Kitabı oku: «Die Welt ohne Hunger»

Yazı tipi:



Alfred Bratt

Die WELT ohne
HUNGER


Roman

Herausgegeben,

mit einem Nachwort

sowie mit Illustrationen

versehen von Jorghi Poll


Inhalt

Erster Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Dritter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Vierter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Von Kaffeehausprinzen und Maggiwürfeln: über das viel zu kurze Leben des Schriftstellers Alfred Bratt

Anmerkungen

Erster Teil

Erstes Kapitel

Auf dem Tisch in der Mitte des Laboratoriums stand ein physikalischer Apparat.

Über der kochenden Flüssigkeit in dem Behälter stieg langsam weißlicher Dampf in die Höhe, wie eine dichte, in sich selbst kreiselnde Wolke. Die Glaswand drohte von Sekunde zu Sekunde zu bersten. Plötzlich hob sich der Dampf bis zu dem nadeldünnen Ende der Röhre und fuhr in einem boshaften, singenden Strahl heraus – geradewegs in eine neugierig über die Retorte gebeugte Nase. Der so unvermittelt attackierte Gesichtsteil zog sich schnaubend zurück und krümmte sich nach unten zu einer wulstigen Oberlippe. Aufwärts mündete der Nasenrücken in eine schmale, aber sehr fleischige Stirn. Der Schädel, auf dem eine einsame Silberlocke wippte, war im übrigen kahl und saß auf einem fettigen Nacken, der sich zwischen runde Schultern duckte. Das Ganze basierte auf zwei kurzen Säulenbeinen und hieß Thomas François Bourdier, Professor an der Pariser Sorbonne.

Mit der Entschlossenheit eines Mannes, der die Materie beherrscht, zugleich aber mit einem leichten Zittern der Hände, die nicht ganz sicher schienen, drehte der Professor eine Schraube zu. Die flüssige Substanz in der Röhre warf noch einige widerspenstige Blasen und sank dann auf den Boden des Gefäßes zurück. Der Professor zog geräuschvoll den Atem, trocknete sich ab und hielt dann mit einem Ruck des erhobenen Armes inne. Es klopfte.

Der Laboratoriumsdiener trat ein und überreichte eine Karte.

Der Professor hielt sie dicht vor die Augen und las: »Alfred Bell«.

Er bog die Karte zwischen den Fingern und glättete sie wieder: »Ihnen bekannt?«

»Nein, Herr Professor.«

»Warten lassen!«

Der Diener ging zur Türe.

Bourdier blickte auf. Es dunkelte bereits.

»Pierre …«

Der Diener wandte sich um und wartete, die Hand auf dem Türgriff.

Der Professor war an das Fenster getreten. Er sah durch das zitternd einströmende Abendlicht hinab auf die Züge der neuen Expreß-Stadtbahn, die – zwei Stockwerke tiefer – auf in der Luft schwebenden Schienensträngen vorbeidonnerten. Die eisernen Traversen der Hochbahnstrecke liefen quer von Haus zu Haus und überspannten die Straße mit einem Netz von Metall, so daß die Wände des Laboratoriums bei jedem vorüberratternden Zug leise dröhnend den Schall zurückgaben. Die Straße selbst lag sieben Stockwerke tief. Sie war schmal und erschien durch zwei ununterbrochen fortgleitende Reihen gedrängter Automobildächer noch enger.

Der Professor blickte gedankenlos in diesen kribbelnden Kessel zwischen den schroffen Häuserfronten. So gedankenlos, wie er dies durch zehn Jahre Tag für Tag getan.

Er hielt die Hände tief in die Taschen seines weißen Kittels versenkt; mit der Festigkeit eines Mannes, der sich Zeit läßt.

Er hatte sich stets Zeit gelassen. Und nicht zu seinem Nachteil.

Herrgott, ja, wenn man einen Namen trägt …

Keine einfache Sache. Keineswegs. Man altert und muß sich auf den Nachwuchs stützen.

Und die jungen Kräfte, deren man sich bedienen könnte, sind nicht immer zur Stelle.

Thomas François Bourdier gehörte zu jenen Wissenschaftlern, die es mit außerordentlichem Spürsinn und einer bewunderungswürdigen Anpassungsfähigkeit verstehen, Talente zu – entdecken. Er hatte es stets für vernünftiger gehalten, die Leistungen Unbekannter gewinnbringend zu verwerten, als selbst allzu tief in die so verwirrten und verwirrenden Regionen der Elemente einzudringen.

