Kitabı oku: «Die Welt ohne Hunger», sayfa 2

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Und, während Bell wortlos die Tür aufklinkte: »Denken Sie an mich: die Massen, für die Ihr Werk bestimmt ist, werden die ersten sein, die es vernichten!«

Die Türe ging auf … so geisterhaft geräuschlos, als sei sie nur angelehnt gewesen. In dem breiten Rahmen wurde ein Kopf sichtbar, der sich wie ertappt zurückzog. Es war der Laboratoriumsdiener Pierre.

Bourdier erblickte ihn, raffte sich zusammen, schloß plötzlich ganz fest den Mund, klappte ihn dann wieder auf – und sagte mit gepreßter Stimme, langsam und halb gegen die offen gebliebene Türe gedreht: »Mein Herr – es hat mich gefreut.«

Bell verbeugte sich korrekt: »Ganz meinerseits – Herr Professor!«

Dann ging er gerade und sicher an Pierre vorbei, den langen Gang hinab. Er stieg in den Lift, drückte, ohne sich dessen bewußt zu sein, auf den Hebel und schloß während der Fahrt die Augen in dem Gefühl eines lähmenden Halbschlafs. Gleichgültig schritt er durch die kalte Marmorhalle, trat auf die Straße und erwachte erst wieder, als die rotierenden Reklameaugen des gegenüberliegenden Warenhauses grell gegen ihn stießen. –

In der siebenten Etage des Sorbonnepalastes stand Pierre noch immer neben der Türe, die wieder zugefallen war.

Es zuckte seltsam in seinem häßlichen Gesicht.

Ein Klingelzeichen!

Der Diener drückte lautlos das Schloß auf und schlüpfte in das Laboratorium.

Der Saal war jetzt hell erleuchtet. Professor Bourdier hatte den weißen Kittel ausgezogen und schleuderte ihn zornig von sich.

»Räumen Sie den Tisch ab!«, befahl er barsch.

Ein Klirren … und dann ein Sturz. Auf dem Parkett lag ein Haufen von Metall- und Glassplittern.

Bourdier fluchte.

Pierre richtete sich auf: »Ich bitte um meine Entlassung!«, sagte er heiser.

Bourdier vergaß seinen Zorn vor Verblüffung.

»Sind Sie verrückt geworden?«

Aber der Diener war schon zur Türe hinaus.

Zweites Kapitel

Das Kanalboot »Lady Grace« dampfte mit achtundzwanzig Knoten Geschwindigkeit.

Vor dem scharf schneidenden Zug sprang das Wasser in rasenden Schaumwirbeln hoch, die sprudelnd abglitten und zu beiden Seiten siedend die eilende Fahrtrichtung zurückflossen. Der Sturmton johlte um die Antennen des drahtlosen Telegraphen; er fuhr wütend in die schwarze Höhlung des Schlotes, aus der ihm dickquellender Rauch entgegendrang; er platzte mit krachendem Hall an der glatten Holzwehr der Kommandobrücke; er jagte sprühend, durchnäßte Tauenden vor sich herfegend, über Deck. Er sauste rüttelnd um die luftdicht verschlossenen Luken der Bordwände; er knatterte am Heck, während er ohnmächtig das Fahrzeug voranfliehen ließ, eine Sekunde hoch über dem Gischtschweiß der Schrauben und stürzte dann breit auf die Wellen, die sich hochtürmten und mit ihm versanken.

Der Himmel war zerrissen. Ein kupferfarbener Mond beleuchtete düstere Wolken.

Das rote Wachtlicht auf Backbord irrte wie ein erblindeter Funke durch den Nebel.

In zweidrittel Höhe des Vordermastes glaste ein Scheinwerfer im Halbkreis über die Flut, die mit dunkelgrün brausenden Kämmen gegen das Schiff rannte. Der schmale, für schnellstes Tempo gebaute Rumpf rollte schwer; bald schien er nach Steuerbord, bald nach Backbord zu kentern, richtete sich jedoch stets wieder elastisch auf unter dem treibenden Druck der Maschinenkraft.

Das Vorderdeck war durch Seile abgesperrt. Die unaufhörlich über die Planken jachternden Wogen machten den Aufenthalt hier zur Unmöglichkeit. Von der Navigationskammer hinter dem Offizierssteg klangen in kurzen Abständen die Glockensignale durch den langgezogenen Brustton der Sirene.

