Kitabı oku: «Spreemann Co», sayfa 10
Zehntes Kapitel
Auf den neuen Stiefeln und Gummischuhen rannte die Zeit noch schneller als sonst davon.
Schon wieder war es Frühjahr, und an den Bäumen steckte das erste Grün. Die Hälfte des Dienstjahres war glücklich vorbei.
Spreemann fühlte nichts von seinen sechzig Jahren. Sein Geschäft, seine Söhne, sein Heim erfüllten ihn mit Kraft und Stolz.
Und auch seine Vaterstadt.
Am zweiten Ostertag war er mit Lieschen nach dem Zoologischen Garten gefahren, den man aufs großstädtischste umgewandelt hatte. Mit der neuen Pferdebahn war man für lumpige fünfundzwanzig Pfennig beinahe eine Stunde durch Berlin gerollt. Bis man schon auf die Straße hinaus das Kreischen der ausländischen Papageien hörte.
Spreemann hatte den schwarzen Bären, der genau wie seiner auf dem Pfeifenkopf aussah, mit Brot gefüttert. Und als der Bär auf einen Baumstamm kletterte, klopfte er mit seinem Stock gegen die Gitterstäbe, daß Lieschen angst und bange wurde. Im Raubtierhaus aber hatte er gegen ein gutes Trinkgeld an den Wärter dem abbessinischen Löwen eigenhändig einen blutigen Fetzen Pferdefleisch in den aufgerissenen Rachen geschleudert.
Lieschen hatte aufgekreischt und wollte seinen wuchtig erhobenen Arm zurückhalten.
Angstvoll schrie sie, daß Spreemann heute nicht wiederzuerkennen sei.
Er konnte es nicht leugnen. Die Pracht dieses Gartens hatte ihn in Erregung versetzt. Mochten sie von London und Paris so viel erzählen wie sie wollten. Berlin blieb Berlin.
Pfingsten kam näher. Weiße Kleiderstoffe bauschten sich duftig. Ausgeschnittene Schuhe wurden probiert und paßten. Hans schrieb kluge Briefe, die sein Fußfassen in der Fremde verrieten. Er würde nicht ohne Kenntnisse heimkehren.
Christian war während der ganzen Spargelzeit zu Feldübungen fortgewesen. Aber nun war er wieder da, konnte die Stiefelabteilung kontrollieren und die erste Himbeergrütze mitessen. So konnte doch wenigstens einer der Jungen an den gewohnten Genüssen des Sommers teilnehmen.
Denn Sommer war es. Warmer, sonniger Sommer. Die Rosen waren bald nicht teurer als Mohrrüben.
Da machte Slovitzka eines Tages seinen Freund Spreemann auf die Leitartikel der Zeitungen aufmerksam.
Madame Lieschen las nur die lokalen Unglücksfälle. So ahnte sie noch nichts, als Spreemann schon etwas spürte, das er um keinen Preis der Welt hätte aussprechen mögen.
Doch ging er wieder an den Stammtisch. Hier hörte man von nichts andrem als von dem, was kommen würde.
Der Lehrer war nun weißbärtig und pensioniert. Aber sein Eifer war jung geblieben. Genau wie vor zweiundzwanzig Jahren schnaufte er Begeisterung und Feuer. Nur daß es ihn heute mehr anstrengte als damals. Daß ihm manchmal der Atem ausging, und daß er nicht mehr rauchte, sondern schnupfte.
»Wir erleben Geschichte, meine Herren,« schrie er. »Bedenken Sie das. Endlich wird abgerechnet werden. Meinem Herrgott dank ich, daß ich's erleben darf.«
Spreemann sagte, daß sich das sehr schön anhöre und noch besser lesen würde. Aber ein alter Mann sollte gescheit genug sein, um auch an Leute zu denken, deren Kinder Soldaten wären.