Denn es ist unbestreitbar bequemer und keineswegs weniger amüsant, diese komplizierten Neuerungen anderen zu überlassen. Wenn man nur die Glorie auf seine Seite bringt!

Man muß die Welt kennen – das ist es. Thomas François Bourdier kannte die Welt.

Auf diesem mehr ehren- als dornenvollen Wege war er mit dem Vollgewicht seiner Person die steilen Stufen zur Professur und zum Sitz und Titel eines Akademikers emporgestiegen. Seine Abstammung aus der Gascogne, die ihn mit einer nicht unbeträchtlichen Redegewandtheit begabt hatte, trug keineswegs den kleinsten Teil an seinen Erfolgen. Zudem ist häufig genug beobachtet worden, wenn auch noch nicht ganz aufgeklärt, daß fette Leute dem Fatum sympathischer sind als magere. Und in Bezug auf die erstere Eigenschaft hatte Thomas François Bourdier sich nichts vorzuwerfen. Seine von harten Fleischmassen zusammengepreßte Gestalt mit den merkwürdig beweglichen Armen und Beinen, dem zugespitzten Kopf und den runden, gleichsam auf unsichtbaren Stielen hervorquellenden Augen glich wahr- und leibhaftig dem tausendfach vergrößerten Exemplar jenes merkwürdigen Tieres, das die Zoologen Ameisenlöwe nennen. Man weiß, daß dies anmutige und ansprechende Geschöpf seine Zeit damit verbringt, eine trichterförmige Öffnung in den Sandboden zu bohren und hier auf die Ameisen zu warten, die sich etwa freundlicherweise dem Trichterrand nähern und herabfallen möchten. Das ganze Leben des Professors Bourdier war sozusagen ein solcher Raubtiertrichter, in dessen Mittelpunkt er unablässig saß und gierig eine Karriere bohrte.

Vor dem hohen Laboratoriumsfenster stehend, blickte Bourdier in einen Sonnenuntergang, der die Giebel der gegenüberliegenden Häuser, die schwanken Stahlsparren der Hochbahngleise und die Motorhauben der in der Tiefe schwirrenden Automobile in rötliche und gelbliche Linien zerflimmerte. Der sacht streichende Hauch des Abends, jener Hauch vom ersten Wipfelgrün des Bois de Boulogne und dem sanften Schlag des Seinewassers an schlammige Kaimauern, vom Brodem der in Dunstschleiern versinkenden Verkehrsplätze und der schüchternen Melodie einsamer Vorstadtgassen, von Lachen und Parfüm, von Hupenklang und dem Ruf versprengter Camelots mit druckfeuchten Zeitungen auf dem Arm – dieser aus hunderterlei Geruch- und Lautempfindungen gemengte Hauch, den jeder Pariser Frühjahrsabend in seinem Atem mitschwingt, drang nicht bis herauf in den kahlen Raum. Er berührte nur mit einem kaum sichtbaren Nebel die geschliffene Fensterplatte, flüchtig wie ein halber Gruß.

Der Professor legte den Kopf asthmatisch über die rechte Schulter: die Wartezeit schien ihm genügend lange.

»Pierre … lassen Sie den Herrn eintreten!«

Der Diener drückte den Türgriff nieder und verschwand.

Bourdier begab sich an den Schreibtisch. Er rückte den Armsessel noch tiefer in den Schatten der Ecke und schob einen zweiten Stuhl für den Besucher nach vorne in die letzte kalte Helle. Dann nahm er Platz – verborgen im Dunkel der Wand, so daß er, selbst kaum kenntlich, den Gegenübersitzenden scharf fixieren, jede Falte, jeden Muskel seines Gesichts in der prallen Beleuchtung beobachten konnte – und rief, ohne ein zweites Klopfen abzuwarten: »Herein …«

Als Alfred Bell das Laboratorium betrat, vermochte er niemand zu erblicken. Erst auf ein Räuspern des Professors bemerkte er eine Gestalt, die sich hinter dem Schreibtisch bewegte.

»Guten Abend, mein Herr.« Es klang ölig jovial aus der Ecke.

