Kitabı oku: «Spreemann Co», sayfa 7
Drittes Kapitel
Wenige Tage später aber lief ein Freudenlärm durch die Straßen, der alle Privatsorgen ein Stück seitwärts schob. Ein großer entscheidender Sieg beim böhmischen Königgrätz. Der Friede in sicherer Aussicht.
Herzen und Hände bekamen zu schaffen.
Die Zwillinge halfen dem Vater die Ballen des Fahnentuchs, prima Qualität, herbeirollen, abmessen, schneiden. Die schwarzweißen Tuchrollen schwanden wie Butter unter der Sonne.
Der Laden war voll und warm wie eine Bierstube am Winterabend.
Dabei war eine Nachfrage nach hellen Sommerstoffen und leichten Anzügen, wie wenn Pfingsten vor der Tür stände. Als wäre man bei der Fliederblüte und nicht bei den sauren Kirschen.
Die feinen Herrschaften wollten nun ihre Badereise schleunigst nachholen. Obwohl man aus die böhmischen Bäder auch jetzt noch verzichten mußte. Auf dem blutgetränkten Boden wälzte sich die Cholera zwischen den heilsamen Quellen. Aber am Rhein, in Wiesbaden, Kissingen und Baden-Baden konnte man sich rasch noch Stärkung suchen für Herbst und Winter. Man hatte es nötig. Nach solchen Tagen der Erregung.
Die guten Bürger mußten sich von den großen Anstrengungen ihres tapferen Heeres erholen.
Spreemann billigte dies durchaus. Die Kräftigungsreisen der andern übten auch auf ihn eine ausgezeichnete Wirkung.
Madame Lieschen hatte einen großen Napfkuchen gebacken. Weil sie wußte, daß es Spreemann und die Jungen erfreuen würde. Und weil sie das Bedürfnis hatte, auch etwas besonders Festliches zu vollführen.
Erregt lief sie durch die sommerwarmen Stuben und erwartete Tante Karoline.
Die Zeit verging.
Sie hatte inzwischen wieder einen ganzen Gockelhahn fertig gehäkelt, der im Verein mit andern eine anmutige Küchengardine abgeben sollte. Sie hatte dabei dem feierlichen Glockengeläut des Sieges gelauscht, hatte Kaffee und die Hälfte des Napfkuchens hinunter ins Geschäft geschickt, und immer noch war Tante Karoline nicht da.
So machte sich Madame Lieschen fertig, um sie abzuholen. Denn sie fühlte, daß sie nicht länger imstande sei, an solchem Tage mit stummem Munde dazusitzen.
Mit zufriedenem Lächeln eilte sie an der Ladentür vorüber, die geöffnet war und auf einen Blick erkennen ließ, wie gut das Geschäft heute ging. Ihre schnellen Augen hatten gerade Christian und Hans erwischt, die mit großen Warenballen und schweißtriefenden Gesichtern aus dem Lagerraum emporstiegen. Heute dachten sie gewiß nicht an ihre Phantasien.
Die Einsicht vom Segen der Arbeit im ruhigen Herzen, eilte Madame Lieschen unter Sonnenschein und flatternden Fahnen durchs frohe Gedränge.
Alles war heute glücklich.
Wenigstens störte nichts diesen schönen Glauben der Frohseinwollenden.
So wie es an Sommersonntagen nur Gesunde zu geben scheint, wenn man ins Gewühl der durchsonnten Straßen schaut, so merkte man auch heute nichts von Tränen und Leid. Sieger sind immer die Lebendigen. Das ist die Höflichkeit des Todes und seine Hinterlist.
Auch Madame Lieschen kümmerte sich um nichts andres, als was sie sah und hörte. Erst als sie vor den Fenstern Karolines halt machte und die Vorhänge zugezogen fand, erinnerte sie sich wieder, daß es nicht nur Angenehmes in der Welt gab.
