Kitabı oku: «Spreemann Co», sayfa 14
Sechstes Kapitel
Man schläft im eignen Bett ein, man wacht im eignen Bett auf und befindet sich doch nicht mehr auf dem gleichen Punkt im Weltenraum. Denn ohne Ruhe wandert unsre Erde. Gleich, ob wir schlafen oder wachen.
Früher würde Madame Lieschen gesagt haben, daß solche Gedanken zu dem wissenschaftlichen Kram gehörten, den sie nicht verstehe und der sie nichts anginge.
Aber heute packte sie selbst die Ahnung eines Zusammenhangs zwischen Wechsel und Beständigkeit.
Es war ihr eignes altes Bett, in dem sie sich schlaftrunken aufrichtete, der Morgenschein fiel durch dieselben saubern Mullgardinen, an denen sie jeden kleinen Stopfer kannte.
Aber draußen plätscherte nicht der Marktbrunnen und kein Milchwagen holperte übers Pflaster. Es war still. Nur der fremde Kastanienbaum neigte und verbeugte sich vor dem scharfen Morgenwind.
Ein Wunder, daß Lieschen trotzdem zur gewohnten Stunde erwacht war. Was sie doppelt zu schätzen wußte, denn sie hatte abscheulich geträumt.
Sie rieb sich die Augen und war zufrieden, Spreemann im gewohnten, friedlichen Schlummer zu sehen. Sein leises, pustendes Schnarchen zu hören, dessen Melodie sie schon gekannt hatte, als sie noch seinen Schlummer nur durch das Schlüsselloch bewachen durfte.
Ruhig und friedlich ging sein Atem. Als läge er unter dem Dach am Dönhoffsplatz.
Er merkte nichts von dem Quietschen des Kastanienbaums, der immer stärker ächzte und stöhnte, weil ihm der Herbstwind die Blätter ausriß.
Er hatte es wohl die ganze Nacht so getrieben. Und damit Lieschens schweren Traum verursacht, der ihr noch lähmend in den Gliedern und als bitterer Geschmack im Munde saß.
Sie war zweispännig in den Himmel gefahren. Gleich am Eingang hatte die Frau Kreisrätin gestanden, neben ihr der alte Herr Jung mit einer großen Taube auf einem Ohr. Und hinter ihr die Fädelfrieda, die der Ankommenden die Zunge heraussteckte.
Aber als sie die Droschke nun bezahlen wollte, hatte sie kein Geld in der Tasche. Sie suchte und suchte vergebens. Die alten Bekannten grinsten höhnisch. Ihr wurde siedend heiß. Sie konnte sich auf einmal nicht mehr besinnen, ob sie noch das kleine Waisenmädchen oder die reiche Frau Spreemann war. Zwei Taler forderte der Kutscher und knallte unentwegt mit der Peitsche. Sie fand dies einen horrenden Preis für eine einfache Fahrt mit nur einer Person. Er lachte laut auf und sagte, daß der Weg weit genug gewesen wäre. Aber sie fand die beiden Taler nicht. Und hätte sie gewiß nie gefunden, wenn sie nicht auf einmal aufgewacht wäre und nun wieder im eignen Bett saß.
Was einem im Traum alles passieren kann.
Sie sah noch deutlich das ungebührliche Benehmen der Fädelfrieda, dieser neidischen Nähmamsell.
Vielleicht war nur sie schuld an dem ganzen, gottlosen Geträume.
Wie scheinheilig sie gestern gesagt hatte, daß sie dem neuen Kaufhause alles Glück wünsche, obschon in der Bibel stehe, daß, wer sich erhöht, erniedrigt werden sollte.
Lieschen hatte getan, als ob sie garnichts gehört hätte. Aber gefallen hatte ihr das Gerede nicht. Nicht nur, daß sie den Bibelworten von jeher Gewicht gegeben, sie hatte selber oft genug recht ähnliche Gedanken gehabt. Dieses gar so Hochhinaus von Hans beunruhigte sie längst. Schaufenster nach Schaufenster, Schritt für Schritt. Aber gleich zwei Stockwerke höher zu springen schien ihr vermessen.
Doch da man sie nur auslachte, wenn sie dergleichen vorbringen wollte, behielt sie dies alles für sich.
Schließlich mußten es die Jungen und auch Klaus, der doch mit allem einverstanden war, wohl besser wissen als sie.
