Kitabı oku: «Elijas Lied»
Über dieses Buch
Elija ist die älteste der Schwestern, ihre Augen, von einer großen Lidfalte beschützt, blicken auf das Schöne in der Welt. Sie liebt das Theater, wenn sie die Hagar spielt, die in die Wüste geschickt wird, allein mit einem Kind im Bauch. Auf der Bühne kann Elija Mutter sein, in echt kann sie das nicht. Noa jobbt in einer Kantine. Jeden Tag hofft sie auf Akim, der hoch oben in dem Glasturm mit Elbblick arbeitet. Sie können über vieles sprechen, die Exmatrikulation, ihre Ostasienreisen, nur nicht darüber, wohin sie geht, wenn ihre Schicht in der Kantine vorbei ist. Loth, die Jüngste, ist schön wie eine Statue. Und sie ist wütend. Bei Demos wird sie als Nazi beschimpft, sie selbst hält die Linken für Meinungsfaschisten. Sie ist in die patriotische Hausgemeinschaft in Halle gezogen, um zu kämpfen. Die Wanderung war Loths Idee. Die Idee, noch einmal Schwestern zu sein. Das Moor zu durchqueren und auf dem Berg das Lied zu singen, das ihr Vater für sie gedichtet hat. Doch wie die Schwestern ist auch das Moor nicht mehr dasselbe. Einen Tag verbringen sie zusammen, allein mit sich und den Erinnerungen, die selbst das Moor nicht schlucken kann, mit all dem Morast und Torf, und es gibt nichts, was Halt verspricht.
Amanda Lasker-Berlin beherrscht die Kunst der Verdichtung, das Spurenlegen, das Erzeugen von stärker werdenden Schwingungen bis hin zum Paukenschlag. Ihre fließende, konzentrierte Sprache, ihr Vertrauen auf die Kraft ihrer Figuren sowie die Empathie und Unaufgeregtheit, mit der sie brisante gesellschaftliche Themen mit individuellen Schicksalen engführt, zeugen von dem großen Talent der Debütautorin.
für Katze, für Juli
Inhalt
Von acht bis elf
Acht
Acht. Dreizehn
Acht. Zwanzig
Acht. Sechsundzwanzig
Acht. Dreißig
Acht. Einundvierzig
Acht. Vierundvierzig
Neun. Zehn
Neun. Vierundzwanzig
Neun. Achtundvierzig
Zehn. Sechsundzwanzig
Zehn. Achtunddreißig
Zehn. Sechsundvierzig
Von elf bis vierzehn
Elf. Sechzehn
Elf. Achtunddreißig
Zwölf. Sieben
Zwölf. Vierzig
Zwölf. Vierundvierzig
Dreizehn. Zwei
Dreizehn. Siebzehn
Dreizehn. Achtundvierzig
Von vierzehn bis siebzehn
Vierzehn. Eins
Vierzehn. Einundzwanzig
Vierzehn. Zweiunddreißig
Fünfzehn. Eins
Fünfzehn. Vierundzwanzig
Fünfzehn. Vierundvierzig
Sechzehn
Sechzehn. Zweiundzwanzig
Sechzehn. Einundfünfzig
Von siebzehn bis zwanzig
Siebzehn. Zwei
Siebzehn. Achtundvierzig
Siebzehn. Achtundfünfzig
Achtzehn. Elf
Achtzehn. Fünfzehn
Achtzehn. Einundzwanzig
Achtzehn. Fünfunddreißig
Neunzehn
Neunzehn. Vier
Neunzehn. Dreißig
Neunzehn. Vierundvierzig
Neunzehn. Fünfundfünfzig
Von zwanzig bis null
Zwanzig. Zwölf
Zwanzig. Siebzehn
Zwanzig. Vierundzwanzig
Zwanzig. Einunddreißig
Einundzwanzig
Einundzwanzig. Zehn
Einundzwanzig. Vierzehn
Zweiundzwanzig. Zwei
Zweiundzwanzig. Achtzehn
Zweiundzwanzig. Vierzig
Dreiundzwanzig. Neun
Dreiundzwanzig. Vierzehn
Dreiundzwanzig. Achtzehn
Dreiundzwanzig. Vierzig
Von null und weiter
Null
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VON ACHT BIS ELF
Acht
Die Sonne sticht in Noas Auge. Sie blinzelt. Bleibt eine kleine Weile blind. Noa lauscht dem Bach. Er schlängelt sich durch das Moor, teilt es in zwei Hälften. Zwischen Wasser und Noa wuchern halbhohe Gräser, sie wiegen sich minimal. Die umstehenden Bäume beschützen sie vor dem Wind. In den Kronen rascheln tiefgrüne Nadeln. An ihnen kommt die Sonne nur schwer vorbei. Mehrfach gebrochen, landen helle Strahlen auf dem sumpfigen Grund, zeichnen Muster auf die herausstehenden Wurzeln, flimmern über die Holzplanken, auf denen Noa hockt.
