an.
»Es darf gern auch ein Kaffee oder Tee sein. Oder etwas vegane Bouillon. Kann ich sehr empfehlen.«
Klein sah, wie Anke Frowein die Augen verdrehte.
»Alles gut«, sagte Klein.
Unmüßig wartete, bis das Wasser heiß war, goss sich Pulver aus einer kleinen Dose in einer Kaffeetasse auf, und ein aufdringlicher Geruch nach Glutamat begann den Raum zu erfüllen. Frau Frowein griff ihrerseits in eine Vorrichtung an einer ihrer Armlehnen und holte eine Trinkflasche mit Strohhalm heraus, aus der sie einen Schluck nahm.
»Alles bereit, Chef«, sagte sie. Sie sprach Datum und Uhrzeit in ihr Tablet und danach: »Befragung Rabbiner Gabriel Klein, Bekannter des Opfers Viktor Ehrenreich.«
Unmüßig setzte sich hinter seinen abgewetzten Schreibtisch und schlürfte lautstark seine dampfende Suppe.
»Was wissen Sie über Sonja Ehrenreich?«
»Über Sonja? Wenig. Ich dachte, wir reden über Viktor.«
»Herr Rabbiner Klein, was wissen Sie von Viktor über Sonja Ehrenreich?«
Klein zögerte.
»Wenig, wie gesagt.«
Unmüßig schlürfte wieder.
»Dann erzählen sie das Wenige.«
»Sie kannten sich von einem jüdischen Anlass. Damals verliebte er sich Hals über Kopf in sie, zog wegen ihr von Berlin nach Süddeutschland und studierte dort fertig. Sie ist Lehrerin. Mathe und Musik, soweit ich weiß, hier am Gymnasium. Das wäre es, glaube ich.«
»In der Tat wenig«, sagte Unmüßig.
»Sage ich ja«, meinte Klein mit Ungeduld in der Stimme.
»Wissen Sie etwas über Frau Ehrenreichs Gesundheitszustand?«
»Sie meinen … ihre Depressionen.«
»Na also. Ganz so wenig wissen Sie doch nicht über sie. Wobei ich persönlich den Begriff der Borderline-Persönlichkeit bevorzugen würde.«
Klein war befremdet von der Sicherheit, mit der der Kommissar eine Diagnose abgab. Er zog es aber vor, sich dazu nicht zu äußern.
»Sie war immer wieder krankgeschrieben, das weiß ich. Aber natürlich kenne ich keine genauen Befunde.«
»War es, Ihrem Eindruck nach, eine glückliche Ehe?«
»Wie soll ich das beurteilen?«
»So, wie Sie wahrscheinlich alles in Ihrem Leben beurteilen. Man hört dies und jenes, beobachtet dies und das, und dann hat man einen Eindruck.«
»Sehen Sie, Herr Unmüßig, es gab sicher Krisen in dieser Ehe. Ich glaube, eines der größten Probleme war, dass das Paar keine Kinder bekam. Darunter hat Sonja wohl sehr gelitten, und sie fand, dass ihr Mann nicht genug unternommen hat, um diesen Zustand zu ändern. Insofern gab es Probleme. Aber das ist ja nicht das Gesamtbild.«
»Aber Sie wissen ja doch eine ganze Menge, Herr Klein. Da kommen wir vielleicht doch ein bisschen weiter.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was Frau Ehrenreichs Zustand mit dem Mord …«
Unmüßig hob die Hand.
»Ich bitte Sie, Herr Klein. Das Verstehenmüssen ist in diesem Fall ganz unsere Sache. Von Ihnen hätten wir einfach gerne Auskünfte, die uns das Verstehen erleichtern.«
Kleins Oberkörper spannte sich. Unmüßig hätte sich in puncto Umgangsformen etwas von Frau Bänziger abschneiden können. Aber dieses deutsche Kaff war eben nicht Zürich, dachte Klein bissig.
»Wenn wir hier schon von Sonja Ehrenreich sprechen«, meinte er, »dann fällt mir ein, dass sie selbst einen Verdacht hat, wer der Täter sein könnte. Ein Herr Moser nämlich. Der ihren Mann schon früher bedroht hat. Sie hat Ihnen das doch sicher auch gesagt.«
Wieder nahm Unmüßig schlürfend einen Schluck aus der Tasse.
»Frau Frowein, übernehmen Sie doch für einen Moment. Sonst meint man, Sie seien hier reine Dekoration.«
Anke Frowein blickte schon die ganze Zeit halb unbeteiligt, halb skeptisch vom einen zum anderen. Auf Unmüßigs Aufforderung hin übernahm sie nahtlos.
»Was Niklas Moser früher genau getan hat, ob er gedroht hat, ob er die Autofenster von Viktor Ehrenreich zerdeppert hat, wie Frau Ehrenreich behauptet, das wissen wir nicht so genau. Aber für den Mord kommt er nicht infrage.«
»Soso«, sagte Klein leise, aber mit einem provokativen Unterton, den er sich gegenüber Frau Bänziger nie herausgenommen hätte. Alles an diesem Büro hier war ihm zuwider, es roch schlecht, war geschmacklos eingerichtet, und die Polizisten führten sich auf, als sei er eingeladen, um ihnen etwas vorzutanzen.
»Wir sind natürlich Frau Ehrenreichs Verdacht nachgegangen. Herr Moser feierte an diesem Tag irgendein Familienfest am Titisee. War ja Sonntag. Und gegen 22 Uhr machte er sich auf den Heimweg. Das würde zeitlich noch hinkommen, dann wäre er kurz nach 23 Uhr in Inzlingen gewesen, und Viktor wurde irgendwann zwischen 22 Uhr und Mitternacht umgebracht. Aber Herr Moser hatte 1,9 Promille intus und fuhr schon gleich nach Hinterzarten in einen Pfosten. Auto futsch, Ausweis futsch, mindestens eine hohe Ordnungsbuße, die auf ihn wartet. Ich möchte in seiner Haut nicht stecken. Aber die Nacht hat er nachweislich in einer Ausnüchterungszelle verbracht. Dieses Alibi ist nicht zu toppen. Das weiß übrigens Frau Ehrenreich inzwischen auch.«
Dagegen gab es nichts einzuwenden, musste Klein zugeben. Dennoch hatte er Zweifel an der Professionalität, mit der hier vorgegangen wurde.
»Ich habe gehört, Sie schließen ein antisemitisches Hassverbrechen praktisch aus. Weil es nie Drohungen in der Art und keine Form von Bekennerschaft gab. Aber kann man das einfach ausschließen, wenn der einzige jüdische Bewohner eines Dorfes umgebracht wird?«