Bestürzt starrte sie auf die geschlossenen Fenster. Vor den Gardinen stand ein Glas mit Kirschkompott, daneben ein andres mit Bierkaltschale und zwischen ihnen ein Tellerchen, das die Reste eines gutgeratenen Griespuddings barg.
Das war gewiß kein widerlicher Anblick. Und für Madame Lieschen nicht einmal ein ungewohnter. Denn es gehörte zu Tante Karolines Eigenheit, den Raum zwischen den Doppelfenstern als heimliche Speisekammer zu benutzen. Da von den Zimmern aus die Gardinen diesen Schlupfwinkel schützten, glaubte sie ihre Schätze verborgen vor aller Welt. Ihre alten Augen hatten vergessen, daß man auch draußen nicht blind war und so ahnte sie nicht, daß die ganze Straße ihre heimlichen Freuden aufs Vergnüglichste verfolgte.
Aber unser Nachbar weiß immer besser um uns Bescheid als wir selbst. Auch wenn wir unsre Geheimnisse nicht gerade unter Glas setzen.
Was aber Madame Lieschen beunruhigte, war ein viertes Glas, in dem ein Hornstiel im Wasser steckte, der ganz einem Medizinlöffel glich.
Dieser Verdacht sollte bestätigt werden, als Madame Lieschen endlich oben war.
Tante Karoline lag mit verbundenem Kopf im Bett.
Trotz Sommerhitze und Sieg.
»Hätte ich das geahnt,« rief Madame Lieschen, als sie das verdunkelte Zimmer betrat. »Dann hätte ich doch ein Stück Napfkuchen mitgenommen. Acht Eier und ein halbes Pfund Sultanrosinen. Lecker und locker wie selten. Backbraungold, ohne den geringsten klitschigen Streifen.«
Und dann fragte sie, was Tante Karoline fehle.
Tante Karoline sagte, daß ihr nichts fehle, sondern daß sie etwas zu viel im Kopf zu haben scheine. Denn es bullre darin wie in einem kranken Magen.
Lieschen erwiderte, daß sie dies Gefühl nicht kenne und ob man nicht einen Arzt holen sollte. Nicht den alten Geheimrat, sondern einen jüngeren.
Aber davon wollte Tante Karoline nichts wissen, sie wollte weder einen alten, noch einen neuen Arzt.
Sie sagte: »Die Alten verständen garnichts, dafür hätte sie einen gründlichen Beweis. Denn sonst hätten sie ihren Seligen nicht in seinen besten Jahren sterben lassen. Die Neumodischen aber wären ganz gefährlich. Sie wollten alles besser als die Kranken selber wissen. Wenn einem der Kopf weh tue, behaupten sie, daß es die Leber sei. Erst kürzlich hatte ihr eine Bekannte dies erzählt.«
Lieschen schwieg. Von der Leber und von den Ärzten verstand sie nicht viel. Aber Tante Karoline kam ihr sehr verändert vor. Ihr Gesicht sah wieder hart und spitz aus wie in früheren Jahren. Wie damals schien sie auch wieder ärgerlich und trotzig irgend eine feindliche Macht bekämpfen zu wollen.
»Du brauchst mich garnicht so anzustarren,« unterbrach sie jetzt Lieschens Beobachtungen. »Es hat garnichts auf sich. Nächsten Sonntag bin ich wieder bei euch wie immer.«
Sie richtete sich mit einem Ruck in die Höhe.
»Du glaubst es wohl etwa nicht? Wer sollte mich daran hindern? Wer?«
Lieschen versicherte, daß sie nicht im geringsten am Gesundwerden der Tante zweifle. Aber es wurde ihr recht bange zu Mute.
Die Tante lag jetzt mit geschlossenen Augen in den Kissen und murmelte mit sich selbst.
Lieschen fragte sich verwundert, wie es möglich sei, daß einem vor der guten Tante Karoline unheimlich sein könne, und laut fragte sie, ob sie nicht die Fenster ein wenig öffnen sollte.