Das neue Klavier fiel ihr ein und die neuen Möbel. Sie war neugierig, alles bei Tageslicht zu sehen. Wenn das Dienstmädchen nur nicht mit einem harten Lappen über die glatte Politur wischen würde.
Rasch war sie aus dem Bett, und als ihr freundliches Runzelgesicht wieder aus dem tiefen Waschbecken auftauchte, waren alle bösen Träume fortgespült.
Als Spreemann aus seinem sanften Altmännerschlaf erwachte, fand er den Kaffeetisch genau so gedeckt wie immer. Alles stand auf dem weißen Tuch in derselben Ordnung und im gleichen Abstand von seiner großen Kaffeetasse, die mit dem breiten Goldrand, den Rosen und dem kleinen Erker für den Bart, der damit vorm Naßwerden geschützt wurde, auch immer noch die alte war. Nur das Gold war seit einigen Jahren etwas verblaßt. Vielleicht nur aus Anpassungsvermögen. Denn auch der Bart, der sich morgens und nachmittags dagegen drückte, versilberte mehr und mehr.
Alles stand am Platz. Aber Spreemann frühstückte nicht mit der gewohnten, pedantischen Ruhe, sondern mit der Uhr in der Hand. Er wollte nicht die nächste Pferdebahn versäumen, die in längern Abständen am Hause vorüber kam. Wichtig eilte er fort, als ihr Klingeln näherkam, und als er, mit der Zeitung vor Augen, der Stadt zufuhr, fühlte er sich als junger, moderner Mann.
Das mußte man der neuen Zeit lassen, sie verjüngte. Sie zeigte jedem, daß man mit sechzig noch nicht alt war.
Im Hause wie im Geschäft vervollkommnete man sich.
Lieschen sammelte schon Zigarrenkisten, in die sie im Frühjahr Petersilie säen würde. Und die Müllerleute brachten ihr schon in kleinen Tüten den Samen dazu. Sie kamen jetzt öfters, um hier auf halbem Wege mit Annalise zusammenzutreffen. Lieschen war es recht, denn bei dem naßkalten Herbstwetter wagte sie sich nicht viel hinaus. Und sie vermißte den Markt sehr. Die Pferdebahn kam zu selten, um eine wirkliche Zerstreuung zu sein.
»Da hatte man vom Fenster das ganze Leben vor sich,« sagte sie zu der Müllerin.
Und als die Zeit der Gänse kam und sie sich von Annalise diese prachtvollen, reichhaltigen Vögel einkaufen lassen mußte, weil ein Schneesturm sie nicht bis in die Stadt kommen ließ, saß sie gramvoll am Fenster, starrte auf den kahlen Kastanienbaum und sagte:
»Keiner ahnt, was ich entbehre.«
Annalise und Ilka fanden das drollig. Und auch als sie es den jungen Ehemännern erzählten, wurde über Mutters großen Kummer gelacht.
Hans, der in allem eine Gelegenheit zur Verfeinerung herausfand, schlug vor, daß man der Mutter eine Gesellschafterin mieten solle, die ihr auf Stunden vorlas. Zum Beispiel »Kinder der Welt« von Heyse, das Ilka jetzt in drei Prachtbänden mit Goldschnitt, auf dem Sofa liegend, las.
Aber Mutter Lieschen wehrte sich energisch gegen diesen vornehmen menschlichen Ersatz für ihren Gänsemarkt.
»Laßt nur gut sein, Kinder. Wenn ich lesen will, hab ich Schiller und die Zeitung. Alte Leute können nicht mehr umlernen,« sagte sie.
Und dann sah sie sich erschreckt im Zimmer um, ob sie auch Spreemann nicht gehört hatte. Denn sie waren ja noch nicht alt, sondern in den besten Jahren. Zu dumm, daß sie es immer wieder vergaß.
Mein Gedächtnis ist nicht mehr so wie früher, entschuldigte sie sich bei sich selbst. Und merkte nicht, daß sie damit einen neuen Verstoß gegen Spreemanns Machtbefehl begangen.
Glücklicherweise beachtete sie Spreemann garnicht. Er sprach mit Christian über das Geschäft und rauchte flott, wenn auch sich öfters räuspernd, eine Zigarette.