Endlich das Licht, denkt Noa. Nächte sind ihr zu dunkel.
Ein Sonnenstrahl bricht sich im Wasser, hüpft an ihrem Auge vorbei, landet auf ihrer Stirn. Sie mag es, Sonne auf der Haut zu spüren. Mehr noch, als die Haut eines anderen zu streicheln.
Fast ohne jede Welle zieht der Bach an ihr vorbei. Noa lehnt sich vor. Ihr Spiegelbild taucht im schnellen Wasserlauf auf. Verschwommen, unklar. Die Gesichtsform zitternd, die Augen milchige Flecken, die Nase wegen der schwachen Kontraste nicht auszumachen. Irgendwo die Ohren. Nur die roten Haare strahlen ihr deutlich entgegen. Die sind chemisch gefärbt. Noa schiebt sich ein Stück weiter vor. Schaut genauer hin. Das Spiegelgesicht wird größer. Noa dreht sich um. Vielleicht steht jemand hinter ihr, der so verschwommen aussieht. Vielleicht Elija oder Loth.
Jetzt blickt Noa konzentriert auf ihr Bild im Wasser. Die Iris setzt sich nicht vom Augapfelweiß ab, die Pupillen sind ein übersehbarer Fleck. Wimpern erkennt sie nicht.
Mit dem kleinen Finger streichelt sie ihr Auge. Kurze borstige Haare sprießen aus dem Lid. Die Haut ist dort warm. Noa wärmt sich die Finger auf, dann taucht sie sie in den Bach.
Das Wasser weiß noch nichts vom Sommer. Das Wasser denkt noch: Schneeschmelze.
In den Fingerkuppen ziehen sich die Gefäße zusammen, das Blut kehrt um. Fließt bis in die Handwurzel. Die Finger werden weiß.
Sanft führt Noa sie gegen die Strömung. Das Wasser schnellt durch den Spalt zwischen Daumen und Zeigefinger, lässt sich nicht stauen.
Noa schaut in den Himmel. Kleine Wolken, spitze Kronen und das Versprechen auf Hitze. Die Vögel singen nicht mehr. Dafür ist es zu spät am Tag.
Während Noa den Kopf in den Nacken legt, treibt der Bach das Wasser tiefer ins Moor.
Noa nimmt den Kopf aus den Wolken, schaut auf die fröstelnde Hand im Bach. An den Kuppen ist sie blau geworden. Schnell zieht Noa sie heraus, streift sie an der Hose ab. Dann steht sie auf. Ihr Spiegelbild versackt im Moor. Nur das Rot der Haare nicht. Das ist chemisch gefärbt.
Acht. Dreizehn
Loth kniet vor Elija. Das Licht blendet sie. Warum muss es am Morgen schon so hell sein? Vielleicht hätten sie früher aufstehen sollen. Loth konnte sowieso nicht schlafen. Loths Finger sind kalt. Elijas rechter Schnürsenkel hundertfach verknotet. Dass man so ein riesiges Knäuel aus nur zwei Schnüren zusammenwurschteln kann, wusste Loth vorher nicht.
Warum hast du das gemacht, murmelt sie.
Elija schluchzt leise. Ohne Tränen. Zum Richtigweinen ist sie noch zu müde. Vor neun steht sie normalerweise nicht auf. Loth und Noa haben sie gezwungen.
Ihr ist schummrig vor Augen. Der Tag beginnt zu plötzlich. Frühstück in der Herbergsküche. Zu starker Käse, zu rustikale Wurst. Zuckerreduzierte Marmelade. So was isst Elija nicht. Trockenes Brot macht ihr schlechte Laune. Kein Kakao, nur Kräutertee, und der schmeckt nach Krankenhaus.
Elija lehnt sich an der Bushaltestelle an. Bei der Fahrt ist ihr schlecht geworden. Sie hat sich nicht übergeben. Wenn sie keine Tüten dabei hat, übergibt sie sich nicht.