Die Passagiere, die den Blitzzug Paris–Calais erst vor zehn Minuten verlassen hatten, saßen und lehnten mit schützend zum Festhalten ausgebreiteten Armen im Schiffssalon. Sie stießen an die Wände, an die Tische und Ecksofas und folgten mechanisch jeder Bewegung des schwankenden Bodens. Die an die Decke geschraubten Elektrizitätskörper zitterten unter der Erschütterung über bleiche Gesichter.

Zehn Minuten Fahrt! Und noch doppelt so lange würde es dauern, bis Dover erreicht war.

Noch zwanzig Minuten …

Die Luft war angefüllt von der verdunstenden Nässe der Tücher und Mäntel, vom Ledergeruch der Reisetaschen, von muffigen Sammetbezügen, Möbelholz und Dumpfigkeit.

Auch der rückwärtige Teil des Decks war leer. Niemand wagte sich auf die abschüssige, glitterige Fläche.

Zwischen der Reeling und der das Deck überragenden Außenfront des Salons – in dem schmalen Gang, den der Wind pfeifend durchfuhr – stand ein Mann. Er hielt sich mit beiden Händen an der obersten Stange der Barriere fest. Der Luftzug zerrte an seinem Schal und fegte sein Haar unter der Mütze hervor. Eiseskälte sprühte ihm ins Gesicht und blieb wie spitze Splitter in der Haut stecken.

Er hatte die Arme hart gegen die Reeling gestemmt und starrte in die Brandung, die das Schiff hochwarf und dann wieder einen gurgelnden Abgrund aufriß, um es in die Tiefe zu schlingen.

Bell stand da, vom Sturm umtost, und träumte.

Er sah sich daheim – als Zwölfjähriger – auf dem steinernen Hafenwall, gegen den auch solche grün spritzende Wellen angesprungen waren. Er sah sich im Gewirr der Hafengäßchen, im rußgeschwärzten Hof der Lötwerkstätte. Er hörte den Meister fluchen, und die Erinnerung an Schläge würgte ihn wie ein harter Griff.

Seine Mutter war jung gestorben. Er hatte sie kaum gekannt.

Schritte tappten vorbei. Die von Schweiß und Kohle gefleckte Gestalt eines Schiffsheizers, der heraufgekommen war, um eine Minute Luft zu schöpfen.

Bell blickte ihm sinnend nach. So hatte auch sein Vater ausgesehen, wenn er von seinen monatelangen Seefahrten heimkehrte. Bis er bei den Orkney-Inseln den Seemannstod fand und ihn als Waise zurückließ.

Immer schwerer legte sich dichter Nachtnebel auf den Kanal. Bell träumte weiter. Von nebelerfüllten Straßen der Küstenstadt, in der er seine Kindheit verbracht hatte.

Er schlug den Kragen seines Gummimantels hoch und schritt den schwankenden Gang längs des Schiffssalons hinab. Aus dem Maschinenhaus drang ein Dröhnen herauf. Bell kehrte sich gegen den Wind und blickte durch die angehauchte Scheibe. Im Kesselraum, in dem die Luft vor Hitze sichtbar zu stehen schien, schwangen fetttriefende Kolben um rotierende Achsen. Die Pression steigerte die Energien bis an die Grenze gewaltsamer Entladung, die Glühkohlen stürzten lohend zwischen die Eisenplatten der Heizwände, die Verschlußhauben, Rohre und Ventile sangen von gesättigtem Widerstand. Aus allen Ecken, Tiefen und Fugen des stöhnenden Schachtes tönte der Gang der Maschine.

Ja – das war der Gesang von Metall, dem er so oft gelauscht hatte … als er später als Schiffsjunge auf einem Frachtboot fuhr. Es war ein schmieriger Kahn gewesen, auf den er damals geraten war.

Vergeblich versuchte Bell sich dies Boot, auf dem er seinen ersten Schiffsdienst getan, in seinen Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Der große Frachtdampfer, auf dem er bald darauf Dienst genommen und der die Chemikalien von Deutschland nach England beförderte, schob sich gewaltsam dazwischen.

Hamburg–Edinburg! Edinburg–Hamburg! Wie die Zeit vergangen war! Wie der Tag, an dem er seine letzte Schiffslöhnung einsteckte, weit zurück lag! Wie die rote Glut, die aus den Fronten der Edinburger Fabrikblocks schlug, ihn damals gelockt und gerufen hatte! Ja, er war allein gewesen, weiß Gott! Aber er hatte die Zähne zusammengebissen und war seinem inneren Drang gefolgt! …

Bell wandte sich von dem Maschinenhaus ab und ging wieder über das rollende Deck. Er sah nicht mehr die Mastlichter der »Lady Grace«, wußte nichts vom Heulen des Windes. Nach innen gekehrt, die Hände auf dem Rücken, durchwanderte er weiter die Vergangenheit.