Aber auch ohne Romane sollte Lieschen schließlich Trost und Zerstreuung finden. Auf den natürlichen Wegen, auf denen sie zu Hause war.
Sowohl Annalise wie Ilka glaubten sicher zu sein, daß es auch fernerhin Kompagnons für das neue, wachsende Kaufhaus geben würde.
Diese frohe Neuigkeit gab Lieschens Händen, Herzen und Gedanken genug zu schaffen. Sie nähte und häkelte, dachte sich schöne Knabennamen aus, war überzeugt davon, daß diese Enkelkinder Hoflieferanten werden würden, und paßte genau auf, daß sich auch nicht eine kleine Masche in den Wickelbändern verzog, die für so feine Herren bestimmt waren.
Sie bedauerte Spreemann und auch die künftigen jungen Väter, daß sie Seife, Stiefel und das neue Konfektionslager im Kopf hatten, statt auf Lieschens und der Frauen hübsche Gedanken eingehen zu können.
»Was verstehen die Männer vom Leben? Nichts,« sagte sie mehr als einmal zu ihren Schwiegertöchtern. Und fügte hinzu, daß sie dieser Wahrheit die Ehre geben müsse, so lieb sie ihren Mann und ihre Söhne habe.
Trotzdem war sie auf das neue Kaufhaus sehr neugierig. Und je näher seine Eröffnung rückte, um so weiter verloren sich auch ihre schwarzen Bedenken.
Als sie am Tage vor der Einweihung auf ihrem Kalender las, daß Neid und Dummheit die Feinde alles Vorwärtsstrebenden sind, war sie vollkommen beruhigt. Sie hatte nun eine Erklärung für die Redensarten der Fädelfrieda. Sie ließ sich nun nicht mehr in Schrecken versetzen. Wie ein Kunstkenner vor einem Gemälde, saß sie stundenlang vor der großen Ankündigung in der Zeitung, die ein ganzes Blatt von oben bis unten füllte. Es sah wunderschön aus, dieses Spreemann & Co. in ganz großen dicken und schwarzen Buchstaben. Es mußte selbst bei Hofe auffallen, sobald der Lakai die Zeitung auf goldenem Teller hereinbringen würde.
Sie sah ihr Spiegelbild in der blanken Politur des sorgsam verschlossenen Pianinos, gegen das sie das prächtige Zeitungsblatt aufgestellt hatte, und fühlte deutlich den starken und rechtmäßigen Zusammenhang zwischen sich, dem Lakaien mit goldenem Teller, dem König und der ganzen Stadt Berlin.
Spreemann & Co., wovon jeder jetzt sprach, waren ihr eigner Mann und ihre eignen, selbständig von ihr gebornen und erzognen Kinder.
Als die Müllerin kam, sagte sie ihr das laut und deutlich. Sie lehnte das Zeitungsblatt gegen die hohe Kaffeekanne und fügte hinzu, daß sie nicht stolz sei, aber die Wahrheit nicht hinter das Licht stellen wolle.
»Ehre, wem Ehre gebührt,« sagte die Müllerin.
Und erinnerte daran, daß auch sie zur Verwandtschaft gehöre.
Sie bewunderte das schwarze Seidenkleid, das Lieschen morgen anziehen sollte und das an Hals und Ärmeln mit echten Brüsseler Spitzen verziert war.
Hans hatte sie aus England mitgebracht.
»Nur schade, daß sie nicht alle wissen werden, wie teuer so etwas ist,« sagte die Müllerin. »Auf Schmucksachen versteht man sich leichter. Ich werde meine ein und einen halben Meter lange Kette aus zusammengeschmiedeten Napoleons umhängen.«
»Tu das,« sagte Lieschen kurz und bürstete den Sammetkragen von Spreemanns schwarzem Gehrock energisch aus. Trotzdem ihre beiden neuen Mädchen, die sie nicht mehr Madame, sondern gnädige Frau nannten, dies schon zweimal hatten besorgen müssen.
»Sie ist sehr schwer. Später bekommt sie Annalise einmal. Ich werde sie der ganzen Länge nach umhängen,« sprach die Müllerin ernst und nachdenklich weiter.
»Tue das,« wiederholte Lieschen freundlich.
Sie bedauerte diese arme Frau, die trotz jener langen goldenen Kette morgen so wenig als heute die Mutter dieser großen Firma sein würde. Sie tat ihr leid. Denn Lieschen war nicht hartherzig.