»Herr Professor Bourdier? …«

»Sehr wohl.« Der Professor hob den rechten Arm und ließ ihn gleich wieder herabfallen. »Hier, bitte.«

Der Fremde setzte sich. Das schwindende Tageslicht fiel auf sein kantig geschnittenes, knochiges Gesicht und die glattgescheitelten braunen Haare.

Der Professor warf einen beflissen interessierten Blick auf die Karte, die vor ihm auf der Tischplatte lag.

»Herr Bell, nicht wahr?«

»Ja.« – Der Fremde blickte dem Professor kühl und ruhig in die Augen.

Bourdier fühlte, daß dieser Blick ohne Scheu durch das Dunkel der Ecke bis zu ihm drang.

»Erfreut«, murmelte er. Und dann laut: »Womit kann ich Ihnen dienen?«


Er tippte gleichgültig die Fingerspitzen aneinander, ließ aber bald erstaunt und gespannt die Hände sinken, als der Fremde folgendermaßen begann:

»Ihr Name und Ihre Stellung, Herr Professor, sind mir bekannt. Ich weiß, daß Ihre Zeit nicht jedermann zur Verfügung steht. Aber – Sie werden mich anhören!«

»Mhmm …!« Der Professor rückte auf seinem Platz und gab keine Antwort.

»Ja«, fuhr der Fremde, der Bell hieß, fort. »Sie müssen mich anhören. Nicht meinetwegen, sondern um dessentwillen, was ich zu sagen habe.«

»Ich bin begierig …«

Der Fremde beugte sich kräftig zurück, wie jemand, der gesonnen ist, sich nicht unterbrechen zu lassen. Er machte eine Pause, als überlegte er noch einmal blitzschnell seine Worte.

Der Professor betrachtete ihn unter zusammengezogenen Augenlidern, ohne an diesen energischen, glatten Zügen irgendein Merkmal, ein bezeichnendes oder verräterisches Kennzeichen entdecken zu können. Der Mann, der vor ihm saß, den hageren Oberkörper mit den kantigen Schultern zurückgebogen, gab sich nicht auf den ersten Blick, das war klar.

Ein merkwürdig sicherer junger Mann. Wie? – Nun, man würde ja sehen.

»Es handelt sich um eine Erfindung«, sagte Bell laut und unvermittelt. »Eine Erfindung, die ohne Zweifel das Leben des einzelnen beeinflussen wird und die ganze zivilisierte Welt zu verändern vermag.«

Der Professor faltete die Hände wie ein erstauntes, neugieriges Kind. Aber in seinen Augen glomm ein Licht auf, das sofort wieder verschwand.

»Mein Gott«, sagte er liebenswürdig lächelnd, »wie sollte dies geschehen – wenn man fragen darf?«

Der andere sah geradeaus. »Durch Schaffung einer neuen sozialen Basis!«, sagte er. »Die Verteilung der Werte, wie sie heute besteht, ist ungesund und rechtlos. Die grenzenlose Stapelung der Kapitalien auf der einen Seite und die mit dem Mangel der primitivsten Entwicklungsmöglichkeiten verbundene Wehrlosigkeit auf der anderen Seite – diese andauernde Verstärkung der wirtschaftlichen Kontraste bis zur hoffnungslosen Erhitzung muß in absehbarer Zeit zu einer Explosion führen. Zu einer Explosion, die in ihrem elementaren Ausbruch, ihrem Umfang und ihren Wirkungen gleich fürchterlich sein kann.«

Der Professor lehnte die Brust an den Tisch.

»Kapitalismus und Proletariat, hm ja … ich verstehe. Sie sprechen von einem alten Problem, mein Herr, das ungezählte Male so heftig und stets so erfolglos diskutiert wurde, daß man nachgerade an seinem Vorhandensein zweifeln könnte. Beiläufig bemerkt, die Katastrophe, die Sie zu prophezeien belieben, scheint mir zumindest der Aktualität zu entbehren.«

Bell hob den Kopf; er saß jetzt vollkommen gerade. »Sie war nie so aktuell wie heute!«, stieß er halblaut hervor. »Wenn zwei konträre Pole sich berühren, entsteht ein Funke. Das können Sie nicht leugnen, Herr Professor … Sie sind Physiker«, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Bourdier erwiderte dieses Lächeln, ohne zu wissen warum.