Die Kranke schwieg.
Draußen zog Musik vorbei. Irgend ein Verein brachte dem Sieg seinen Tribut. Die Scheiben klirrten von den kräftigen Paukenschlägen.
Tante Karoline fuhr auf und stöhnte über den Lärm.
»Es ist nur wegen des großen Sieges,« sagte Lieschen und war froh, nun endlich von dem Sieg, dem guten Geschäftsgang und den Kurreisen der Vornehmen anfangen zu können. Nun würde gewiß Friede für alle Zeit werden.
Aber Tante Karoline schüttelte den verbundenen Kopf.
Sie sagte, daß die Menschen sich nicht zu benehmen verständen. In jedem Frieden stecke schon heimlich wieder ein neuer Krieg. Sie kenne das. Sie war nun älter wie das Jahrhundert selbst.
Dann murmelte sie etwas, das sich so anhörte, wie wenn sie über die Größe der Erde schelte, der allein sie's zu verdanken hätte, daß Mariechen so weit von ihr fortgeraten sei.
Von Zeit zu Zeit mußte ihr Lieschen einen Löffel Medizin geben, die sie gierig einschluckte.
»Das hilft,« sagte sie.
Und erzählte, daß sie diese Arznei schon als Kind von ihrer Mutter bekommen und sie auch immer Mariechen gegeben habe, wenn dem Kinde etwas gefehlt hatte. Sie habe einen wunderschönen Zimtgeschmack.
Schließlich legte sie sich zurück und schien eingeschlummert zu sein.
Als die Dämmerung kam, stand Lieschen auf und ließ die Magd neben dem Bette Platz nehmen. Dann eilte sie nach Haus, so rasch, als es das freudige Gedränge zulassen wollte . . .
Spreemann hatte inzwischen den Laden geschlossen. Heute hatte er sein Brot vollkommen bibelgerecht verdient. Im Schweiße seines Angesichts. Aber es war auch ein reichlicher Happen geworden.
Jetzt hatte er sich eine wohlverdiente Pfeife angezündet, sah vom Lehnstuhl aus in das festliche Getümmel, das über den Platz flutete, und dachte nach, was das eigentlich alles für innere Organe sein konnten, für deren Instandhaltung die Begüterten so viel Geld ausgeben mußten.
Der Schlächtermeister, der sich noch kurz vor Ladenschluß Stoff zu einer Leinwandjacke holte, hatte verächtlich die Schultern gezuckt und erklärt, daß es im feinsten Menschen nicht anders aussehe als in jedem Ochsen. Herz, Leber, Lunge, Magen, Nieren, Milz und Galle machen bei dem einen wie dem andern den ganzen Klimbim aus. Und er sehe nicht ein, warum die nicht ebensogut hier in Berlin funktionieren sollten wie in einem Badeort.
Jeder sieht die Menschen mit seinen Augen. Keinen kann es erfreun, wenn ihm gerade in der heikelsten Jahreszeit die besten Kunden davonfahren.
Darum sah Spreemann die Weisheit des Schlächters nicht ganz für voll an.
Jedenfalls merkte er jetzt deutlich, daß der Mensch einen Magen hatte. Wo blieb nur Lieschen?
Da kam sie über den Platz. Stattlich schob sie sich durchs Gedränge.
Spreemanns Gesicht erglänzte.
Als sie das Zimmer betrat, rief er:
»He, Mamsell Lieschen, woher so spät?«
Wenn er gut gelaunt war, nannte er seine Madame gern Mamsellchen. Um sie an manches zu erinnern, was vordem lag.
Aber Lieschen lächelte nicht zurück. Sie beeilte sich zu erzählen.
Spreemann konnte nicht verhindern, daß er tüchtig erschrak. Trotzdem ihm der Schlächter erklärt hatte, daß man vor allem aufpassen müsse, daß einem nichts in die Galle fahre.
Und während Madame Lieschen erzählte und erzählte, hoffte er nur auf die Bestätigung einer alten Wahrheit, nämlich, daß Frauen immer übertreiben.