Dann war die Anstellung in der Raffinerie zu London gekommen. Die Zeit, da er von jäh erwachtem Wissensdurst getrieben zum erstenmal erfuhr, daß es mit der bloßen Körperkraft ohne Kenntnisse kein Vorwärtskommen gab in dieser Welt.

Schwer, aber schön war es gewesen … tagsüber im Fabriksaal, am Abend das Studium der geliebten Bücher, bis ihn der Schlaf übermannte. Und dann war aus dem Wirrwarr all der Wissensgebiete, mit denen er sich, jede Feiertagsstunde nutzend, herumschlug, die Chemie als sein ureigenstes Gebiet herausgetreten. Bis ihn der leitende Chemiker der Fabrik eines Tages »entdeckte«.

Bell lächelte.

Entdeckt! Bis der Entdecker merkte, daß er ihm über den Kopf wuchs. Bis sie schließlich dahinter kamen, daß er über Wege nachsann, die ihre ganze geldbringende Fleisch- und Gemüsekonservierung gefährden konnten. Bis sie ihm, aus Furcht vor drohender Konkurrenz, lieber zwei kontraktlich ausstehende Jahresgehälter bezahlten und ihm rieten, die Chemie an den Nagel zu hängen.

Bell fuhr mit der Hand über seine Brusttasche. Einige hundert Schilling! Das war der Rest. Dann aber …

Eine breite Sturzwelle schlug über Bord; ihre Schaumketten klirrten an die Oberlichtfenster des Schiffssalons.

Bell ließ die Reeling los und lavierte zum Mitteldeck.

Er beugte sich über die Kajütentreppe und wollte hinabsteigen, als ein zuckender Lichtstreif über die Stufen zu ihm emporlief. Unwillkürlich trat er einen Schritt zur Seite; in der Helle, die aus dem sich erweiternden Spalt drang und gelbe Reflexe auf das Holz der Stufen warf, erblickte er eine Hand, die sich mit ruhigem Griff auf das Treppengeländer legte. Es war eine schmale Hand, und sie wuchs weich aus dem Gelenk, mit dünngliedrigen Fingern von einem außerordentlich zarten, fast durchscheinenden Weiß … die Hand einer Frau. Und gleich darauf tauchte unter dieser Hand ein Kopf empor, blond, schlank und aufrecht … Bell trat in das Dunkel neben der Treppenmündung und ließ die junge Dame vorbei. Sie trug einen Reisemantel, der sich eng um den Rücken legte. Es war ihm unmöglich, das Gesicht zu erkennen. Er sah nur ihre Schultern, die rund schienen von Jugend und Wärme. Das Licht aus dem Salon, das hinter die zufallende Türe zurückglitt, glänzte mit einem letzten Schimmer auf den Absätzen ihrer kleinen Stiefel. Bell sah ihr nach – wie sie auf dem Holzboden stehen blieb vor den ersten Stößen des Windes … Atem holend und mit den Füßen Halt suchend … und wie sie dann den Kopf aufwarf und tapfer weiterging, voran in die stürmende Seeluft. Er bemerkte, während sie im Nebel sacht seinem Blick entglitt, ihren Gang mit dem leichten Wiegen der Hüften; es schien viel Frische und Kraft in dieser Bewegung, und eine stumme Zärtlichkeit. Und als die Nebelwand sich hinter ihr zusammenschloß, undurchdringlich wie zuvor, da war es ihm, als hätte sie – mit einem kurzen Neigen des Kopfes – sich umgewandt.


Bell stellte sich mit dem Rücken gegen die Windrichtung und steckte seine Pfeife in Brand. Dann fuhr er mit den Händen tief in die Taschen seines Gummirocks und schritt breit und vorsichtig über die rollenden Planken.

Die einsame Mädchengestalt lehnte gegen den zweiten Mast, auf dem Hinterdeck. Bell erspähte sie wie einen etwas helleren Streifen in der Finsternis. Er ging weiter, kehrte um und blieb dann ohne Gedanken vor ihr stehen. Sie bewegte sich nicht und sah auch nicht zur Seite. Er zog in kleinen Rucken den Rauch aus der Pfeife; das Aufglühen des Tabaks entblößte sekundenlang ihr Profil in einem roten Leuchten.