Ihr ist das nur einmal passiert. Vor Jahren. Elija sieht sich dastehen, im Bus. So wie jetzt kurz vor dem Moor. Die Hände an die Stange gepresst, die Lippen aufeinander. Flaches Atmen durch die Nase. Die Schule nicht mehr weit entfernt. Überall Winter und überall stinkende Anoraks in der föhnigen Heizungsluft. Und da passiert es einfach. Nach einer scharfen Kurve, wenige Minuten vor dem Kunstunterricht. Der gelbe Anorak wird braun und noch stinkender. Alle denken: Ah, diese behinderten Kinder kotzen überall hin. Wir kotzen ja nicht überall hin. Wir haben gute Gene und kotzen nur, wenn wir betrunken sind. Aber dann ist es dunkel und cool, und jetzt ist es hell und peinlich. Können behinderte Kinder überhaupt Tageszeiten auseinanderhalten?
An der nächsten Station steigt Elija aus, heult in ihr Handy, bis sie abgeholt wird.
Die feste Glasscheibe stärkt Elija den Rücken. Sie hört, wie Loth unter ihr flucht.
Der Knoten lässt sich nicht öffnen. Egal, wie fest Loth zieht, wie fein sie friemelt. Wie lange sie vor jedem Griff überlegt.
Das geht nicht, sagt Loth und schaut zu Elija auf. Dabei ziehen sich in ihre Stirn tiefe Falten. Loth sieht alt aus, wenn sie wütend ist, findet Elija. Und Loth ist fast immer wütend.
Versuch noch mal, bittet Elija.
Der Schuh sitzt nicht fest am Fuß. So wird sie Blasen bekommen. Die neuen Wanderschuhe sind kaum eine Woche alt. Vor der Reise hat Elija sie jeden Tag getragen. Auch in der Wohnung. Nur zum Tanzen und Schlafen hat sie sie ausgezogen. Trotzdem ist das Leder rau. Jetzt ist es zu spät. Jetzt geht die Wanderung los.
Elija beißt sich auf die Lippen, nimmt sich vor, nicht quengelig zu sein. Den ganzen Tag nicht.
Loth richtet sich auf. Sie überragt Elija um einiges. Elija mag nicht, dass sie immer nur Loths kleine Brüste sieht, wenn sie geradeaus blickt. Den Kopf in den Nacken legen, um Loths Gesicht zu sehen, will sie nicht. Und Loth hat keine Lust runterzuschauen.
Das ständige Runterschauen macht mich depressiv, denkt sie.
Elija guckt auf die Brüste und Loth auf die Scheibe der Bushaltestelle. Loth spiegelt sich. Ihre Haare sind noch feucht, wirken fettig, findet sie. Und das ist nicht gut. Auch nicht, wenn man ins Moor geht und den ganzen Tag nur Gräser und Sumpf zu sehen bekommt.
Was ist mit dem Schuh?
Was soll damit sein? Du hast diesen Knoten da reingemacht, und ich kriege ihn da nicht raus.
Bitte hilf.
Elija reißt die Augen weit auf. Bei Noa kommt sie damit immer durch. Aber Loth ignoriert Elijas Augen. Sie sind klein, werden von einer großen Lidfalte beschützt.
Loth sieht nur ihre Schultern, ihren Hals, ihr spitzes Kinn in der Scheibe.
Loth ist klapprig. Ihr Schlüsselbein steht hervor. Ihre Pulsader pocht blau in den Wald hinein. Unter ihren Wangenknochen fällt die Haut nach innen.
Früher hat Elija gedacht, Loths Wangenhaut würde vielleicht an den Zähnen festkleben. Jetzt weiß sie, dass Loth einfach nichts isst. Außer Bratwürste auf dem Weihnachtsmarkt. Und Käsehäppchen und Mettigel auf Partys.
Komm jetzt, wir gehen zu Noa. Die wartet schon.
Mein Schuh!
Da bist du selbst schuld dran. Komm jetzt. Vielleicht kriegt Noa das hin.
Loth dreht sich um. Blickt zu der Stelle, an der Noa vor wenigen Minuten auf den Moorwanderweg eingebogen ist. Ein Bogen aus Baumstämmen und ein Holzschild, das davor warnt, die Wege zu verlassen. Loth schaut hoch. Wenigstens sind einige Wolken am Himmel. Sie nimmt ihren Rucksack, setzt ihn auf. Von dem Gewicht biegen sich die Schultern nach vorn, schießt der Kopf in den Nacken. Loth läuft los. Unter dem Baumstammbogen zieht sie die Wanderkarte aus der Hosentasche, überprüft, ob sie sie so gefaltet hat, dass sie den ganzen Wegverlauf im Blick hat. Dann stellt sie sich auf die Planken. Sie lauscht. Wundert sich, dass sie Elija nicht heulen hört. Sie geht weiter, sieht Noa vor einem Bach hocken.