Dieser kleine Trost verhinderte wenigstens, daß ihm der Appetit ganz verschlagen war, als sie nun bei Tisch saßen.
Die Jungen waren nicht dabei. Sie hatten sich mit Wurstbroten begnügt und schon vor der Mutter Rückkehr eine Festpromenade unternommen. Arm in Arm schlenderten sie in freudiger Erregung durchs Gewühl. Ihre Herzen waren jetzt immer bereit, höher zu schlagen für etwas Schönes. Willig klopften sie heute mit für Heimat und Vaterland. Die, wie man im süßen Gedränge deutlich verspürte, nicht nur aus rauhen Männern bestanden.
Jedes Alter hat sein Vergnügen.
Spreemann hätte die Siegesaffäre gern am Stammtisch besprochen. Hätte den guten Geschäftsgang gern noch einmal hinter einer großen Weißen mit Himbeer zurückgenossen.
Lieschen aber sagte, daß einer von ihnen beiden bestimmt zu Tante Karoline gehen müsse, sie sich selbst aber nicht in den abendlichen Tumult hinauswage.
So blieb Spreemann nichts andres übrig, als vor dem Bier noch bei Tante Karoline einzukehren.
Krankenbesuche zu machen war er nicht gewohnt.
Auf Zehenspitzen, wie in den ersten Tagen seiner Vaterschaft, humpelte er, verlegen lächelnd, in das dumpfe Zimmer, das eine kleine Lampe mühsam zu erhellen versuchte.
Endlich saß er neben dem Bett. Aber Tante Karolines verbundener Kopf blieb tief in den Kissen. Da klopfte denn Spreemann mit seinem dicken Knotenstock einige Mal derb auf den Boden.
Er schien damit das Richtige getroffen zu haben. Tante Karoline fuhr auf.
Als sie jedoch die breiten Schulterumrisse eines Mannes sah, glaubte sie den Geheimrat zu erkennen und sagte: »Ich brauch keinen Doktor.«
Und legte sich wieder um.
Darüber mußte Spreemann lachen.
»Das ist auch das erstemal, daß man mich für einen Studierten hält,« sagte er.
Die Tante kam wieder zum Vorschein.
»Bist du's Klaus,« sagte sie. »Was willst du denn?«
Spreemann fand, daß ihre Stimme gesund klang, eigentlich sogar vergnügt. Er sagte daher:
»Ich versteh nicht, warum Lieschen dich für krank hält. Sie tat wirklich, als ob's mit dir zu Ende gehen sollte.«
Die Kunst des Diplomaten zu schweigen, auch wenn man redet, besaß Spreemann nur hinter dem Ladentisch. Für den Privatverkehr reichte sein Talent nicht aus.
Tante Karolines umwickelter Kopf rückte ihm bedrohlich näher.
»Bildest du dir vielleicht auch ein, daß ich krank bin?« fragte sie.
Spreemann war es gleich so vorgekommen, wie wenn er sich nicht sehr geschickt ausgedrückt hatte. Er sagte eilig, daß der Irrtum gewiß nur entstanden sei, weil sie heute im Bett liege.
Sie aber fragte, ob es ein Wunder wäre, wenn ein anständiger Mensch zu nachtschlafender Zeit in seinem Bette zu finden sei.
Nein, das konnte Spreemann nicht verwunderlich finden.
»Nun also,« sagte Tante Karoline. »Am Sonntag werde ich bei euch sein wie immer. Wer soll mich daran hindern? Wer?«
Spreemann fand das alles gesund und vernünftig. Es tat ihm leid, daß er sich vor dem Abendbrot unnütz erschreckt hatte, und er freute sich, daß Tante Karoline nichts fehlte.
Er drückte ihre heiße Hand und beeilte sich, auf dem kürzesten Wege zu Klausings Weißbier zu kommen . . .
Wer sollte Tante Karoline hindern? Wer?