Er empfand auf einmal eine ihm selbst unerklärliche Nervosität. Er wußte nicht recht, wie er sich diesem unbekannten Besucher gegenüber verhalten sollte.

Von ferne erdröhnte ein prasselndes Rollen, schnell anschwellend. Dann wurde es wieder schwächer und verlor sich in den Mauern. Ein Hochbahnzug war vorbeigerast.

Der Mann, dessen Schädel schwarz wie eine Silhouette im letzten Licht des Fensters ragte, fuhr fort: »Es ist jetzt nicht die Stunde, um die technische oder, besser gesagt, chemische Seite meiner Idee darzulegen. Nur soviel: es müßte ein Mittel geben, das die ursprünglichste Lebensbedingung jedes einzelnen – ohne Ausnahme – absolut und automatisch sicherstellt! Die Wissenschaft ist unsere erste Religion, sie ist das Tatsächliche: das Mittel, von dem ich spreche, müßte aus ihr hervorgehen.«

Der Professor bewegte sich nicht.

»… Dieses Mittel habe ich gefunden«, sagte Bell einfach.

Das Grau der Wände war schwarz geworden. Nur dort, wie der Spiegelglanz der Fensterscheiben reflektierte, blinkte ein matter Majolikastreif.

Ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, fühlte Bourdier, daß die Worte des Fremden keine vulgäre Utopie sein konnten. Noch vermochte er das, was er gehört hatte, auf keinerlei Weise in die Form einer greifbaren Vorstellung zu bringen. Er nahm auf, was der andere sagte, ohne eigentlich einen festen Begriff damit zu verbinden. Er hörte, ohne geistig zu sehen. Aber – so rätselhaft ihm dies war – er konnte sich nicht von dem Gefühl befreien, daß, was dieser Fremde sprach, möglich war. Daß es möglich war … weil er es sagte.

Und es war ihm plötzlich, als hätte er diesen abendlichen Besuch schon einmal erlebt – irgendwann, irgendwo.

Er drückte die Hände ineinander, daß die Fingergelenke hörbar knackten.

»Und worin, mein Herr … sollte dieses Mittel bestehen?«

Bell sah an ihm vorbei.

»Der Haß«, sagte er, »die durch Generationen erweiterte und vererbte Kluft zwischen Arbeiter und Unternehmer, muß überbrückt werden. Wir treiben Philosophie auf jedem, selbst dem abseitigsten Gebiet. An unseren Universitäten werden die Geheimnisse der Ethik, die Lehren der Nationalökonomie getrieben. Wir errichten Heilstätten für die arbeitenden Klassen, ach ja … Wir pumpen den Männern in Maschinenhallen, Hochöfen und Eisenwalzwerken die Lungen leer, wir vergiften ihren Atem in Bleigruben, wir jagen ihnen in Kohleschächten und Glasbläsereien die Schwindsucht an den Hals. Und wenn wir den letzten schweißigen Tropfen aus ihnen gepreßt haben, wenn sie ausgedrückt sind und leer bis zum Äußersten, dann schicken wir sie zum Teufel, als Krüppel, ohne Kraft, ohne Verstand, hohle Gespenster … Sie halten die Zeit nicht für reif! … Ich kenne das Sausen der Treibriemen, das mit jeder Umdrehung ein Stück Nerv abschabt, ich kenne den Schweiß des weißglühenden Stahls. Ich kenne die geisternde Stickluft der Werkstätten, die Pest, die in die Herzkammern dringt und das Blut würgt … Der Himmel weiß, ob das aktuell ist! … Entsinnen Sie sich der Katastrophe in Wales, die vor zwei Jahren durch die Presse der ganzen Welt ging? Wissen Sie, daß innerhalb einer Minute sechshundert Leute durch jene Explosion zugrunde gingen? Und wie sie starben? Ich habe sie gesehen: mit offenen Fischmäulern und verkohlten Kiefern, mit gekochten Nieren und geplatzten Eingeweiden! … Denken Sie an den Bau der Dardanellenbrücke! An dieses Galafest der Haie! … Gewiß – diese Arbeiten sind notwendig, sie müssen ausgeführt werden. Wir brauchen sie, wie wir den elektrischen Strom und das Dynamit brauchen: für unsere Bahnen, für unsere Städte, für den Verkehr unter Wasser und in der Luft. Aber haben jene, die diesen Pflichten nachkommen, nicht auch selbstverständliche Rechte? … Vernichten Sie das herrschende System und setzen Sie ein neues an seine Stelle: beschäftigen Sie in denselben Werken zweimal, dreimal so viele Arbeiter; verdoppeln und verdreifachen Sie die Ablösungen von Tag- und Nachtschicht; vermindern Sie die Schwere und Zeit der Arbeit; erhöhen Sie die Löhne – und wir werden dieselben Dampfmaschinen und Motoren bekommen. Sagen Sie nicht, daß dies wirtschaftlich unmöglich ist; alles ist möglich, wenn man die Mittel besitzt, es zu erzwingen! Die Konzerne, die Truste werden einige Prozente weniger verdienen, wir werden die Heilstätten sperren – und das schlimmste Geschwür unserer Zeit, die Arbeitslosigkeit, wird eine Schimäre sein. – Aber dulden Sie nicht, daß Millionen in Whitechapel, in Port-Said, im Judenviertel New Yorks, in San Franzisko, in allen Gold- und Sumpfzentren der Welt vor Hunger und Dreck der Atem ausgeht. Dulden Sie nicht, daß Männer wie John Pitt in den Betongräben von Cornerhill den Streik mit Stinkbomben und schwerem Kaliber bekämpfen, daß die Arbeiter gezwungen werden, Verträge einzuhalten, die sie blind unterschrieben haben … Ich glaube nicht an die moralische oder geistige Berechtigung einzelner, über die Massen zu schreiten, die ihnen gleich geschaffen wurden … Ich glaube nur an die Masse!«