Elija setzt sich auf den Boden. So will sie nicht loswandern. Nicht mit Loth und nicht mit Noa. Kurz betrachtet sie den Schuh, guckt dann lieber schnell weg. Sie hat jetzt schon Durst, sie hat jetzt schon Hunger. Auf Kaiserschmarrn und Kirschsaft.
Vielleicht bleibe ich einfach hier, schreit sie in sich hinein, schlägt den Hinterkopf an die Scheibe. Ihr schwindelt es heftiger. Sie schlägt nochmals. Dann hört es auf, und sie sieht klar.
Die Bäume verstellen den Horizont. Ob hinter dem Moor wirklich der Berg mit den toten Stämmen kommt?
Elija legt beide Hände um den Knoten. Ihre Finger sind grob. Sie ist nicht so geschickt. Alle sagen ihr immer, das sei nicht so schlimm. Denn Elija hat Kraft. Sie zerrt an dem Knoten. Die Schnürsenkel ziehen sich zusammen, spannen das Innenfutter um den Fuß. Elija macht einen weiteren Knoten. Ganz nah an der Zunge. Der Schuh sitzt fest. Sie steht auf. Zum Glück hat sie ohne Tränen geweint. Sonst müsste sie jetzt ihr Gesicht abwischen.
Acht. Zwanzig
Noa stellt sich hin. Loth schlurft auf sie zu. Dahinter hüpft Elija. Loth zieht beim Laufen eine Zigarette aus ihrer Hosentasche, riecht daran. Noa mag, wie Loths Gesicht entspannter wird, wenn sie sich Tabak vor die Nase hält. Sie sieht anders aus als auf den Fotos, die sie ins Netz stellt. Die Bilder, die mehreren tausend Menschen gefallen. Bilder, auf denen Loth adrett gekleidet ist, die Haare streng frisiert, die Haut glattgeschminkt. Mit angespanntem Körper und eingemeißeltem Lächeln dasitzt und gefällt. An der man nicht vorbeischauen kann. Das Gesicht ist so schön. Fast unwirklich. Wie eine Statue, die die Blicke auf der glatten Oberfläche fängt. Eine Statue, die sagt: Ich bin lebendig. Aber wenn man sie berührt, ist sie doch nur kalter Stein.
Dieses ruhige Gesicht hat Noa an Loth lange nicht mehr gesehen. Das letzte Mal vielleicht als Jugendliche.
Als sie an den späten Abenden durch den Stadtteil streifen. Ohne Elija, nur die beiden. Ohne sich erklären zu müssen und ohne auf den Weg zu achten. In der Heimatstadt können sie laufen und laufen und kommen immer wieder an derselben Stelle an. Sie bleiben nur stehen, um mit Steinchen die letzten intakten Laternen zu zerschießen. In vollkommener Dunkelheit schleichen sie weiter. Verlaufen ist unmöglich. Loth und Noa haben Katzenaugen. Sie kommen an verlassenen Häusern vorbei, in denen die modrigen Gardinen aussehen wie suizidale Gespenster. An der geschlossenen Bäckerei entlang, direkt in den dünnen Streifen Wald. Kahle Baumkronen, und weit darüber ausgefranste Sterne. Dann und wann zielt Loth mit Eicheln auf sie. Unter den jungen Neubaugebietsbäumchen holt sie die Zigarette aus der Tasche, hält sie vor Noas Gesicht und lässt sie von den Sternen segnen. Ihr Feuerzeug leuchtet auf, und Loth räuchert sich die schlechte Laune aus dem Körper. Reicht die Zigarette weiter an Noa, die einmal zögerlich zieht.
Jetzt schiebt Loth die Zigarette behutsam zurück in ihre Hosentasche. Sie raucht nicht im Wald. Nicht im Sommer.
Noa bemerkt, dass ihre Hose beim Hocken nass geworden ist. Die Knie sind kühl. Sie schaut noch einmal in den Bach. Dunkles Laub, wenige glattgewaschene Steine überspült von dem klaren Wasser.
Elija fällt ihr um den Hals.
Habe meinen Schuh repariert!, quietscht sie. Elijas Körper ist warm. Wärmer als jeder andere Körper, den Noa je gefühlt hat. Elija ist weich. An jeder Stelle, und egal, wo man sie berührt, spürt man ihren zittrigen Tonus. Elija hält nie still. Ihr Atmen sammelt sich in Noas Ohr. Das klingt wie Thermalbadrauschen.