»Beneidenswert sind diese Leute,« schrie der Lehrer und steckte eine volle Prise Tabak in die Nase. »Stolz müssen sie sein. Schickt nicht der König selbst seinen Sohn ins Feld?«
Er nieste so stark, daß Spreemann beleidigt sein Weißbierglas fortzog. Eine Antwort versagte er sich.
Dagegen stimmte Freund Slovitzka aufs Heftigste bei.
Man möchte immer das sein, was man nicht ist.
Der Schuhfabrikant fürchtete beständig, daß man ihn als Böhmen und nicht als Berliner ansah. Denn Spreemann sagte bei jedem Streitpunkt:
»Sie sind leider kein Berliner, mein Freund. Das ist das einzige, was Ihnen fehlt.«
Slovitzka aber wollte beweisen, daß jeder, der sein Geld in Berlin verdiene und versteure, Berliner sei.
So bekräftigte er jetzt des Lehrers feurige Worte und versuchte eifrig mit dem Überschwang des Graubarts Schritt zu halten. Ilka war kein Soldat, und im Übrigen hing kein Kriegsbeschluß davon ab, was man hier sprach.
Spreemann folgte nicht weiter den hitzigen Reden.
Er zog an seiner Pfeife und rechnete sich aus, daß dieser übrigens schon recht kahle Bismarck nur sieben Jahre jünger, der graubärtige König aber mehr als zehn Jahre älter sei als er selbst. Er begriff nicht, daß Herren in diesem Alter nicht ein Bedürfnis nach Ruhe empfanden. Daß sie sich nicht mit den beiden siegreichen Kriegen begnügten, die schon ausgefochten. Es konnte doch auch einmal schief gehen.
Etwas von diesen Betrachtungen teilte er dem Lehrer mit, als sich dieser unter erschöpftem Ächzen mit einem schwarzweißkarierten Tuch die Stirn trocknete.
Aber kaum, daß er Spreemanns Worte in sich aufgenommen, war er schon wieder bei Kräften.
»Wir siegen, mein Lieber,« schrie er. »Seien Sie unbesorgt. Haben Sie gehört, was Bismarck geantwortet hat, als ihn der König fragte, was wir mit den Franzosen machen sollen? – Wir wollen Sechsundsechzig mit ihnen spielen, Majestät, hat er gesagt. Und das werden wir auch. Es wird ein Tag kommen, wo man diesem Bismarck in jedem Dorf ein Denkmal setzen wird.«
Spreemann stand auf.
Er sagte, daß des Lehrers Benehmen krankhaft sei, und ging rasch davon.
Er mußte nach Hause eilen. Das Weißbier bekam ihm nicht mehr. Oder waren es die unvernünftigen Reden, die man beim Trinken mit hinunterschlucken mußte?
Als er hastig die Wohnungstür aufschloß und als erstes beim Gestank und Geflacker des Schwefelholzes einen Soldatenmantel sah, wurde ihm auch nicht wohler. Im Gegenteil, das Grimmen in seinen Eingeweiden verschärfte sich. Keine Freude ist ewig.
Am andern Morgen ging Madame Lieschen früh auf den Markt, um wohlfeil ein zartes Hühnchen zu kaufen. Spreemanns unruhiger Magen sollte rasch kuriert werden. Jetzt, wo es Him-, Erd-, Stachel- und Johannisbeeren gab, mußte der Mensch gesund sein. Denn schließlich lebt man nur einmal.
Mit einem Napf voll Erdbeeren, die den Soldaten Christian erfreuen sollten, betrat sie heiter das Speisezimmer, wo sie Klaus beim Frühstück wußte.
Er aber sah nicht einmal hoch, noch wendete er auch nur den Kopf nach ihr, als sie eintrat. Durch die Brille und mit dem Zeigefinger las er auf dem Vorderblatt der Zeitung. Also nicht einmal auf der Seite, wo sein eigener Name gedruckt war.
Daher meinte Lieschen, daß ihm wohl nichts passiert wäre, wenn er ihr guten Morgen gesagt hätte.