Auf Schritt und Tritt schielen wir zur Seite, ob er nicht schon neben uns marschiert. Aber wir reden nicht gern davon . . .
Tante Karolines Kopfweh nahm zu, und sie verschob ihren Besuch auf den nächsten Sonntag.
»Ich werde diesen Sonntag zu Haus bleiben, um mich auszuruhn. Trotzdem es mir ein leichtes wäre, zu euch hinüberzuspringen,« sagte sie.
Nicht einmal, sondern jedesmal, wenn sie aus ihrem Halbschlaf auffuhr. Sie hatte auch zugegeben, daß Geheimrat Knapp sie untersuchte. Arzt und Patientin hörten schlecht. Aber sie verstanden sich doch. Tante Karoline erklärte ihn sogar für einen ganz gescheiten Mann, als er ihr versicherte, daß sie am Sonntag wieder ausgehn werde. Und der Geheimrat lächelte zufrieden.
Nicht in jedem Beruf darf man sagen, was man denkt.
Einige wenige Sommertage summten noch lang und warm an dem schmalen Krankenbett vorüber. Wenn die alten Augen matt und müde in die Helle blinzelten, fielen sie auf Lieschen, die einen Gockelhahn häkelte. Im Halbschlummer aber hielt sie diese Gestalt für Mariechen. Dann lächelten die welken Lippen.
Hin und wieder kamen die großen Jungen durch die Tür und fragten mit ihren rauhen Stimmen, wie es gehe. Meist mühte sich die Kranke auf, um ihnen lächelnd zu sagen, daß ihr nichts fehle und sie am Sonntag wieder bei ihnen sein werde, wie immer.
Aber am Sonntagmorgen richtete sie sich plötzlich hoch, so rasch, daß Lieschen nicht einmal ihr geübtes Lächeln ins betränte Gesicht setzen konnte und sagte:
»Na, lassen wir das Lügen. Wenn er mich abrufen will, wird er wissen warum.«
Bald darauf wurden die Fenster ihres Zimmers weit geöffnet. Sommer und Sonntag fluteten ein.
Hier war's vorbei mit Enge und Bedrücktsein.
Viertes Kapitel
Mütter sind rascher, als Kinder.
Erst am Beerdigungstage stand Mariechen an der Mutter Bett. Sechzehn Jahre hindurch hatte immer etwas andres ihr ersehntes Kommen verhindert. Nun war sie da.
Sie war eine starke, schwere Dame geworden, mit breitem, vollem Gesicht und dreifachem Kinn. Tante Karoline hatte von ihr stets wie von einem kleinen Kinde gesprochen. Unwillkürlich hatten sich die andern angewöhnt, in gleicher Weise an Mariechen zu denken. So befremdete ihr stattlicher Anblick. Man brachte kein »du« zustande, und auch Mariechen redete die Verwandten mit »Sie« an. Es war gut, daß man hauptsächlich zusammen weinte. Denn Lieschen wußte garnichts mit dieser Dame aus dem Ausland zu sprechen.
Als sie gesagt hatte, daß sie niemals in ihr das magre Mariechen wiedererkannt hätte, sagte die Weitgereiste, daß man alte Zeiten ebenso ruhen lassen müsse wie die Toten.
Sie war selbstbewußt und bestimmt. Man merkte, daß sie ihr gutes Auskommen hatte.
Das verriet sich nicht allein, wenn sie sprach. Auch wenn sie gähnte, bekam man Beweise dafür.
»Sieh nur, diese Goldplomben,« flüsterte Lieschen bewundernd, und gab Spreemann einen heimlichen Ellenbogenstoß, als Mariechen den Mund, in Reisemüdigkeit, weit auseinandersperrte.
Ja, wenn Tante Karoline das hätte sehen können.
Lieschen schluchzte ins Taschentuch.
Sie hätte viele Grüße und Bestellungen von Tante Karoline auszurichten gehabt.