Du hast deinen Schuh repariert?, wiederholt Noa überdeutlich.
Hast du es jetzt doch hinbekommen?, fragt Loth und schaut skeptisch auf den Schuh.
Guck, guck, macht Elija, streckt das Bein aus und hält den Schuh in die Höhe.
Was ist das denn für ein Knoten?, lacht Noa bewundernd.
Elija-Knoten! Elija klatscht begeistert in die Hände. Loth verdreht die Augen.
Sie schaut über das Moor. Morgennebelschwaden hängen darüber. Schlucken die Bäume im Hintergrund. Der Bach glänzt. Loth holt ihre Sonnenbrille aus dem Rucksack und setzt sie auf. Mit der Brille sieht sie aus wie ein Insekt. Deshalb hat sie sie ausgesucht. Große Facettenaugen, denen nichts entgeht. Augen, aus denen sie herausschauen, in die aber niemand hineinblicken kann.
Jetzt geht’s los!, jubelt Elija und springt hoch. Bei der Landung wackeln die Planken. Noa und Loth strecken die Arme aus, um in Balance zu bleiben.
Dann immer geradeaus. Was anderes bleibt uns auch nicht übrig, denkt Noa und schaut auf das Wegstück vor sich.
Acht. Sechsundzwanzig
Loth hält Abstand zu den Schwestern. Elija läuft voran. Sie ist immer die Langsamste. Kann mit ihren kurzen Beinen und dem schweren Körper nicht so schnell. Ihr Rucksack ist der kleinste. Noa hat Elijas Wasser mit in ihren genommen. Loth trägt die Brote.
Loth mag es nicht, langsam zu sein. Sie ist immer schnell. Nur wenn sie mit Elija zusammen ist, muss sie Rücksicht nehmen. Vom langsamen Gehen tun ihr schnell die Knie weh. Wach werden kann sie so auch nicht. Sie schaut auf die Gräser, die neben den Planken wachsen. Hellgrün. Eigentlich findet sie die Natur eh langweilig. Deswegen ist sie nach Halle gezogen. Von der patriotischen Hausgemeinschaft mit frischen Eiern und Ziegenmilch auf dem Land in die patriotische Hausgemeinschaft mit Barraum und regelmäßigem Kinoprogramm. In Halle gibt es kein Hellgrün. Zumindest nicht so viel wie auf dem platten Land. In Halle gibt es nicht nur einen Streifen Hellgrün auf dem Boden, einen Streifen Dunkelgrün in der Mitte und einen Streifen Grau am Himmel. Da gibt es mehr als den Nebel am Morgen und einen dicken Baum auf dem Feld. Mehr als die Umrisse einer Kohlekraftanlage am Horizont. Auf dem Land ist Loth jeden Morgen joggen gegangen. Einmal bis zum Rauschen der Autobahn und wieder zurück. In Halle kann sie das nicht mehr machen. Obwohl sie gerne würde. Aber in den Parks ist es zu gefährlich geworden, findet sie und wundert sich, wenn junge Frauen da alleine durchspazieren. Morgens, mittags und abends. Denen kann sie auch nicht helfen, denkt sie dann.
In Halle sitzt Loth jeden Morgen auf der tiefen Fensterbank. Der erste Kaffee dampft neben ihr. Die Mitbewohner sitzen beim Frühstück in der Küche, bei Haferschleim und Wachwerden. Loth braucht morgens Ruhe, inhaliert Sauerstoff. Ihr Fenster ist geöffnet. Würde sie jemand erschrecken, sie könnte hinausfallen. Auf die Straße knallen und verbluten, ohne es bewusst zu erleben. Durch das Fenster dringen die ersten Stadtgeräusche. Keuchende Autos, Busse, die schniefend die Luft aus den Reifen lassen. Absatzschuhe schlagen auf Kopfsteinpflaster. Hinter der Hochhackigen läuft eine Frau mit verfilzten Haaren. Sie sieht aus wie eine Ureinwohnerin, wie jemand, der sich nicht wäscht, wie Pack eben, findet Loth. Sie schnappt sich die Tasse und schaut lieber dort hinein. Im dunklen Kaffee spiegelt sich ihr Gesicht. Morgens ist sie hübsch.