Sie machte ein beleidigtes Gesicht und riet ihm, die Zeitung nicht zu verschlingen. Papier sei gewiß nicht leicht zu verdauen. Da blickte er auf. Er sah wie mehlbestaubt aus und sagte:
»Es wird Krieg, Mutter. Mit den Franzosen.«
Der Napf mit den Erdbeeren schlug auf den Teppich. Lieschen kniete rasch nieder und begann mit dem Staubtuch, das ihr immer am Schürzenband hing, den Boden zu reiben. Aber der Fleck blieb. Ihre Hände waren heut ungeschickt.
Spreemann störte sie nicht. Er war zufrieden, daß sie etwas zu tun hatte und da unten war. So hatte es noch Zeit mit den Tränen.
Aber als Lieschen wieder aufstand, hatte sie ganz trockene Augen. Was Spreemann da eben gesagt hatte, war viel zu furchtbar, als daß sie darüber hätte weinen können.
Obgleich sie es noch nicht glaubte, noch lange nicht glauben würde.
»Wer sagt es denn?« fragte sie.
»Es steht in der Zeitung,« sagte Spreemann.
Madame Lieschen atmete erleichtert auf und sagte, dann sei es noch nicht schlimm, denn es wäre nicht alles wahr, was in der Zeitung stände.
»Alles nicht, aber manches doch,« antwortete Spreemann traurig.
Madame Lieschen erinnerte ihn daran, wie Slovitzka neulich im Inserat den neuen Osterstiefel angepriesen, obwohl man doch nichts andres verkaufte als zu Weihnachten.
Spreemann schwieg. Um so besser, wenn sie es noch nicht glaubte. Nur nicht weinen.
Nach einer Weile nachdenklichen Schweigens sagte Madame Lieschen, daß doch auch Christian eine Ahnung davon haben müsse, wenn es wahr wäre. Schließlich würden es wohl zuerst die Soldaten wissen, wenn es Krieg gäbe.
»Vielleicht weiß er es auch,« sagte Spreemann. »Du weißt, seit die Jungen groß sind, haben sie ihre Heimlichkeiten vor uns.«
»Aber er sah froh aus, besonders froh, als er fortging,« widersprach Lieschen.
»Er freut sich vielleicht. Viele freuen sich,« sagte Spreemann leise.
»Das müssen ja Unmenschen sein,« rief Madame Lieschen. Eine leichte Röte stieg in ihr fahles Gesicht.
Spreemann stand schwerfällig auf.
»Ich muß ins Geschäft,« sagte er. »Was nützt das Reden, wir müssen abwarten.«
»Warum denn eigentlich?« fragte Madame Lieschen, die sich nicht vom Platz rührte.
Spreemann sah sie fragend an. Dann fiel ihm ein, was sie meinte.
»Eigentlich wegen Spanien,« sagte er, schon auf dem Wege zur Tür.
»Wieso Spanien?« fragte Lieschen.
»Du kannst es alles in der Zeitung lesen,« sagte Spreemann und war draußen.
Die Zeitung zu lesen hatte aber Madame Lieschen jetzt keine Zeit. Das Hühnchen mußte in Angriff genommen werden und manches andre. Jeder Tag will seine Arbeit. Ohne weiter zu fragen, wie einem dabei zu Mut ist.
Beim Schaffen, Bücken und Bewegen wurde es Madame Lieschen wieder freier ums Herz. Es war so herrliches Juliwetter. Die neugeputzten Fensterscheiben blinkten und blitzten im warmen Sonnenglanz.
Sie band rasch den Türkenschal um und machte einen kleinen Abstecher in den Laden. Alle Verkäufer hatten zu tun. Der Geruch der Stiefel war ihr immer noch etwas Neues. Spreemann stand zwischen den Hausdienern im Warenlager und notierte. Er rauchte nicht und sah müde aus.
Lieschen zog ihn beiseite.
»Etwas Neues?« stieß er hervor.