Bell spürte, wie die Wärme des Rauches in seinem Mund zerging. Sein Blick war nicht mehr starr wie vorhin, als er dem Sturm ins Antlitz sah. Eine merkwürdig glättende Milde stieg in ihm auf und verbreitete sich in seinem ganzen Körper. Er hatte die Empfindung eines, der nach starker physischer Anspannung aufatmet. Er grübelte nicht mehr; es hatte plötzlich den Anschein – so meinte er –, als sei alles in ihm ganz ordentlich und richtig und an seinem Platz.

Man steht, sozusagen, ganz einfach auf dem Meere und hält seine Pfeife in Brand.

Sehr natürlich.

Er spreizte alle zehn Finger in den Taschen und rauchte mit Bewußtsein. –

Die »Lady Grace« bäumte sich und schwankte heftig. Das aus der Tiefe bullernde Geräusch der Maschine wurde schwächer. Der Sturm heulte auf und verhallte in mehrfachem Echo. Vom Vorderdeck schrillten abgerissene Töne des Läutewerks. Im bleichen Flimmer des Scheinwerfers wuchsen Felsen aus dem Wasser, schwarz, triefend und gezackt. Hinter ihnen kleine, helle Punkte. Das waren die Leuchtfeuer der Hafeneinfahrt. Ermattete Wellen strichen den knarrenden Eisenrumpf entlang. Die salzige Luft wurde wärmer, es roch nach Tank und Teer.

Wieder fiel ein Lichtband von der Salontreppe über Deck, unruhig gefleckt von beweglichen Schatten. Die Fahrgäste drängten herauf.

Bell nahm die Pfeife aus dem Mund und klopfte sie am Handrücken aus.

»Wir sind angekommen«, sagte er laut und freundlich.

»Ja«, erwiderte die Gestalt vor ihm – »das ist Dover.«

Er hörte ihre Stimme zum erstenmal; und fast wunderte er sich darüber …

Ein heftiger Stoß ging über den Rücken der »Lady Grace«. Die Maschine stand still. Das Schiff neigte sich seitwärts und trieb dann schaukelnd an die Mole.


Drittes Kapitel

Der breite Abfahrtsperron de D. L. E. (Dover-London-Expreß) war von hunderten gestikulierender, hastender, in allen Sprachen durcheinanderrufender Menschen besetzt. Die niederen, dreirädrigen Gepäckloren ratterten vom Registriersaal über den betonierten Damm zu den beiden unendlich langen Postwagen, die am Kopf des Zuges hinter die Maschine gekuppelt waren. Die Linie Dover–London war, wie London–Folkstone, London–Harwich und die anderen Kontinentallinien, seit fast zwei Jahren nach dem Schnellverkehrssystem des deutschen Ingenieurs Daniel Forster eingerichtet. Die Forster-Züge waren einschienig. Der ganze Zug war grau wie ein Gigantenmaulwurf, die Untergestelle, Achsen und Räder aus Stahl, alles übrige aus Aluminium. Die Reflektoren, die das Licht von der Bahnhofsdecke herabschleuderten und die Signalaugen der Maschine abblendeten, gossen wellige Strahlenschnüre über die flachen Dächer der Cars. Der Führungswagen empfing seine letzte Ladung Elektrizität aus den Akkumulatoren, es surrte in den Kautschukisolatoren der Kabel, den ganzen Zug entlang surrte der elektrische Strom, die Gleichgewichtskreisel zwischen den Tragachsen der Wagen feilten denselben feinen, rastlosen Ton. Die große Hauptuhr zeigte 11:24 – um 11:25 mußte der Zug ausfahren.

Bell kam als einer der letzten durch die Sperre. Er überblickte unschlüssig die Knäuel der Einsteigenden und sprang erst im letzten Augenblick auf den nächsten Wagentritt. Die Kupplungen ächzten knirschend unter der plötzlichen Anspannung, das Feilen der Kreisel setzte lauter ein und stieg einen Ton höher, die Bahnhofsmauer glitt vorbei. Auf dem Bahnsteig lief ein halbwüchsiger Junge neben dem Zug her und warf die Türe hinter Bell zu.