Die Ureinwohnerin verschwindet in Richtung Universität. Loth überlegt, ob sie sie schon kennt. Von den Protesten vor der Hausgemeinschaft. Grölende Menschen, die Loth und die anderen als Faschisten, als Mörder und was nicht noch alles beschimpfen. Die Krach machen. Worauf die aus der Gemeinschaft noch mehr Krach machen. Die gelben Fahnen hissen, mit dem schwarzen Symbol, und Parolen rufen. Auf Latein. An solchen Tagen wirbelt Loth durchs ganze Haus, vlogt aus dem Gemeinschaftsraum heraus, postet wild in die Welt. Im Haus gibt es nur morgens Stille. Und dann, wenn die Linken zu beschäftigt sind, die Gemeinschaft zu stören.
Der Bus hält wenige Meter von der Haustür entfernt. An der Haltestelle haben sich schon Leute versammelt. Alte, die nichts mehr mitkriegen. Junge, die nichts mehr mitkriegen wollen, und Mittelalte, die hier nichts zu suchen haben.
Überall Studierende, aggressive Meinungsfaschisten, findet Loth. Alle gleichgeschaltet und verstrahlt. In lumpiger Kleidung oder in durchschnittlichen Jeans mit Rucksäcken und Beuteln streunen sie die Straße entlang, vergeuden ihren Tag in dunklen Hörsälen und jammern über zu viele Hausarbeiten. Loth will nicht mehr studieren. Schon seit Jahren nicht. Loth will sich die Fußnägel lackieren.
Sie schaut auf ihre Füße, der dunkle Nagellack ist abgeblättert. Sie lehnt sich zur Kommode und zieht ihre Nagelutensilien heraus. Schwarzer Lack mit ein wenig Glitzer. Sie schüttelt ihn, er glänzt im Tageslicht. Sie kneift die Augen zusammen, schaut noch einmal raus. Jemand pfeift unter ihr ein Lied. Der Kamerad Ben geht zur Arbeit. Er dreht sich zum Haus, sieht sie auf der Fensterbank und winkt. Sie winkt zurück, öffnet das Fläschchen Nagellack und streicht mit dem getränkten Pinsel über den großen Zeh. Unter der frischen Farbe zeichnen sich die Farbreste ab. Loth stört das nicht, sie malt weiter, hält den fertigen Fuß aus dem Fenster. In der Sommerluft trocknet der Lack schnell. Sie trinkt den ersten Schluck Kaffee. Er ist lauwarm, im Mund fast kalt. Er schmeckt bitter. Macht noch nicht wach. Dafür bräuchte sie Wind um sich herum und aufgewärmte Muskeln. Sie bleibt sitzen, schaut auf das Kopfsteinpflaster unter ihr. Es sieht verdammt hart aus.
Loth holt Noa ein. Sie laufen hintereinander. Aus Versehen tritt Loth in Noas Ferse. Noa humpelt zwei Schritte lang, ignoriert es. Da tritt Loth noch mal zu. Noa tut so, als hätte sie es nicht bemerkt.
Kurz bleibt Loth stehen, damit Elija und Noa ein paar Meter Vorsprung bekommen. Sie schaut auf das sanfte Grün. In ihrer Erinnerung ist das Moor anders. Sumpfiger, dunkler. Nicht eine nette helle Wiese mit Wasserlöchern darin. Da ist mehr Einsinkgefahr und sind auch mehr Tiere und alles ist nicht so verlassen. Da ist es Herbst und regnerisch und Loth spürt was von der Natur. Nicht nur Sommerlüftchen und Gräser in der Hand.
Die Wanderung zum Berg im Moor zu beginnen war Loths Idee. Und die Schwestern hatten nichts dagegen. Noa zumindest nicht. Elija darf nicht mitbestimmen. Elija kann sich auch gar nicht an die erste Wanderung durch das Moor erinnern, glaubt Loth. Was weiß sie noch von Herbstferien, dem Geruch nach zu süßem Apfelkuchen, Spazieren zum Berg, Kassettenhören in der Ferienwohnung und den schnarchenden Eltern? Von dem zugezogenen Himmel, durch den nur manchmal stechendes Licht fällt, und den Gruselgeschichten, die Noa erzählt.
Lange her, denkt Loth, zupft den weißen Flaum von einem Wollgrashalm. Spürt es in der Hand. Es fühlt sich nicht so schmeichelnd auf der Haut an, wie sie gedacht hätte. Durch die Berührung zerfällt es in seine Einzelteile. Sie schließt die Hand fest, zerdrückt die Fasern, zermahlt sie. Dann lässt sie weißes Pulver auf das Hellgrün rieseln. Das Weiß geht im Grün unter. Loth ist unzufrieden.