Bell schwieg. Er war deutlich hörbar in der Stille des Raumes, wie er den Atem laut und breit in die Brust zog. Dann klang seine Stimme wieder ruhig durch die Dunkelheit.

»Das Proletariat fordert für sich, was das Primitivste ist: das heißt das, was die Fortführung des nackten Daseins garantiert. Es fordert dies weder als Gnade noch als Lohn, sondern als etwas Primäres, das einfach da ist, wie die Natur da war, bevor wir sie zerteilten und kartellierten!«

Und etwas gedämpfter fügte er einfach hinzu: »Mein Mittel besteht in einem Präparat, das in kondensierter Form alle Nahrung enthält, die der menschliche Körper täglich verbraucht. Es wird – durch ein womöglich internationales Monopol verstaatlicht – auf Staatskosten hergestellt und steht von Staats wegen jedermann zur Verfügung, der seiner bedarf. – Das ist alles.«

Bell verstummte plötzlich. Er glaubte ein leises, knarrendes Geräusch gehört zu haben.

Er blickte nach der Türe. Trotzdem der rückwärtige Teil des Laboratoriums bereits schwarz von Dämmerung war, meinte Bell ganz deutlich einen schmalen offenen Türspalt zu sehen. Und hinter diesem Spalt schwebte ein weißer Fleck, wie … ja, wie ein menschliches Gesicht.

Es währte nur den Bruchteil einer Sekunde. Gleich darauf wandte Bell geblendet den Kopf.

Der Professor hatte die elektrische Tischlampe angedreht.

Die Tür war geschlossen. Kein Fleck, kein Gesicht. Nur die blanke Türklinke aus Messing schien sich noch leise zu bewegen.

Stille. Und abermals jagte zwei Stockwerke tiefer ein Hochexpreß, knatterte Sturm und verhallte.

Ein breiter Schatten kroch unruhig über die mattbeleuchtete Rückwand des Laboratoriums. Die seltsam geformten Gläser und Phiolen in den Schränken stießen mit ganz leisem Klirren aneinander, während hastige Schritte Thomas François Bourdier hin und wider trieben. Er hielt die Hände hinten gekreuzt und sandte verstohlene, schnelle Blicke zu Bell, der wortlos dasaß und ihn aus ernstem Gesicht ohne erkennbare Regung betrachtete. Der Professor verspürte eine Hitze im Kopf, als sei das Blut seines Körpers in einem Schwall bis in die Hirnschale gesprungen.

Das – das war doch …! Krrrrr.

Hol mich der Teufel – eine Idee!

Wahrhaftig ja – das war es!

Es schien unmöglich, die Folgen dieses Planes zu überschauen, oder selbst nur einen Teil davon auszudenken. Aber die fast unbegrenzten Möglichkeiten, die in den knappen Worten Bells enthalten waren, hatten Bourdier überwältigt.