Bell hatte die Ellbogen auf die gepolsterten Lehnen gestützt. Er legte ein Bein über das andere und genoß die Ruhe. Nun, da sie mit ganzer Kraft dahinschnurrten, verspürte man kaum eine Bewegung, es war, als glitte man auf stählernem Schlitten über eine magnetische Fläche. Manchmal fuhr ein blauer oder grüner Riß durch die Dunkelheit … die Telephonhäuschen der Streckenwächter.

Bell drehte sich von der Scheibe weg und senkte den Kopf. Die Spannung der letzten drei Tage begann nun zu wirken, eine leichte Erschlaffung ließ ihn fröstelnd zusammenschauern. Der helle Wagenraum versank vor seinen müden Augen in farblose, verschobene Umrisse. Sein Kopf schmerzte. Mancherlei Erwägungen kreuzten durch sein Bewußtsein. Er überdachte den Lauf dieser Reise: abgeschlossen … das war vorbei, ja … Und eigentlich war es nicht einmal überraschend – durchaus nicht! Dennoch – es war Raum für sein Projekt in dieser Welt! Und wenn dieser Raum sich nicht selbst bot, so würde er ihn schaffen! Er fühlte die Schnelligkeit der Fahrt in allen Nerven, und das beruhigte ihn. Er rechnete flüchtig und in losen Zusammenhängen seine Aussichten durch, und es dünkte ihn, daß die Rechnung stimmte. Sie mußte stimmen. Bell zog unwillkürlich die Stirne hoch und kniff die Augen zusammen. Dann wurde er innerlich ganz kühl, während er seinen Betrachtungen folgte … Und plötzlich mußte er lächeln – schon halb im Schlaf – als er sich Bourdiers erinnerte, wie er vor ihm stand und sich spreizte, knallrot und ohnmächtig; und die letzten Worte des Professors klangen ihm in den Ohren. Dann verloren auch sie ihren Sinn, und es war nur der Klang, der nachwirkte …

Der Zug flog mit bebenden Flanken. Er fraß sich durch das Dunkel, er schluckte die Kilometer, er flitzte durch sie durch und stieß sie hinter sich ab in einen lustleeren, pfeifenden Raum, der nach ihm über die Strecke fegte. Er legte sich in die Kurven, schleuderte die blanke Barre der Schiene unter sich zurück und schoß in die Schwärze wie ein spiegelglatter Pfeil.

Bell schlummerte ein.

Die Unterhaltung der Mitreisenden zirkulierte gleichförmig um ihn von Drehstuhl zu Drehstuhl. Der Geruch glimmender Zigarren krieselte von den Aschbechern auf den Mahagonitischchen. Die livrierten Diener kamen und gingen mit Teekannen und Toasttabletts.

Bell schlief. Er schlief noch immer, als unter ihnen, wie aus der Erde heraus, ein Dröhnen barst, und die Schiene splitternd sprang, und der lange Wagen wankte.

Er erwachte erst, als es ihn heiß und kalt umwehte. Irgendetwas stürzte tosend zusammen.

Bell spürte etwas Hartes, Schneidendes in den Handflächen. Es war eine aus dem Bahndamm ragende Wagenachse, die er umklammert hielt. Die scharfen Kanten des Metalls schnitten ihn ins Fleisch und verursachten ihm heftige Schmerzen – während ein marternder, an seinen Nerven rüttelnder Lärm wie eine klagende Woge um ihn brandete. Er biß die Zähne zusammen und suchte Erleichterung, indem er abwechselnd den Griff der einen Faust lockerte und die andere dem Gewicht seines Körpers standhalten ließ. Schwelende Wärme stieg unter ihm auf. Ein brandiges Etwas hinderte ihn, frei zu atmen, es legte sich um sein Bewußtsein wie eine zerfließende Wolke. Einen Augenblick war ihm, als müßte er alles verschließen, was noch an Empfindung in ihm lebte, aber dann griff er stärker um das Metall, das seine Haut zu sengen begann, er wollte durchhalten, und gleich darauf ließ er dennoch los. Aber er stürzte nicht; er rollte ganz sanft den Bahndamm hinab und blieb liegen.

Der Boden war weich und feucht. Bell genoß diese plötzliche erfrischende Nässe mit einem Dehnen der Glieder. Er öffnete angestrengt die Augen und sah, daß es hohe, betaute Grashalme waren, die seinen Kopf umstanden und ihm Stirn und Wangen streiften. Er empfand den Duft des Wachstums, der mit jedem Halm aus der Erde stieg, er bewegte den Kopf nach beiden Seiten im Grase, er hätte sich am liebsten daran gelehnt, und er dachte, daß es wüchse ohne innezuhalten, so zart war es und empfindlich vom Tau.