Acht. Dreißig
Elija bleibt stehen. Sie hat es gesehen. Oder doch nicht? Sie späht in die Ferne. Da ist es. Da oben, links, an dem dicken Ast. Da sitzt es. Leise. Alle sollen leise sein. Noa bleibt stehen, Loth überholt die beiden. Beginnt zu pfeifen. Loth soll still sein. Das Pfeifen klingt nicht schön, nicht harmonisch, findet Elija. Loth pfeift abgehackt und mit wenig Gefühl.
Elija will das Fernglas aus dem Rucksack holen. Macht das zu viele Geräusche? Der Reißverschluss, das Wühlen. Dann würde es wegspringen, oder nicht? Es ist noch da. Es reckt den Kopf in die Höhe. Bewegt ihn zackig. Es kann sich nicht fließend bewegen. Elija findet das schön. Alle müssen ruhig sein, damit es da sitzen bleibt und seinen Köpfchentanz zu Ende bringt.
Elijas Atem ist laut. Rasselnd. Das hasst sie an sich. Sie kann sich nicht anpirschen, sie kann niemanden erschrecken, sie kann sich nicht verstecken. Immer dieser laute Atem, das Keuchen nach der geringsten Anstrengung. Elija findet ihren Mund zu klein. Da hat das Schweigen keinen Platz. Und die Worte kommen so schlecht an den Lippen vorbei, die wollen lieber in der Mundhöhle warten. Da ist es ganz warm.
Elija formt die Worte richtig, da ist sie sich sicher. Aber manchmal kommt ein Zahn dazwischen und schneidet sie auf oder verpasst dem Wort eine Wunde. Dann kann das Wort kaum einer verstehen. Jetzt hält Elija sich die Hand vor den Mund. Damit sie nicht aus Versehen dem Vögelchen etwas zuruft.
Auf dem Ast hüpft es ein Stück weiter. Sein weißer Bauch leuchtet zwischen den Nadeln hervor. Eine kleine rötliche Stelle unterhalb der Kehle. Die Flügel sind gräulich, etwas braun, der Schnabel still. Elija möchte, dass es ein Stückchen hüpft, dann kann sie es besser sehen. Ein bisschen mehr nach links. Sonst wird es im Schatten farblos. Elija braucht das Fernglas. Sie schaut zu Noa. Doch Noa hat die Augen geschlossen und lässt das Licht auf die Lider fallen. Noa interessiert sich nicht besonders für Vögel.
Da ist es. Oder ist es weggeflogen, als Elija nicht hingeschaut hat? Sie nimmt die Brille ab. Manchmal findet sie, dass sie dann besser sehen kann. Nicht schärfer natürlich. Sondern sehr verschwommen. Ihr fällt so das Wichtige besser auf. Es fällt ihr direkt ins Auge und ihr Gehirn stellt es dann scharf. Früher hat Elija manchmal mit Noa oder Loth darüber gesprochen. Aber die haben daraufhin nur die Augen weit aufgerissen, eine faltige Stirn gemacht und überdeutlich: Ja, wirklich. Das ist ja toll gesagt.
Elija will so was nicht mehr hören, deswegen erzählt sie das nicht mehr.
Das Vögelchen sitzt jetzt auf einem anderen Ast. Eine Etage höher. Elija wird aufgeregt. Vielleicht ist es ein Rotkehlchen.
Da ist es noch, oder nicht? Das Vögelchen. Ohne Brille schwimmt die Welt. Ohne Brille kann Elija sehen, wie die Erde sich dreht. Ohne Brille flimmert der Wald. Ohne Brille wird ihr schwindelig. Sie setzt sie wieder auf, schaut durch die Gläser. Das Vögelchen ist weg. Elija denkt an den weißen, flauschigen Bauch.
Noa stellt sich eng an Elija heran, öffnet den Reißverschluss des Rucksacks und kramt das Fernglas heraus. Sie hängt es um Elijas Hals.
Wenn es dir zu schwer wird, gibst du Bescheid, in Ordnung?, sagt sie. Elija nickt.
Acht. Einundvierzig
Obwohl sie noch nicht lange laufen, schnauft Elija laut, findet Noa. Sie überlegt, Elijas Rucksack zu nehmen und sich selbst aufzusetzen, doch dann würde Loth schimpfen oder die Augen verdrehen. Noa geht weiter.
Noa mag es, zu laufen, ohne den Hamburggeruch in der Nase zu haben.