Eine Sekunde lang hatte er das Empfinden, als würde er gegen die Brust gedrückt und könne keinen Atem bekommen.

Das hieße wahrhaftig, das Wirtschaftsleben an seiner Wurzel packen. Bewährte Begriffe würden einfach umgestülpt, he, und an die Luft gesetzt. Zum Lachen … Die durch Traditionen von Jahrhunderten geheiligte Maschine sozusagen altes Eisen! Das Staatsleben selbst könnte …

Er blieb stehen und griff sich unwillkürlich an die Stirn.

Dieser Bell sah ganz aus wie ein Mann, der weiß, was er spricht. Hier also mußte man einsetzen. Und zwar sofort! Denn das eine war Bourdier klar: der Moment war für ihn gegeben, seine Position festzustellen.

Er warf den Kopf nach hinten, daß die Locke auf dem kahlen Kran erzitterte.

Er ging auf seinen Platz zurück, ließ sich wieder nieder und richtete ein gewaltsam harmloses Augenzwinkern auf Bell, der schweigsam dasaß, als ginge ihn die Sache gar nichts an.

Bourdier stockte der Atem. In seinem Kopf arbeitete es jetzt wie eine überhitzte Präzisionsmaschine. Er wußte, daß er jeden Satz dreimal wenden müsse, bevor er ihn entließ.

Krrrr. Jawohl.

Er hockte in seinem Armstuhl mit hochgezogenen Schultern und gab sich den Anschein, als räkelte er sich möglichst behaglich zurecht; während er doch in Wahrheit dem armseligsten der Gedanken nachjagte, die sich nun in seinem Hirn überrannten, so daß er innerlich in Schweiß geriet. Er bohrte sich tief in den Sessel; der über den Schultern in Falten gezogene Stoff des Rockes und das ungesunde Gelb seiner schwammigen Augen zergingen im Schein der geschirmten Tischlampe in ein fast konturenloses Verschwimmen von Licht und Schatten, aus dem nur seine Augen hervorglommen.

Er rieb die feuchtgewordenen Innenflächen der Hände:

»Und was wünschen Sie von mir in dieser Angelegenheit?«

Durch Bells langgestreckte Gestalt ging eine Bewegung, als sei er plötzlich aufgewacht.

»Meine Arbeiten sind so gut wie abgeschlossen, so weit dies theoretisch überhaupt möglich ist. Zur tatsächlichen Herstellung des Präparats ist eine praktische Tätigkeit erforderlich, die ein halbes Jahr beanspruchen dürfte. Ich benötige komplizierte Apparate, deren Konstruktion mein Geheimnis ist. Hierzu aber sind Geldmittel erforderlich, die dem Umfang des Unternehmens gegenüber zwar gering, für mich persönlich jedoch unerschwinglich sind.«

Der Professor legte die gespreizten Finger vor sich auf die Tischplatte. Sein Schädel saß schief, seine Mienen waren zusammengekniffen. Er war nur noch lauernde Aufmerksamkeit.

»… Und zu diesem Zweck brauche ich Ihre Hilfe, Herr Professor!«

Bourdier räusperte sich.

»Tja«, meinte er breit und vorsichtig, »… und wenn die chemische Seite Ihrer Idee nun ein – Irrtum wäre?«

Bell beugte sich vor. Innerhalb einer Minute hatte er zwei symmetrische Reihen von Formeln auf einen Notizblock geworfen.

Bourdier starrte lange auf das Papier. Seine Augen weiteten sich, als wollte er jedes Zeichen und jede Zahl auf ewig in sein Gehirn einprägen. Er bewegte murmelnd die Lippen und hob dann mit einem jähen Ruck den Kopf.

»Hm, allerdings … ein außerordentliches Problem! Aber ein Problem …«

Bell lächelte unmerklich. »Die Lösung«, sagte er, »ist vorläufig natürlich mein Geheimnis.«

Er streckte sich. In dem Schwarz, das über der niedrig strahlenden Lampe schwebend die Decke verhüllte, schien er ins Unbegrenzte zu wachsen.