»Ich wollte dir nur sagen,« flüsterte sie, »daß ich nicht mehr daran glaube. Der König ist doch wie sonst in seinem Badeort. Er wäre nicht gereist, wenn sein Geschäft flau ginge.«
Da schrie man draußen ein Extrablatt aus:
Der König kehre in einer Stunde aus Ems zurück.
Elftes Kapitel
Auch der Mutterliebe sind Schranken gesetzt.
Alle Befürchtungen wurden Wahrheit.
Kaum, daß der König im Schloß war, trommelte der Befehl zur Mobilmachung durch die Straßen. Und nach vier Tagen, die man nicht gelebt hatte und doch nicht tot gewesen, war der Krieg erklärt.
Selbst daß sich Christian freute, hatte seine Richtigkeit. Er hatte Augen wie vor der Weihnachtsbescherung.
Und diesmal gab es keinen Trost. Man konnte gar nichts Besondres für den Jungen herrichten. Alles war Vorschrift. Und bei dieser Sommerhitze konnte man nicht einmal ein heimliches Stück Wurst in den Tornister schieben.
Jeden Tag konnte nun zum Abmarsch geblasen werden.
Wie heiß waren die Nächte. Man konnte nicht schlafen. Insekten surrten. Dauernd summte etwas vor den horchenden Ohren.
Immer wieder setzte sich Lieschen im Bett auf und begann zu reden.
Sie hatte immer geglaubt, daß Kriegssoldaten schmutzige Kerle, Trunkenbolde und Nichtstuer wären, aber nicht gewußt, daß man seine guten Jungen, für die man ein Leben lang genäht und geflickt, deren Schritte man täglich bewacht hatte, plötzlich vor die französischen Kanonen schicken mußte.
Immer aufs neue wiederholte sie es, daß sie dies nie für möglich gehalten hätte.
Leiden und Schweigen ist eine schwere Kunst. Auch Spreemann war sie nicht gegeben. Daher schnellte er schließlich aus den Kissen auf und rief:
»Bin ich der König? Oder der Franzosenkaiser? Oder der spanische Thron? Laß mich in Frieden! Verstanden?«
Darauf antwortete Lieschen, daß er in diesem Ton wohl mit seiner Wirtschafterin hätte reden können, aber nicht mit seiner Frau. Und damit drehte sie ihm den Rücken.
Auf Spreemann wirkte dieser Wutausbruch stets wohltuend. Er schlief bald darauf ein.
Mutter Lieschen aber fand erst Schlaf, wenn es tagte und sie die tröstliche Gewißheit hatte, daß es immer wieder hell wurde . . .
Daß es außer Leberwurst noch andre Heimlichkeiten gab, die ein junger Soldat mit sich in die Schlachten tragen konnte, ahnte Mutter Lieschen nicht. Ihr praktischer Sinn hatte niemals geschwärmt. Bei Schiller kam es nicht vor. Und Romane las sie nicht. So wußte sie nichts von den kleinen Ringen und Medaillons, die man auf der Brust tragen konnte, die jedem abwägenden Goldschmied ein geringschätzendes Lächeln abnötigen würden und doch so unendlich wertvoll waren.
Christian wußte darum. Auch wenn sich nicht dieser oder jener Kamerad lächelnd auf die Brust geschlagen hätte. Er dachte sogar, daß ihm Ilka, weil sie doch eigentlich wie seine Schwester gewesen und seinem Bruder Hans so zugeneigt war, irgend etwas schicken würde, das als gute Erinnerung mitmarschieren könnte. Aber die raschen Tage vergingen in strengem Dienst, ohne daß eine solche Botschaft kam.
Doch langte ein Brief von Hans an. Er war noch vor der Kriegserklärung geschrieben, aber schon ganz voll Besorgnis um den Bruder.
In der Fremde erwacht die Vaterlandsliebe.
Hans war überzeugt davon, daß die Seinen siegen würden, wenn es zum Krieg kommen sollte. Aber es beunruhigte ihn bitter, daß sich Christian in Gefahr begeben sollte. Er, den er ohnedies im Geheimen für einen Pechvogel hielt. Sein Brief war voll treuer Herzlichkeit, und zum erstenmal ließ er durchblicken, daß ihm die Trennung nicht leicht geworden.