Das salzige Wasser in der Luft. Den Gestank der Fischkadaver, an denen sie vorbeikommt. Auf dem Weg zur Arbeit. Oder wie soll sie die Kantine nennen, in der sie breiig gekochten Reis neben braungrüne Erbsen schaufelt und Guten Appetit sagt, wenn sie den Teller übergibt. Beim Laufen hört sie auf ihre Schritte. Für die Vormittagsarbeit zieht sie Absätze an, egal, ob das unpraktisch ist oder ob es die Füße müde macht. Sie mag es, morgens an den breiten Straßen entlangzulaufen, an den grauen Häusern vorbei bis zu dem Glaskasten mit Elbblick. Kein Wunder, dieser Elbblick. Das Haus ist so hoch. Man kann alles von dort sehen. Nicht nur die Elbe, sondern die ganze Stadt, glaubt Noa. Bisher war sie nie ganz oben. Noa ist hellwach auf dem Weg zur Arbeit. Es ist Sommer, da fällt das Aufstehen nicht schwer. Vor allem nicht, wenn sie Akims Sprachnachricht im Ohr hat. Seine heisere Stimme und seine Ähms. Mehr Ähms als Wörter, aber das ist schon okay für Noa. Was soll man auch sagen so früh am Morgen. Gerade wenn man, wie Akim, die halbe Nacht arbeitet oder feiert oder was auch immer macht. Noa hat nicht gefragt, keine Antwort aufgezeichnet. Im Kopf spielt sie die Nachricht immer wieder ab. Die Ähms und die Du-Noas und die Ich-habe-so-miserabel-Geschlafens. Wie er das sagt: Noa. So als wäre das ein starkes Wort, ein Wort aus Metall, an dem man sich die Zunge blutig schneidet. Eben nicht so ein Wort, das nur ein leichter Hauch ist, bei dem man sich nicht sicher ist, ob es nicht vielleicht nur ein Ausatmen war.
Akims Stimme kommt aus dem Bauch und hangelt sich dann seinen langen dünnen Hals hoch. Das macht auch seine Worte manchmal dünn, wenn sie herauskommen. Erschöpft. Nur wenn er seinen Namen ausspricht, wenn er: Hallo, hier ist Akim sagt, ist das wie ein Schlag auf den Bordstein.
Die breite Straße riecht nach Gummi. Abgefahrene Reifen. Eines Fahrrads oder eines Autos, sie weiß es nicht. Bilder eines verunglückten Radfahrers, Opfer eines illegalen Autorennens kommen in Noas Kopf. Sie sieht die Verletzten vor sich. Blut und zerborstene Knochen. Vielleicht ein gebrochenes Genick. Noa will schon hinrennen, Erste Hilfe leisten. Aber da liegt ja keiner. Da braucht ja niemand ihre Hilfe. Da ist nur der Gummigeruch.
Das Klackern ihrer Schuhe hallt von den Hauswänden wider. Am Straßenrand stehen Autos. Bei manchen ist die Fahrertür geöffnet, Handtaschen lungern auf den Beifahrersitzen herum. Die Besitzerin mit Schlüssel springt in den Wagen, startet erst den Motor und schließt dann die Tür. Der Tag ist heiß, obwohl es noch früh ist.
An der Ecke ist die kleine Billigbäckerei. Vor dem Eingang steht eine Möwe und macht Terz, weil sie nichts abbekommt. Ihren gelben Schnabel reckt sie in die Höhe, ihren Körper plustert sie auf, lärmt in das Geschäft. Noa will nicht an der Möwe vorbeigehen, schaut in die Bäckerei. Aus dem Kaffeeautomaten tropft hellbraune Brühe in Pappbecher, in der Selbstbedienungsauslage schwitzt das belegte Brot Remoulade aus. Noa hat Hunger. Die Möwe bemerkt sie, läuft auf sie zu, mit Geschrei und ausgestreckten Flügeln. Noa rudert zurück, stolpert rückwärts, findet mit ihren Absätzen keinen Halt. Ihre Knie knicken ein, der Oberkörper fällt nach vorn, erschreckt die Möwe. Sie fliegt weg, und Noa liegt auf dem Bürgersteig. Ein alter Mann schaut sie verwundert an, als sie sich aufrappelt. In ihrem Knöchel zieht es. Beim Gehen merkt sie, dass sie humpelt. Sie läuft an der Bäckerei vorbei. Heute kein Brötchen mit Ei und Remoulade und keinen Milchkaffee dazu. Alle haben ihren Sturz gesehen, alle beobachtet, wie die Möwe sie fast angefallen hätte, denkt Noa und verflucht ihre Schuhe.