Aber auch schmerzliche Gedanken können wohltun . . .
Siebentes Kapitel
Wer sieht nicht gern in Hülle und Fülle vor sich, was er gern haben möchte.
Kein Wunder, daß sich die Berliner durch die Türen des neuen Geschäftshauses drängten, von dessen bunter Reichhaltigkeit die lange Reihe der Schaufenster einen Vorgeschmack gaben.
Hier lag nichts eingeschachtelt und eingewickelt, wie eine Rarität. Hier türmte sich in Haufen, was man sich wünschte und brauchen konnte.
Das war etwas Neues. Etwas Praktisches. Etwas Großstädtisches.
Und daß es von dem soliden Herrn Spreemann ausging, erhöhte das Vertrauen.
Hier bekam man etwas zu sehen, ohne gleich mit dem Portemonnaiedeckel knipsen zu müssen.
Bunte Pyramiden aus Seifenstücken, Ketten aus Seidenschlipsen, Soldatenzelte aus Bleistiften und Taschentüchern.
Ein Weihnachtsmarkt für Erwachsene.
Das war Christians Werk.
Jeder hat ein Talent, er muß es nur herausfinden.
Christian mit seinem spielerischen Sinn und dem praktischen Blut der Väter war der geborene Dekorateur. Er hatte gebaut und getürmt. Unermüdlich und verblüffend.
Sein Hauptwerk war ein Spreekahn aus Gummischuhen, mit einem Stiefelknecht als Steuer, zwei Schuhanziehern als Ruder. Die Fracht bestand aus kleinen Büchsen aus Perleberger Wichse. Die nur einen Groschen kosteten und die sich jeder, traumverloren und überwältigt, kaufte. Denn hier staute sich die Menge staunend von früh bis abend.
Der Berg billiger Pantoffel, der sich neben jenem heimatlichen und doch phantastischen Kahne aufstapelte, war im Handumdrehen ausverkauft und mußte immer wieder neu aufgeschüttet werden. Wie die Kohlen auf einer Lokomotive.
Und ebenso ging es mit der »Konkurrenzkrawatte«. Sie war dreifarbig wie die neue deutsche Fahne und verkaufte sich wie warme Semmeln in den Hungerjahren.
Man konnte sich bei ihrem langen Namen alles und nichts denken. Aber Hans erklärte ihre Bedeutung.
»Hoch effektvoll, meine Herrschaften,« sagte er, die Konkurrenzkrawatte mit geschicktem Griffe bindend und wieder aufknotend.
»Effektvoll und billig.«
In tadellosem Gehrock lächelte Hans seine kaufluftigen Mitbürger an. Ließ er die verkauften Seidenstreifen von einem eifrigen kleinen Lehrling, der stets in erwartender Ehrerbietung neben ihm stand, überschnell in buntes Papier wickeln, um sie dann selber Käufern oder Käuferinnen mit vornehmer Verbeugung zu überreichen.
»Effektvoll und billig,« tönte es immer wieder über der sich drängenden Menge.
Genau so wie Spreemann senior, stets jedem an gleicher Stelle: Reell und billig, versichert hatte.
Geschäft bleibt Geschäft. Nur die Wände tüncht man neu. Nur kleine Nuancen färben das Zeitkolorit.
Spreemann selber stand zwischen Tür und Kasse. Im gut sitzenden Gesellschaftsrock wie seine Söhne. Den grauen Bart gebrannt und gekräuselt. Er bekam manchen beglückwünschenden Händedruck, er stand gerade und gemessen da, aber es entging ihm kein Geldstück, das der Kassierer einnahm oder wechselte.
Auf den Stufen vor dem Privatkontor, auf der neuen Treppe, die zu den Räumen führte, wo sie ein Leben lang geschaltet und gewaltet hatten, stand Mutter Lieschen im Schwarzseidenen mit echten Spitzen, wie eine Göttin auf einem Piedestal. Ihr zur Seite grüßten die beiden jungen Frauen Spreemann, in etwas locker gearbeiteten Kleidern, in die Menge.
»Wie ein Museum,« sagte Lieschen immer wieder und atmete schwer vor Erregung.