»Es ist für Sie ein leichtes, mir durch die Leitung der Sorbonne die nötige Summe zu verschaffen.«

Und mit einem scheinbar wieder halb abwesenden Blick fügte er hinzu: »Wie denken Sie darüber – Herr Professor?«

Bourdier neigte sich in seiner ganzen Fülle vornüber und schlug Bell kräftig und wiederholt auf den Arm, als wäre er seit Jahren sein bester Freund.

»Grandios!«, rief er und schnaufte vor Extase. »Grandios – mein Lieber! … Hä – soll ich Sie umarmen? … Krrrr.«

Professor Bourdier überstürzte die Worte – nun, da der Augenblick gekommen war, auf den er während der letzten Minuten mit sehnsüchtiger Spannung gewartet hatte. Er fand – wie er sagte – keine Bezeichnung, die so absolut idealistischen Tendenzen Bells in gebührendem Maße zu apostrophieren. Da war endlich einmal ein Mann, der über die Grenzen dessen hinauswollte, was uns als das Gegebene und darum recht und gültig erscheint. Ein Pionier! … bei allen Heiligen.

Er wiegte sich nach allen Seiten, seine Bewegungen bekamen Tempo und Rhythmus vor Beredsamkeit.

Ja, Bell sei einem ganz richtigen Instinkt gefolgt, als er ihn aufsuchte. Er würde nicht ermangeln … ganz im Gegenteil. Aber das mit dem Direktorium der Sorbonne – oder wie hatte Bell doch gesagt? – sei meilenweit davon entfernt, die Unantastbarkeit der Herren Kollegen in Zweifel zu ziehen. Aber immerhin … es gäbe persönliche Interessen, die gefährlich werden könnten. Und dann sei überhaupt nicht zu erwarten, daß die Sorbonne eine derart nach Utopie klingende Angelegenheit (er selbst zweifle kaum, aber trotzdem) in den Kreis ihrer streng sachlichen Interessen ziehe … und überhaupt, jawohl.

Bourdiers Stimme lief hurtig und gelenksam alle Windungen seiner Dialektik durch, vom vibrierenden Baß der Überzeugung bis zum Falsett der Voraussicht. Seine Glimmerkohlen von Augen flackerten verfänglich.

Aber er persönlich sei durchaus nicht dagegen, sich der Entwicklung des Unternehmens zu widmen. Dies wäre nicht der erste Fall – ganz gewiß nicht. Wenn auch die Unsicherheit der realen Basis natürlich nicht zu unterschätzen sei. Vor allen Dingen müßte er die wissenschaftlichen Voraussetzungen untersuchen, das sei Prinzip und Notwendigkeit. Nur ein älterer Fachmann ist berufen – nicht wahr? – zu prüfen und zu scheiden und die Verbindungen herzustellen, die die Jugend oft leicht übersieht, deren aber jeder wissenschaftliche Bau grundsätzlich und dringendst bedarf.

Seine Meinung gehe also kurzerhand dahin: er wolle Bells Pläne und Analysen selbst der genauesten Prüfung unterziehen, und dann sei er bereit, sozusagen Hand in Hand mit ihm zur Lösung zu schreiten.

Ja, das sei wahrhaftig das beste.

Und was die Mittel beträfe – he … das würde sich finden! Er selbst sei bereit – entsprechend dem Ergebnis seiner Untersuchung, natürlich – das Notwendige zu beschaffen. Alles weitere würde sich von selbst ergeben, nicht wahr? … Denn das mit staatlichem Monopol und Internationalität – allerhand Ideale in Ehren – sei doch wohl übertrieben und ermangele zuvörderst der reiflichen Überlegung.

Oder wie?

Eine private Gesellschaft – er bemerke dies beispielsweise – könne da ganz anders zu Werke gehen! Dies sei eine alte Erfahrung. Und man behalte das Recht der Disposition!

Übrigens – es sei ja noch Zeit, bis dahin.

Zuerst müsse jeder Zweifel in wissenschaftlicher Hinsicht beseitigt werden.

Bourdier stieß den Atem kurz und kräftig. Er plusterte vor Überzeugung.

Vorläufig seien Zweifel immerhin vorhanden. Es gäbe wohl Schwierigkeiten, ganz abgesehen von ökonomischen und anderen, sozusagen geschäftlichen Maßnahmen. Er könne doch nicht umhin, mancherlei in Frage zu ziehen. Und kurz und bündig – vorläufig sehe er nicht weniger und nicht mehr als eine großartige Möglichkeit, deren Hintergrund festzustellen seine erste Aufgabe sei. Und er hoffe, daß Bell allen guten Willen habe, ihn in diesem Belang werktätig zu unterstützen.