Sonst schrieb er diesmal wenig von sich. Nur zum Schluß erwähnte er, daß er seit einigen Wochen mit Ilka korrespondiere. In englischer Sprache. Sie hatte ihm geschrieben, weil alle ihre Kameradinnen heimliche Briefe tauschten. Da aber keine so weit wie bis nach London schriebe, habe sie sich Hans dazu ausgesucht. Sie schien dort sehr ladylike erzogen zu werden, very well indeed . . .
Christian hatte nicht Zeit, diesen Brief mehrmals zu lesen. Aber er behielt doch seinen Inhalt im Gedächtnis.
Am Tage vor dem Abmarsch stand der Müller aus Schöneberg in Spreemanns Laden.
»Wenn du einen Augenblick Zeit hättest,« sagte er zu Spreemann.
Sein Anblick wirkte nicht wohltuend auf Spreemann. Wollte er ihn daran erinnern, wie nahe jedem das Unglück wäre? Das könnte ihm ähnlich sehen.
Aber der Müller sah nicht boshaft aus, als sie sich gegenübersaßen.
»Es ist wegen der Annalise,« fing er an.
Spreemann sah erstaunt in das gelbe Gesicht, das durchfurcht war wie eine ungepflasterte Straße. Wer dachte in solchen Soldatenstunden an die Mädchen?
»Und wegen Christian,« fügte der Müller hinzu. »Sie hat ihr Herz an ihn gehangen. Sie liegt im Bett und fiebert. Wenn wir sie zusammentäten, bevor er fortzieht? Ich habe nur noch die eine. Auch der Doktor sagt, es sitzt ihr was Zehrendes im Gedärm.«
»Liebe sitzt doch nicht im Gedärm,« sagte Spreemann abweisend.
»Liebe sitzt überall, wenn sie einmal da ist,« brummte der Müller.
»Meinst du,« fragte Spreemann.
»Man hat doch auch geliebt.«
Der Müller seufzte müde.
»Du meinst deine Frau,« sagte Spreemann, »aber . . .«
Er wollte sagen, daß er ihn schon in jungen Jahren oft hatte mit ihr streiten hören.
Aber der Müller machte eine abwehrende Bewegung und schüttelte den Kopf.
»Lassen wir das,« sagte er hastig. »Bleiben wir bei der Sache. Es ist doch besser, wie wenn er dir eine Französin mitbringt. In den Jahren dazu ist er nun mal.«
»Wenn er nur überhaupt wiederkommt,« murmelte Spreemann.
»Sie können wohl nicht alle dort behalten,« antwortete der Müller.
»Aber ob die Richtigen wiederkommen,« sagte Spreemann.
»Je mehr für ihn beten, um so besser,« stachelte der Müller. »Und wenn du wüßtest, was sie einmal haben wird, würdest du nicht auf dem Stuhl kleben bleiben.«
»Nun, wieviel – ungefähr?« Spreemann hob aufhorchend den Kopf.
Der Müller sagte eine Zahl.
Spreemann sprang wirklich vom Stuhl auf.
»Aber er selbst? Wird er wollen?« fragte er beunruhigt und erregt.
»Warum ist er Monate hindurch zu uns gekommen?« fragte der Müller.
Bei diesen Worten trat Christian ins Zimmer. Die Alten verstummten.
»Was ist denn?« fragte Christian.
Der Müller griff in die Tasche seines langen Rockes und gab ihm ein rotversiegeltes Päckchen.
»Von der Annalise,« sagte er.
Christian ging ins Nebenzimmer und öffnete es.
Viele vorsichtige Hüllen bargen ein kleines Medaillon. Es war mit Rosenblättern gepolstert, auf denen ein Vergißmeinnicht blaute.