»Wie ein Museum. Ich bin überzeugt, der Kaiser kommt selbst, um sich das anzusehen.«
Und schon stieß sie einen lauten Ruf der Überraschung aus und verbeugte sich grüßend weit über das Geländer.
Die jungen Frauen folgten in vorsichtiger Neugier ihrem Beispiel.
Was man da sah, gehörte zwar nicht zum Kaiserlichen Hof, aber es war auch stattlich und nicht alle Tage im Spreemannschen Gesichtskreis sichtbar.
Es war Mariechen aus Dresden, die da mitten im Gedränge einen tüchtigen Raum des Geschäftslokals beanspruchte.
Ilka, die seit ihrer Pensionszeit im schriftlichen Verkehr mit ihr geblieben, hatte ihr so viel von diesem An- und Auf- und Zubau geschrieben, daß sie kein Wort davon geglaubt hatte. Aber doch neugierig geworden war. Sie hatte also ihrem Manne gesagt, daß sie das begreifliche Bedürfnis habe, wieder einmal das Grab ihrer Mutter zu besuchen, und war abgereist. Ihr Gatte hatte ihr gern die Erlaubnis erteilt. Denn ihre eheliche Gemeinschaft bestand hauptsächlich darin, daß Mariechen ihm sein Furunkel im Nacken verband. Und das war im Augenblick vollkommen geheilt.
So stand also Mariechen mitten in Spreemann & Co. Sie war sprachlos über die großartige Veränderung um sie herum und hätte sicher einen der starken Gallensteinanfälle bekommen, an denen sie schon seit Jahren litt, wenn sie sich nicht sofort gesagt hätte, daß Hochmut vor dem Fall kommt. Daß diese prahlerische Aufmachung nicht gut ablaufen konnte. Wer sollte all diese tausend verschiedenen Sachen auf einmal kaufen? Da mußte über kurz oder lang die Vergeltung kommen.
Wie ein Gebet hatte sie diese Einkehr in sich wieder aufgerichtet.
Und mit einem Lächeln echter Herzlichkeit keuchte sie nun die Stufen empor, Lieschen und ihren Schwiegertöchtern entgegen.
Trotzdem sie den Wert der Brüssler Spitzen sofort erkannte, gab sie Lieschen einen verwandtschaftlichen Kuß und küßte auch Ilka und Annalise.
Sie erzählte, daß sie gekommen wäre, um Tante Karolines teures Grab zu besuchen, und erstaunt und beglückt sei über die großartige Veränderung, die sie hier unvermutet vorgefunden.
Aber dann fühlte sie doch eine Art Übelkeit in sich heraufsteigen von dem Geräusch des beständigen Geldgeklappers, das von der Kasse her hinaufklirrte. Sie sagte, daß sie die Ermüdung der Reise fühlte; und man führte sie in das Privatkontor, wo zur Feier dieses Tages ein kleines Frühstück vorbereitet war.
Lieschen, erfüllt von freudiger Erregung, war glücklich, daß Tante Karolines Tochter an diesem denkwürdigen Tage zugegen war. Sie schenkte ihr Wein ein und bot ihr Mayonnaise, Lachs und Pute auf einmal an.
Mariechen sagte, daß ihr der Arzt leider das Essen ganz und gar verboten habe, und legte sich, wahrscheinlich in gedankenloser Ermüdung, eine große Portion Hummermayonnaise auf den Teller.
Aber zu Lieschens Beruhigung, die, wie alle guten Hausfrauen, nicht sehen konnte, daß etwas umkam, aß sie auch alles, bis auf das letzte Stückchen, auf. Auch Lachs und Pute verschmähte sie nicht. Nur des Vergleichs halber kostete sie davon. Denn sie wollte sehen, ob man jetzt in Berlin anders koche als in Dresden.
Wenn man sein Wissen bereichern will, muß man an den Geist und nicht an den Körper denken.
Mariechen ging sogar so weit in ihrem Wissensdrang, daß Mutter Lieschen schon beunruhigt wurde, daß die überanstrengten Herren nicht mehr genügend vorfinden würden, um sich stärken zu können.
Aber um die Mittagsstunde vergönnten sie sich, einer nach dem andern, ein halbes Stündchen Ruhe. Man aß, trank und stieß mit dem Gast und unter sich an. Auch Herr Slovitzka fand sich auf ein oder zwei Gläser ein.