Bell drückte aufatmend die Schulterblätter tief in das auseinanderweichende Gras und richtete den Blick gerade empor. Über ihm ruhte die Wölbung des Himmels wie ein sehr dunkles, straff gespanntes Tuch ohne Falte; da und dort stand ein Leuchten auf dem Stoff, nicht größer als ein Punkt, aber bleich und mild wie Silber – die unendlich ferne Iris der Sterne …

Bell saß aufrecht; und als er den Kopf wandte, gewahrte er den Damm, auf dem umgestürzte und zerbrochene Waggons die hilflosen Räder ins Leere streckten. Flammen stiegen aus der Verwüstung empor, kurze Feuersäulen, aus denen es gierig tönte von knackendem Holz und schmelzendem Aluminium. Und da – während er mit einem Sprung stand und voll Verwunderung feststellte, daß er heil war und kein Knochen fehlte – hörte Bell den Chor von Rufen und Wimmern. Er unterschied – erst wie ein entferntes Gewirr, und dann entsetzlich wirklich und nah – die Stimmen, von hüben und drüben, von dem Abhang und von dem aufgerissenen Weg der Schiene; sie kamen von oben und unten, vorn vorne und rückwärts, aus dem Wust gekrümmter Metallrücken, aus den Flammen, überall her … Es war der verunglückte Zug, der schrie – oder waren es die Menschen? –, es war der Schauplatz eines Kampfes, der kurz, aber furchtbar gewesen sein mußte. Bell schritt, unsicher noch und betäubt, dem Bahndamm zu. Er kletterte über Haufen zerstörter Wagenteile, er stieg über Schuttmassen, er bückte sich unter Schwellen, er trat in Asche und Blut, und das Schreien, das Schreien des Zuges folgte ihm. Ja, das war der Nachtexpreß Dover–London, sein Zug. Er war entgleist infolge falscher Weichenstellung.

Lichter huschten an Bell vorbei – es klapperte neben ihnen von eiligen Schritten – und kletterten den Abhang hinauf. Die von der nächsten Zwischenstation telephonisch gerufene Rettungsmannschaft war an der Arbeit. Tragebahren standen auf der Wiese. Zwei Männer brachten eine durch Bandagen unkenntliche Gestalt und legten sie behutsam auf ein Feldbett. Die Wasserstrahlen der Handpritschen zischten durch die Luft und jagten den Rauch aus den Brandstellen auf. Unter halbverkohlten Wagen, zwischen den abgesplitterten Platten der Dächer, zwischen zerrissenen Kabeln und geborstenem Glas waren Menschen – sie schrien laut, sie klagten monoton oder jammerten leise, sie streckten die Hände und suchten sich herauszuarbeiten.

Bell hielt neben der Maschine. Sie hatte den Kopf, diesen Maulwurfskopf mit den stählernen Kiefern, zur Hälfte in den Sand gebohrt. Die eine der beiden Laternen war erloschen, die andere fehlte; die Öffnung, aus der sie im Sturz gebrochen war, glich einer leergeronnenen Augenhöhle. Der Leib, der noch vor kurzem von elektrischen Energien gebebt hatte wie ein Wesen, das lebendig ist und stark, der Leib, der gewohnt war zu schweben vor Geschwindigkeit, war nun still – ein breiter Riß ging mitten durch, und daraus quollen die Drähte und Kabel, Bündel von Eingeweiden. – Die Postcars waren umgekippt, die Kuppelung hielt sie noch zusammen, und vor ihnen häuften sich Stapel eingedrückter Koffer und geplatzter Pakethüllen. Der erste Passagierwagen – ein Sonderwagen der »Compagnie de Luxe« – ruhte mit dem vorderen Teil auf einer Schicht von Trümmern, der hintere Teil hing frei über den Abhang. Die Räumungsarbeiten waren an dieser Stelle in vollstem Gang. Der Wagen, dessen gewichtiger Bau sich ruckweise, aber unaufhaltsam senkte, wurde durch Pfosten gestützt, deren Holz sich bog und jeden Augenblick entzweizubrechen drohte. Eine Schar Geretteter umstand den Platz – bereit, auf das erste Warnungszeichen zurückzuspringen. Ihre Gesichter erschienen merkwürdig weiß und leer in der wechselnden Beleuchtung. Der Schutt oben auf dem Damm bewegte sich, kam ins Rutschen, ein Geröll von Steinen klinkerte herab – und dann brach ein vielstimmiger Schrei aus der Schar, er keuchte aus dem Kreis, den die Erwartung wie ein fiebriger Strom umfloß, er hallte in die Nachtluft –: zwischen den verschobenen Trümmerteilen wurde ein menschlicher Körper sichtbar. Der Unterleib war festgeklemmt, und gerade darüber schwebte der gewaltige Achsenbau des Wagens. Es war ein Mädchen. Das offene blonde Haar wehte von ihrem vorneüber geworfenen Kopf herab, das Gesicht war unkenntlich, zur Erde gerichtet. Eine Bewegung ging durch die Zuschauer, wie das erste Signal einer Panik. Die Frauen drückten sich aneinander, die Männer zauderten, sie wollten retten und wagten sich doch nicht vorwärts in den Bereich des drohenden Sturzes. In den Stützbalken knackte es von zerspringenden Holzfibern, der schwere Wagen gab ein Dröhnen von sich. Auch die Beamten wichen zurück, und die Balken, die nicht mehr festgestemmt wurden, begannen zu wanken.