Christian drehte es mehrmals herum und roch daran. Dann erst fiel ihm ein, was es bedeutete. Also auch an ihn dachte ein Mädchen. So würde er doch nicht leer zum Tor hinausziehn. Die gute Annalise.
Überschwang wogte in der stillen, schwülen Juliluft, die der Trommelwirbel beständig aufreizte und erschütterte. Auch die einfachen Herzen schlugen unnatürlich schnell.
Es waren nicht viel umständliche Worte nötig, bis Christian den Müller heftig umarmte und ewige Treue schwur. Obwohl er nach Spreemanns Meinung wieder einmal gar nicht zugehört hatte, als die große Zahl genannt wurde. Madame Lieschen, die wie ein gejagtes Huhn von einem zum andern flatterte, war gewohnt, daß die Männer immer recht haben. Sie hatte auch nicht viel Zeit zum Widerspruch. Es blies noch früher zum Abschied, als man geglaubt. Noch am selben Abend.
So zog der blonde Christian als Bräutigam in den Krieg. Ein Los, das er mit manchem Kameraden teilte.
Aber es gab gewiß nicht viele, die von ihrer Braut noch nichts geküßt hatten als das feuchte Stachelgesicht ihres Papas.
Zwölftes Kapitel
Man wußte, daß die Soldaten fort waren und hörte doch immer noch Trommelwirbel. Man glühte in der sonnengelben Helle und wußte doch nicht mehr, daß es Sommer war.
Langsam schwelten die Tage dahin.
Die Stille der Stuben rief Madame Lieschen die Mamsellenzeit wach.
Während sie mit übertriebener Gewissenhaftigkeit Fliegenpuschel schnitt, dachte sie nach, was sie denn damals so viel zu tun gehabt hatte. Die Tage hatten kaum ausgereicht für die Arbeit. Und sie hatte doch nur für Spreemann zu sorgen gehabt. Der ein fremder Mann für sie gewesen.
Das Zimmer der Jungen war allerdings in jener Zeit ein Schrankzimmer gewesen. In den Ecken standen die Plättbretter, die leeren Flaschen, die Leiter, der Lappenkasten und die Ausbesserwäsche. Es hatte dort immer etwas zu kramen gegeben. Jetzt mied sie diesen Raum. Sie wußte, daß die beiden leeren Betten in tadelloser Ordnung standen.
Sonst hatte sie um diese Zeit vollauf mit dem Einkochen der Früchte zu tun gehabt. Die Gläser blinkten blank und breit. Aber man hat nicht immer Lust, so weit im voraus zu denken.
Bei den Mahlzeiten fielen jetzt ebensowenig Worte als damals, wo Spreemann noch allein bei Tische saß. Man kaute schweigend und langsam.
Und wenn einer etwas sagte, so war es meist die gleiche Frage:
»Ob er schon am Rhein ist?«
Und immer antwortete der andre:
»Das ist wohl kaum möglich.«
Einmal sagte Madame Lieschen, die jetzt wieder viel in der Jungfrau von Orleans las:
»Wenn sie ihn nun als Gefangenen fortschleppen?«
Da brauste Spreemann auf.
»Sobald du den Mund öffnest, sagst du etwas Unangenehmes,« rief er. Und ließ die Butterschnitte, die er sich sorgfältig mit Käse belegt hatte, unberührt liegen.
Lieschen ertrug schweigend den ungerechten Tadel. Und als sie ihm nach einer Weile freundlich den Lehnstuhl ans Fenster schob, setzte sich Spreemann auch mit gnädigem Nicken hinein.
Sie wußten ganz genau um einander Bescheid. Jeder von ihnen fühlte recht gut, wer allein von allen Menschen mit ihm mitfühlen konnte.
Das merkten sie, wenn sich Herr Slovitzka bei ihnen einfand und sich den schweren Napfluchen in den Kaffee tauchte.