Man hörte auch hier, wenn auch gedämpft, das Geraune der Kauflustigen, das Geklirr der Kasse.
Der Laden wurde den ganzen Tag lang nicht leer.
Lieschen wollte nicht eher fort, als bis sie die neue Beleuchtung gesehen. Endlich stand der erste Stern am klaren Winterhimmel. Die lange Reihe der Gasflammen leuchtete auf. Es war wie eine Illumination.
Lieschen mußte an die Schlacht bei Sedan, an Christians Heimkehr, an viele königliche Geburtstage denken, und die Tränen kamen ihr in die Augen.
Ganz benommen ließ sie sich in einen Wagen packen, wo sie neben dem schweren Mariechen gerade so viel Platz hatte, um sitzen zu können.
Erst als man durch das Potsdamer Tor kam, richtete sie sich erschreckt auf und sagte:
»Mit der Pferdebahn hätte es ein Fünftel gekostet.«
Aber Mariechen erwiderte:
»Ich wundre mich, daß ihr noch keine Equipage habt.«
Lieschen wußte nicht, ob dies Spott oder Ernst war, aber sie mußte plötzlich wieder an den Kutscher denken, der sie in den Himmel gefahren, ohne daß sie ihn bezahlt hatte.
Sie war todmüde vor Aufregung. Aber sie war gewohnt, nicht viel Wert auf sich zu legen. Kaum, daß sie zu Hause war, sorgte sie für den Tee, weil Mariechen danach verlangte. Nicht um Umstände zu machen, sondern weil sie es einmal gewohnt war.
Andern Gutes zu tun belohnt sich.
Der Tee belebte auch Lieschen.
Als sich nach Schluß dieses großen Geschäftstages Spreemann & Co. und Schwiegertöchter einfanden, war Lieschen wieder munter und für jeden hör- und hilfsbereit, wie immer.
Selbstverständlich mußte das stattliche, liebe Mariechen ihr eigner Logisgast werden.
Spreemann meinte, ob sie nicht besser täte, zu Herrn Slovitzka überzusiedeln. Er wohnte jetzt sehr elegant. Unter den Linden, hatte stets Mariechen für eine Weltdame erklärt und ihr auch eben noch eine elegante Schachtel mit Deikes Katharinenpflaumen überreicht, weil er gehört, daß diese starken Leuten besonders bekömmlich sein sollten.
Aber als er den Vorschlag vernahm, strich er seinen dicken Schnurrbart, der allen Leuten zum Trotz unverändert schwarz geblieben war, und sagte, daß er mehr als glücklich sein würde, Frau Mariechen als seinen Gast zu sehen, daß er aber als einzelner Herr nicht einer einzelnen Dame einen solchen Vorschlag machen dürfe, ohne ihren Ruf zu gefährden.
Mariechen bedauerte, daß ihr Gatte nicht, diese edlen Worte mit anhören konnte, und versuchte, ihre 120 Kili in eine kokett graziöse Haltung zu zwängen.
Spreemann machte nun auf Ilkas Badewanne aufmerksam. Das war gewiß etwas, was Mariechen in Dresden noch entbehrte.
Aber Mariechen sagte, daß sie im Winter keinen Wert auf Bäder lege. Es war ihr genug, daß ihr hier ein Klavier zur Verfügung stände. Seit sie keinen Dackel mehr habe, wäre Musik ihre einzige Zerstreuung.
Darauf wußte niemand mehr etwas zu sagen. Musik, das zarte Bindemittel verwandter Seelen, hatte entschieden.
Mariechen blieb. Am Tage schwatzte sie asthmatisch neben dem häkelnden Lieschen, und am Abend sang sie, so weit ihr Atem ausreichte.
Am ersten Tage war eine kleine Verwirrung entstanden. Trotzdem der Arzt Mariechen jedwedes Essen Verboten, blieb von dem guten Mittagsmahl nichts für die Dienstboten übrig. Auch am Abend war es noch knapp.
Lieschen schalt sich und dachte erschreckt, ob sie das Wirtschaften verlernt hätte, seit die Jungen aus dem Hause waren.
Aber als sie dieselben Portionen kochen ließ wie zu der schönen Zeit, wo die Zwillinge im größten Wachstum waren und wie Löwen fraßen, reichte es und alles war in Ordnung.