Zum Beispiel, daß Mariechen in dem großen kalten Rußland das ganze Jahr hindurch wollene Untersachen tragen müsse und doppelte Strümpfe und dicke Stiefel . . . Warme Füße, warmes Herz.
Aber Lieschen wagte es dieser feinen Dame nicht zu sagen.
Außerdem wollte Mariechen garnicht nach Rußland zurück. Was Tante Karoline so heiß gewünscht hatte, wurde Wahrheit. Mariechen kehrte heim ins Vaterland. Ihr Gatte, Alexander, den Tante Karoline gesund gepflegt, aber dessen Namen sie stets mit dem gleichen feindseligen scharfen Akzent betont hatte wie den des großen Räubers Napoleon, wollte in Dresden eine russische Zigarettenfabrik gründen. Es gab dort schon zwei von dieser Art, die gut florierten.
»Diese neumodischen Glimmstielchen,« sagte Spreemann verächtlich.
»Wächst denn in Dresden so viel Tabak?« fragte Lieschen. Weil sie sich wunderte, daß etwas florierte, das nicht in Berlin war.
Mariechen überlegte einen Augenblick lang und schneuzte sich ins tränenfeuchte Taschentuch. Dann sagte sie, daß sie das nicht wisse. Aber in Rußland, wo es so viele derartige Fabriken gäbe, wachse wohl auch keiner. Wahrscheinlich hätte der Tabakwuchs garnichts mit solchen Unternehmungen zu tun.
Leider wurde diese wirtschaftliche Debatte nicht weitergeführt. Denn man hatte sie in der breiten Kutsche begonnen, in der man Tante Karolinens Sarg folgte.
Tante Karoline, die seit ihrem Hochzeitsstrauß keine Blume mehr erhalten hatte, denn von da an hatte man ihr lieber Praktisches gebracht, fuhr unter einer Last von frischen Sommerblumen ihren letzten, staubigen Weg.
Nicht nur, weil Rosen jetzt so billig waren. Die Verwandten hatten der Dame aus dem Auslande zeigen wollen, daß man auch in Berlin nicht darbte . . .
Als die Familie Spreemann von dieser kummervollen und glühend heißen Landtur heimkehrte und die von Staub und Tränen gebeizten Äugen zu kühlen versuchte, meldete das Mädchen, daß der Herr von oben heruntergestiegen sei und wartend in der guten Stube sitze.
Die Gedanken der Familie waren noch weltabgewandt. Weilten noch bei Predigt und Grab. Daher zuckte man bei dieser Nachricht beunruhigt zusammen.
Erst nach einiger Überlegung sagte man sich, daß der Herr von oben nichts Unnatürliches sein könne, sondern daß es sich um den neuen Nachbarn handeln müsse.
Daß man Besuche abschlagen könne, die schon in der guten Stube sitzen, wußten Spreemanns nicht. In den ganz feinen Manieren waren sie noch ungeübt.
So trockneten sie die feuchten Augen so gut es gehn wollte und begaben sich alle vier nach der guten Stube. Allen voran der Hausherr.
Aus dem bequemen Armstuhl erhob sich ein großer, breiter Herr mit schwarzgewichstem, langem Schnurrbart. Er stellte sich vor als Josef Slovitzka, Schuhwaren en gros. Neben ihm machte ein junges Mädchen, das kein Kind mehr war, aber auch noch keine junge Dame, einen zierlichen Knix nach dem andern vor Herrn und Madame Spreemann.
»Mein Töchterchen Ilka,« sagte Herr Slovitzka.
Spreemann erklärte nun auch die Seinen, indem er ihre Namen aufrief und dabei mit dem Zeigefinger auf die Betreffenden zeigte.
Nach mancher Verbeugung und vielem Händeschütteln saß man sich endlich gegenüber.
Herr Slovitzka sagte, wenn man miteinander das gleiche Dach teile, müßte man sich auch kennen lernen und Freundschaft halten.