Bell hatte sich mit zwei Stößen der Ellbogen in die erste Reihe gedrängt. Er stand da und starrte wie festgebannt auf dieses blonde Haar, das die Steine berührte. Er schnob in die Luft, und in seinem betäubten Hirn quälte ihn ein unsicherer, blitzartiger Gedanke. Er sah das blonde Gold dieser Haare, und es jagte wie ein Dämmer durch seine Erinnerung – er beugte sich vor, seine Füße berührten den Boden – da löste sich eine weiße, schmale Hand aus dem Geröll, und er wußte: es war das Mädchen von Bord der »Lady Grace«! Und im selben Augenblick stieß er gleichsam von dem Fleck Erde ab, auf dem er stand, und fuhr voran – er landete auf dem Anhang, der unter ihm fortzugleiten schien, er hieb mit drehenden Armschwingungen in das Geröll, er riß das Mädchen empor und an sich, er schnellte in zwei, drei Sätzen wieder hinab – und gleich darauf erschütterte der Sturz des Wagens das Gelände – die Erde bebte – und ein prasselnder Regen von Erdstücken, ein Wirbel von Staub hüllte ihn ein. Er stand aufrecht in diesem Luftkreisel, er wußte nicht, daß seine Augen brannten, er hörte nicht die Rufe, er fühlte nur das lebende, elastische Gewicht der Last auf seinen Armen – die Augenlider fielen ihm herab, ein Strahl von Stärke und Unbändigkeit rann durch ihn. Dann, als er wieder zu sehen vermochte, schritt er durch eine Gasse von Menschen zum Wiesenrain und bettete das Mädchen ins Gras. Ein Arzt kniete neben ihr. Er horchte auf den Herzschlag und konstatierte einen vorübergehenden Schwächeanfall. Bell war gezwungen, den Druck zahlloser Hände zu erwidern. Doch sein Blick suchte die Gestalt des Mädchens, das schlank und leicht auf dem Rasen ruhte, kühle Tautropfen in dem blonden Haar.

Eine kurze Strecke voran wartete der Hilfszug. Er glich seinem (nun durch den Tod entstellten) Kollegen wie ein Bruder dem anderen. Er funkelte von der Schnauze seiner Maschine bis zu den roten Lichtern am Schwanz. Er brummte aus den Dynamos und sprühte zurückgehaltene Lebendigkeit, als könne ihm so etwas nie und nimmer passieren. Und als er anzog und absurrte, schleiften die immer kleiner werdenden Schlußlaternen hochmütig ihren Schein hinterher.