Wie gesagt – von der Sorbonne müsse man absehen, das werde Bell wohl begreifen – er für seine Person sei nicht abgeneigt, das Ganze in die Hand zu nehmen!

Die letzten Sätze hatte Bourdier regelrecht hervorgeschossen. Er zielte förmlich und folgte ihnen mit dem Körper, um ihre Treffsicherheit abzuschätzen. Er umkreiste Bell mit Einsicht und Schärfe, er drang in ihn, er füllte ihn mit Autorität und bester Meinung, er umnebelte ihn mit einem Wust von Tiraden und Phraseologien, er polierte seine Bedenken, seinen Widerstand, den kleinsten Argwohn mit Erfahrungen und Grundsätzen, er schliff und feilte ihn von allen Seiten, er sprach ihn platt rundherum. Und nun hatte Bourdier wohl die Fläche und Form, auf der er sich zu bewegen gewohnt war. Er stand sicher und war nicht in Gefahr, abzugleiten.

Doch er glitt ab.

Bell hatte ihn mit keiner einzigen Bewegung unterbrochen. Nur über seinem Kinn war ein Lächeln hervorgekrochen, das in einer schmalen Linie um seine Lippen lief, sich vertiefte und von den geschärften Mundwinkeln in gerader Linie zur Nasenwurzel zog.

Er spürte, wie ein bitterer Geschmack durch seinen Hals nach oben stieg.

Wieder vergebens … Es war immer dasselbe!

Er zog mit zwei Rucken die Ärmel bis zu den Handgelenken, erhob sich und griff brüsk nach seinem Hut. Dann sagte er, jedes seiner Worte gleich trocken betonend: »Ich verstehe, Herr Professor! Und ich bedauere, Sie in Anspruch genommen zu haben. Ihr Weg und mein Weg haben verschiedene Richtungen. Das ist es. Ein kleiner Irrtum, der sich aber nicht überbrücken läßt. – Ich bedauere nochmals!«

Er ging zur Türe, ohne sich umzuwenden.

Aber da stand auf einmal Bourdier vor ihm, und seine kompakte kleine Person versperrte den Weg. Ein anderer, zusammengezogener Bourdier, mit muskulösen Fleischwülsten an Hals und Wangen. Sein Gesicht knallrot. Und Bell bemerkte, daß die Haut Boudiers von Sommersprossen übersät war.

»He, lieber Freund« – der Professor schnellte den Ausruf wie aus einem Blasrohr hervor – »das ist Ihre Meinung?! Ich will Sie nicht bekehren. Nichts liegt weniger in meiner Absicht!«

Bell gab keine Antwort.

Bourdier sträubte sich, als hätte er Federn am Leibe: »Aber verdammt noch einmal, kommen Sie dann nicht und besetzen meine kostbare Zeit – mit Ihren Narreteien! Sie – glorioser junger Mann, Sie!«

Bell streckte den Arm nach der Türe aus: »Ich sagte Ihnen schon, daß ich bedauere.«

»Mein Herr«, schrie Bourdier, »meinetwegen können Sie sich zum Kuckuck …«

Er schluckte heftig, mit hüpfendem Halsknorpel. »Und überhaupt – das lassen Sie sich gesagt sein – was denken Sie sich denn eigentlich?! Bilden Sie sich etwa ein, Sie brauchten nur mit den Fingern zu knipsen, um ein neues Paradies erstehen zu lassen? … Ho! Sie glauben an die Massen! … Seit Adam ist der Gang der Welt von einzelnen bestimmt worden. Stets waren es einzelne, die den Massen den Fortschritt aufzwingen mußten. Aufzwingen, hören Sie? … Glauben Sie – glauben Sie meinetwegen an den Teufel! … Und Sie wollen Ideale haben? Ja, sind Sie denn verblendet genug, um nicht zu sehen, daß Sie gerade diejenigen ins Verderben reißen, denen Sie helfen wollen! … Knechten Sie die Masse tausendmal härter – und Sie haben die Revolution! … Sie wollen das größte Verbrechen begehen, das Verbrechen der Schwäche. Sie – Demoralisationsfanatiker!«

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