Herr Spreemann erwiderte, daß das schon seine Richtigkeit habe, nur müsse der Herr entschuldigen, wenn er heute sehr störe, weil sie gerade von einem Begräbnis zurückkämen und recht traurig gestimmt wären.
Herr Slovitzka verbeugte sich mit seinem Sessel und sagte, daß ihm dies außerordentlich leid täte. Aber dieses peinliche Zusammentreffen sei der beste Beweis für die Notwendigkeit seines Hierseins. Da wohne man unter demselben Dache, ohne derartiges voneinander zu wissen.
Dann fragte er, wie alt der Herr Onkel gewesen wäre.
Spreemann sagte, daß es sich in diesem Falle um eine Tante handle und daß sie siebzig Jahre gewesen.
»Nun, sehen Sie,« sagte Josef Slovitzka zufrieden. Wie wenn er zu einem kulanten Geschäftsabschluß gratulierte. »Das ist ja ein hohes Alter. Was will man mehr.«
Dann sagte er, daß, wenn die Toten begraben wären, der Trost ins Herz kehre. Er spräche aus Erfahrung. Denn er hatte seine geliebte Gattin verloren, als Ilka, sein Kind, kaum ein Jahr alt gewesen.
Alle sahen auf Ilka. Sie lächelte und begann an dem buschigen Ende ihres dicken, schwarzen Zopfes zu kauen, das eine große Seidenschleife schmückte.
Herr Slovitzka erzählte weiter. Er teilte mit, daß er aus Böhmen sei und nach Berlin gekommen wäre, weil man ihm sagte, daß das Geld hier auf der Straße läge. Auf der Straße hätte er's allerdings nicht gefunden. Aber immerhin . . .
Herr Slovitzka machte eine Pause und zog seine bunte Weste stramm, über die sich eine breite, goldene Uhrkette zog, an der neben Ilkas ersten Zähnen ein goldener Stiefel und eine große Korallenhand hingen.
Madame Lieschen zermarterte sich den Kopf, um etwas herauszufinden, was zur Unterhaltung beitragen half. Aber sie konnte immer nur denken, daß es Sonntag wäre, wie immer, daß man guten, starken Kaffee trinken werde, aber daß Tante Karoline bei diesem schönen Sommerwetter unter der Erde lag.
Und so störte sie das nette Beisammensein immer aufs neue durch ruckweises Schluchzen.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie sagte, wenn Herr Slovitzka ohne Gemahlin sei, hätte er gewiß eine Wirtschafterin. Und sie fragte, ob er zufrieden mit ihr wäre.
Guter Wille hilft oft weiter als alle Weisheit.
Madame Lieschen hätte ihrem Nachbar keine angenehmere Frage stellen können als diese.
Er lachte dröhnend auf, bat aber sofort darauf um Entschuldigung, daß er die Trauerstimmung gestört habe. Aber die verehrte Madame Spreemann hatte mit ihrer Frage seinen kitzligsten Punkt berührt. Er hatte Wirtschafterinnen gehabt, so viel, wie Ilka Jahre zählte. Ohne abergläubisch zu sein wäre er nun bei der Zahl dreizehn angelangt. Wenn ihm die Herrschaften ihren Gegenbesuch machen würden, worauf er bald rechnete, sollten sie sie alle zu sehen bekommen. Er habe sie alle aufgehängt. Bis auf die letzte natürlich, die einstweilen noch in Küche und Haushalt waltete.
Als er sah, daß Madame Lieschen erschreckt zusammenfuhr, lächelte er wieder schallend laut und erklärte zu aller Beruhigung, daß er sie leider nicht lebendig aufgehängt hätte. Sein Musterzeichner hatte ihm von jeder, die ihn verließ, ein getreues Konterfei anfertigen müssen, das nach ihrem Fortgang die Wand zu schmücken hatte. Wenn er schlecht gelaunt sei, brauche er sich nur zwischen diese Bilder zu setzen. Das Gefühl, alle diese Weibspersonen wieder los zu sein, stimme ihn sofort unbändig heiter.