Bell hatte ein getrenntes Abteil entdeckt und die junge Dame, der er in dieser Nacht auf so merkwürdige Weise zum zweiten Male begegnet war, hineingehoben. Da saß er nun. Auf der Bank gegenüber lag sie und bewegte sich nicht. Und im Grunde war er heilfroh, daß sie sich so hervorragend still verhielt, den Kopf zwischen den Kissen verborgen. Während der Zug wie ein Pfeil flog – als wollte er gutmachen, was der andere versäumt hatte –, sandte Bell zuweilen einen raschen Seitenblick hinüber zur anderen Bank und lächelte, beruhigt darüber, daß sich dort nichts regte. Er kam sich ganz unwirklich und wie aus der Welt verschlagen vor, allein mit dieser kleinen Dame, die so vornehm und zierlich war und so überaus gebrechlich erschien unter den Falten der Decke, die er über sie gebreitet hatte. Bell war nie dazu gekommen, sich mit Frauen abzugeben, und nun saß er da und betrachtete die Situation wie ein heimliches Wunder. Er konnte sich nicht recht darein finden, daß er sie soeben in seinen Händen gehalten hatte, die ihm so grob und rauh vorkamen, so daß er niemals gewagt hätte, ihr mit ihnen das Haar aus der Stirn zu streichen. Er scharrte mit den Füßen und hielt gleich wieder erschrocken inne, damit sie nicht erwache. Er studierte die verschlungenen Buchstaben D. L. E., die auf die Polsterung gepreßt waren. Er bemühte sich, die vorbeihüpfenden Telegraphenstangen zu zählen, und schließlich pfiff er zwischen den Zähnen zum Takt der Radschwingungen eine kleine vorsichtige Melodie.

Das Unglück hatte mehr als drei Stunden Zeitverlust gekostet. Der Tag tastete bereits herauf. Die Ausdünstung der Morgenstunde hob sich von den Feldern und wälzte sich neben dem Zuge mit. Milchweiße Schwaden verdeckten die Vegetation; es sah aus, als führe man zwischen Wassern.

Wieder glitten sie dahin wie auf einer magnetischen Ebene.

Draußen wurde es immer heller. Baumkronen und Dächer stiegen aus dem Dunst wie treibende Inseln. Bald war es ein fliegender Dunst von schwebenden Streifen, die sich über der grünen und braunen Landschaft zerteilten. Auch in dem Abteil wurde es hell und sonnenwarm. Bell pfiff auf einmal ganz unbekümmert, er wurde froh in all der Helligkeit. Aber dann verschluckte er den Ton in der Kehle und erhob sich unbeholfen: das fremde Mädchen sah ihn aus weit geöffneten Augen an und richtete sich langsam auf. Er war sogleich bei ihr, ließ sich auf dem Fensterplatz nieder und stützte sie mit einer Sorgfalt, über die er selbst erstaunt war. Sie faßte nach seinem Arm, ohne ein Wort zu sprechen; – er war ihr dankbar dafür. So lehnten sie am Fenster, der Sonne entgegen. Es war Bell, als tönte ein hüpfendes, übermütiges Morgenlied an sein Ohr, aus dem Summsen des Wagens, aus den Feldern dort draußen, aus der atmenden Berührung der Gestalt neben ihm. Der Linoleumboden zu ihren Füßen, die Bank, der Fensterrahmen sausten noch schneller als früher an der Landschaft vorbei. Sie fuhren eine Biegung – und dann sah man weit voraus, in einer Welt von Himmel und Schimmer, den riesenhaft gedehnten Umriß Londons. Zwei gleißende Türme stiegen vor der Stadt schwindelnd in die Atmosphäre, eine gleißende Wölbung spannte sich zwischen ihnen. Das war der Kristallpalast – die weiten Bogen standen flimmernd im Morgen, und es schien, als klängen sie in der Luft.

Der Zug raste mächtiger denn zuvor. Er knatterte über eine Hängebrücke, er hob und senkte sich wie ein fliegendes Fahrzeug, er hämmerte über Land, er knallte pfeifend zwischen zwei kilometerlange Zäune von Plakaten – er nahm keine Notiz davon, daß Madame Feodorowna in der »Alhambra« tanzte, und es wunderte ihn nicht, daß »Pink-Flower« das beste Mundwasser ist – er preßte sich in einem Nu durch diese bemalten Wände, die schon hier draußen für die große Stadt Reklame brüllten, er fuhr – wie ein Bolzen aus dem Blasrohr – wieder aus ihnen heraus, er hatte alle Besinnung verloren, er war nicht mehr zu halten, er witterte das Ziel, er stürmte darauf los – und er streckte sich flach vor Übereilung, als die Halle der Victoria-Station sich vor ihm auftat … hinter ihrem gläsernen Abschluß konnte man den Verkehr der Straße erblicken … er sprang gleichsam in einem Satz aus dem Flachland mitten in das Herz von London, und er wieherte aus den angerissenen Bremsen, als er betäubt stillstand, atemlos und mit zitternden Aluminiumflanken – zwischen den Kolonnen von Omnibussen und Autos, die von der Straße in die Halle gefahren waren.

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