»Man muß die Sache nicht so tragisch nehmen,« sagte er und saugte die Feuchtigkeit aus seinem Schnurrbart, der immer schwarz blieb. »Wenn die Sache gut abläuft, was jeder hoffen muß, wird es ein kolossales Geschäft.«
Und dann erzählte er, daß er Ilka noch in Dresden lasse, bis die Zeiten wieder ruhiger wären. Hier versäumte sie nichts.
Spreemanns fanden, daß ihr Nachbar in letzter Zeit nur an sich selbst dachte. Aber die andern waren nicht besser. In den Wirtshäusern wurde getanzt. Wenn man am Fenster saß, hörte man Lärm und Lachen. Und selbst vor den Litfaßsäulen mit den Kriegsdepeschen kicherten die Mädchen.
Nein, Klaus und Lieschen dachten nicht nur an sich. Daher vergaßen sie, daß auch sie sich bisher nur wenig um die großen Geschicke der Welt bekümmert.
Aber nun waren sie in die Speichen des Seitenrades gekommen. Schonungslos wurden sie mitgedreht.
Spreemanns Pfeife ging aus dabei. Madame Lieschens Strickzeug setzte Rost an.
Sie zupfte Scharpie, las Zeitungen, oder fuhr mit dem Zeigefinger auf der Landkarte spazieren. Trotzdem ihr auch das nicht die Lage der Dinge klarmachte.
Aber als es August wurde, ohne daß an der deutschen Grenze etwas vom Feindesheer zu sehen war, hoffte sie, daß es sich die Franzosen anders überlegt, daß sie Angst bekommen hätten.
»Paß auf, es wird nichts,« sagte sie zu Spreemann.
Dieser tippte nur schweigend in die Fülle der schwarzen Zeitungsreihen, wo es von Schwadronen, Bataillonen und Regimentern wimmelte.
Da stand zwischen viel Unverständlichem, daß sich die Heere der französischen Grenze zu bewegten. Die Deutschen hatten keine Lust mehr zu warten.
Nur wenige Tage später schwoll die Nachricht von der ersten Schlacht durch die Straßen. Der ersten Schlacht und des ersten Siegs.
Trotzdem aller Anfang schwer ist, hatte man sofort mit einem Sieg angefangen. Spreemann erklärte Lieschen freudestrahlend, was das sagen wolle.
Nun brachte jeder Tag eine andre Neuigkeit.
Schlachten, Gefechte, Siege.
Immer Siege.
Aber die drei gewaltigsten Siegestage hatten neununddreißigtausend Söhne gekostet . . .
»Nun ist er einen Monat fort,« berechnete Madame Lieschen.
Hans telegraphierte, ob Nachricht von Christian da sei?
Madame Lieschen drehte das Telegramm oftmals herum und sagte, daß Hans ein feiner Herr geworden sein müsse. Sie hätte sich nicht träumen lassen, daß sie einmal einen Sohn haben würde, der Depeschen schickte wie der König.
»Wenn doch Christian einmal telegraphierte. Er ist zu sparsam,« schalt Spreemann, der bis heute noch keinen Pfennig zuviel ausgegeben.
Sie sprachen stets, als ob auch nicht die geringste Gefahr für Christian bestände. Man muß sich nicht selbst das Unglück ins Haus schwatzen.
Ihre Handlungsweise bewährte sich.
Eines sonnigen Tages kam ein Brief von Christian.
Die gleichen langsamen, großen Buchstaben, die er schon in seine Schulhefte gemalt.
Aber was schrieb er?
Spreemann glitzerte es vor den Augen. Er schimpfte auf die Brille und gab Lieschen das Schreiben zum Vorlesen.
Diese begann: »Geliebte Eltern.«
Aber da blendete sie das starke Sonnenlicht. Sie meinte, daß auch sie wahrscheinlich schon lange eine Brille nötig hätte.
»Frauen taugen doch zu nichts,« brummte Spreemann.