»Was es alles gibt,« sagte Spreemann.
Herr Slovitzka fragte, ob Herr Spreemann so jung gefreit habe, daß er in dieser Beziehung ganz ohne Erfahrung sei.
Herr Spreemann sagte, daß er schon ein Vierziger gewesen, als er es mit der Ehe probierte.
Darüber war Herr Slovitzka sehr erfreut.
Er meinte, da würden sie manche gemeinsame Erinnerung miteinander auszutauschen haben.
Schwer und richtig begann er sich nun über sein Pech mit den Wirtschaftsmamsellen auszubreiten, das er mit vielen Beispielen zu erläutern suchte.
Madame Lieschen pochte mit ihrem Schuh heimlich an Spreemanns Füße, daß er nur nicht verrate, daß auch sie einmal solche Mamsell gewesen.
Aber Spreemann hatte sein verschwiegenes Geschäftslächeln auf dem tränenrauhen Gesicht und klopfte beruhigend zurück.
Die junge Ilka sprach garnichts. Sie lächelte nur zu dem schwarzen Hans und dem blonden Christian hinüber, deren verweinte Gesichter schon rot wie Liebesäpfel waren.
»Und alle wollen sie geheiratet sein. In jedem Bouillonauge schwimmt ein heimlicher Trauring,« rief Herr Slovitzka jetzt und wollte vor Lachen über seinen gelungenen Vergleich platzen. Alle Erinnerung an die Trauerstimmung war ihm abhanden gekommen.
Lieschen tippte wieder warnend an Spreemanns Füße. Nur nichts verraten.
Wer selbst erzählt, amüsiert sich stets am besten in der Gesellschaft!
Aber Herr Slovitzka war gewohnt, den Leuten aufs Schuhwerk zu sehen. So mußte ihm schließlich Madame Lieschens Gebaren doch auffallen.
Er riß erstaunt die Augen auf. Für Verliebtheit konnte er es bei der Ehrbarkeit und auch bei den Jahren seiner Wirte nicht nehmen. Spott konnte es auch nicht sein. Denn sie sahen ganz ernsthaft aus. Jedenfalls war es ein sonderbares Benehmen für Leute, die eben von einer Beerdigung kamen.
Aber alles wissen zu wollen macht Kopfschmerzen. Er hatte sich immerhin ganz nett unterhalten. So stand er denn auf, auch Ilka sprang vom Stuhl, und unter der Versicherung vieler guter Sachen versprach man sich ein baldiges Wiedersehen und schied.
Die Gedanken der Familie Spreemann konnten wieder zu Tante Karoline zurückkehren, und das Mädchen durfte endlich die kühle Kirschsuppe mit den kleinen Zuckermakronen auf den Tisch setzen.
Man löffelte. Durch die Spalten der grünen Jalousie surrte der warme Sommersonntag. Man fühlte sich behaglich, obwohl man es wirklich nicht wollte und sich ehrlich mühte, an Tante Karoline zudenken.
Aber man hatte noch die laute Stimme des neuen Nachbars im Ohr.
»Das Töchterchen hat eigentlich garnichts gesprochen,« sagte Spreemann und schlürfte den süffigen Kirschsaft vom Löffel.
»Das scheint mir auch so,« bestätigte Madame Lieschen. »Sie ist aber reizend,« sagten da Hans und Christian ganz zu gleicher Zeit, wie ein gut geübter Kirchenchor. Darauf entstand eine Pause. So daß die Worte sich noch lange über dem Tisch drehten und die mit Wiegenpuscheln beschützte Lampe umsummten.
Oben aber saß Ilka auf dem Küchentisch neben der noch nicht gehängten Mamsell.
Sie machte mit spitzen Fingern rote Beeren aus einer vollen Obstschüssel und sagte:
»Der Blonde bei Spreemanns ist süß, Mamsellchen.«