Das Lieblingslied Mariechens hatte einen wehmütig schwermütigen Refrain, wie er zu einem vollen Herzen – wie nahe sitzt das Herz beim Magen – paßte.
»Ja, es lacht oft der Mund,
S'ist oft heiter das Gesicht,
Wenn das Herz dabei weint.
Wenn das Herz dabei bricht.«
So hieß dieses immer wiederkehrende Ende vom Lied, das Mariechen wie ein von der Zeit schon etwas mitgenommener Leierkasten, aber langsam und deutlich hervorfauchte.
Spreemann und seine Söhne waren jetzt daran gewöhnt, ihre geschäftlichen Angelegenheiten zu besprechen, auch wenn Geräusch und Lärm um sie her war. Sie achteten garnicht darauf.
Ilka und Annalise aber bekamen hinter dem breiten Rücken der Sängerin solche Lachanfälle, daß der Gesang bei ihrem augenblicklichen Gesundheitszustand beinahe eine Gefahr für sie bedeutete.
Lieschen, die Mariechen schon in der Jugend hatte singen hören und den Abstand nicht so groß fand, sagte, daß die jungen Frauen kein Pietätgefühl hätten und daß sie froh sei, daß ihr neues Klavier ein bißchen zur Geltung käme.
Trotzdem weinte die leicht Gerührte nicht, als Mariechen von Heimreisen zu sprechen begann. Sie wollte zu Weihnachten zu Hause sein. Ihr russischer Gatte, dessen Furunkel noch immer heil unter einem großen Pflaster ruhte und der sich seine freien Stunden sehr hübsch zwischen Pikett- und Whistpartien einzuteilen verstanden hatte, schrieb zwar, daß sie ruhig fortbleiben könne, so lange sie wollte.
Mariechen aber sagte, daß sie dieses Gattenopfer nicht annehmen wolle, denn sie wußte, wie sehr ihr Alexander sie vermißte.
So verließ sie einen Tag vor dem Weihnachtsfest Verwandte und Vaterstadt. Sie hatte sich ausgerechnet, daß sie hier mindestens sieben Personen hätte beschenken müssen. Das war ihr zu viel. Sie hätte natürlich selbst auch Geschenke erhalten, aber sie kaufte sich lieber selbst, was sie brauchte.
Alle begleiteten sie zur Bahn.
Einen Verwandten abreisen zu sehen galt dem Berliner stets als Familienfest.
Mariechen war nur schwer durch die Türöffnung des Eisenbahnwagens zu schieben. Zumal sie noch in jedem Arm ein Paket mit Mundvorräten geklemmt hatte.
Aber es gelang doch schließlich, und niemand ahnte, daß es ihre letzte Reise sein sollte. Daß niemand sie wiedersehen würde.
Und doch war es so.
Sie aß am Silvesterabend so reichlich Grünkohl, daß es ihrem immer zu neuer Arbeit gehetzten Magen zu viel wurde. Er wollte auch einmal wissen, was Festtag sei. Er gab ihrem gewiß nicht bösen, aber schwerfällig gewordenen Herzen einen wütenden Puff. Vor Schreck darüber vergaß es zu atmen und legte sich unter dem schweren Hügel von Grünkohl zur Ruhe.
Spreemann, der am wenigsten Notiz von Mariechens Anwesenheit und Abreise genommen hatte, war von ihrem raschen Ende mehr erschüttert als alle andern.
Er war in dem gleichen Alter als Mariechen.
»So fortgerafft in der Blüte der Jahre,« sagte er bewegt und war viele Tage ernstlich verstimmt und bedrückt.
Lieschen hatte gehofft, daß vielleicht irgend jemand im Testament bedacht sein würde. So etwas kam doch manchmal vor in guten Familien.
Aber das erwies sich als falsche Vermutung.
Mariechen hatte bestimmt, daß, was ihr an Geld persönlich gehörte, zur Gründung eines Entbindungsheimes für Dackel verwendet werden sollte.
»Gott hab sie selig,« sagte Lieschen, als sie, schluchzend, von diesem Vermächtnis erfuhr.
Sie hatte keinen Abscheu vor Dackeln. Wenigstens lange nicht so wie vor Ratten und Mäusen. Und die Toten soll man ruhen lassen.
Aber trotz alledem konnte sie Mariechens letzten Willen nicht billigen.