Der Brief schwankte wieder von einer Hand in die andre. Mit festem, hartem Ton, laut und rasch, wie wenn er eine Geschäftsorder diktierte, begann er dann endlich zu lesen:
»Geliebte Eltern. Wie anders scheint alles hier draußen. Das Leben gilt nichts und doch alles. Noch bin ich heil und gesund. Das wundert mich selbst. Einmal trug ich die Fahne. Die war schon vieren aus der Hand geschossen. Das weiße Tuch ums schwarze Kreuz war rot von Blut. Ganz durchlöchert und so schwarz, weiß und rot sah sie wie eine fremde Fahne aus. Aber ich hielt sie hoch, wie wenn das Tuch bei Vater gekauft wäre. Bleibt nur gesund, ich will es auch versuchen. Grüßt Hans und Ilka. Und die Schöneberger. Und Berlin und den Dönhoffplatz. Euer Christian.«
»Na, siehst du,« sagte Spreemann. »Ich hab es ja immer gesagt.«
Er stand auf und ging ins Geschäft zurück.
Nun aber nahm Madame Lieschen erst richtig den Brief zur Hand . . .
Am Sonntag kamen die Schöneberger, um den Brief zu lesen. Annalise, im hellblauen Kleid, ein schwarzes Sammetband um den- Hals, sah recht wie eine Braut aus. Sie hätte wohl gern den Brief mit sich genommen. Aber Mutter Lieschen hatte ihn gleich wieder fortgeschlossen.
Hans bekam eine genaue Abschrift. Und damit gingen wieder einige Tage auf angenehme Weise vorbei.
Es war September geworden, als Lieschen den Brief vorsichtig davontrug. Sie wollte ihn der Hauptpost anvertrauen. In diesen Zeiten mußte man vorsichtig sein.
Sie war seit einiger Zeit etwas unsicher auf den Füßen. Aber plötzlich kam es ihr vor, als ob ganz Berlin zu wackeln begann. Erschreckt blieb sie stehen und überlegte, ob der Fehler an ihr oder am Pflaster liege.
Da war es, als ob ganz Berlin aufschrie!
Ehe sich's Lieschen versah, hatte sie ein alter Herr am Arm gepackt.
»Wir haben gesiegt. Madamchen. Ein König hat einen Kaiser gefangen!« schrie er.
Und dann, weiß Gott es war Wahrheit, küßte er ihre Hutzelbacken, wie wenn sie das schönste junge Mädchen gewesen wäre. Gewiß, er war auch kein Jüngling mehr. Aber sein Geschmack war verwunderlich.
Aber als Lieschen wieder allein stand und sich umsah, lagen sich überall Leute in den Armen. Man weinte und lachte und küßte sich. Sie konnten doch nicht alle miteinander verwandt sein?
Krampfhaft hielt Madame Lieschen ihren Brief fest und setzte sich weiter in Bewegung. Sie dankte Gott, als sie ihn glücklich abgeschickt hatte und endlich durchs Gedränge hindurch wieder den Dönhoffplatz sah.
Spreemann stand vor dem Laden.
»Wo bist du denn?« schrie er. »Wir siegen, wir fangen einen Kaiser und du treibst dich in den Straßen herum.«
Aber bald begann er anders zu reden.
»Unser Sohn ist dabei, Mutter,« schrie er. »Wir haben mitgeschafft. Wir haben nicht unnütz gelebt. Paß auf, was jetzt alles kommen wird. Du solltest hören, was der Lehrer sagt. Was er alles prophezeit. Er ist kein Dummkopf. Nein, das ist er nicht. Er hat recht, der Mensch. Du solltest einmal mit an den Stammtisch kommen. Hier, lies die Depesche von dem König an die Königin. Lies! Lies! Lies!«
Madame Lieschen sah ihn ängstlich an. Was schwatzte er da? Sie sollte mit an den Stammtisch kommen?
Sollte er am Ende . . .?
Sie eilte an das Schränkchen, wo der Kirschlikör stand, den Spreemann in letzter Zeit ein wenig lieb gewonnen.
Aber es fehlte kein Tropfen. Es war also alles Natur. Das Unbegreifliche ist nicht aus der Welt zu schaffen.