Kitabı oku: «Die Schäferin von Yorkshire»
Amanda Owen
Die Schäferin von Yorkshire
AMANDA OWEN
Die Schäferin
von
Yorkshire
Mein Leben mit sieben Kindern,
900 Schafen
und einem Mann
Aus dem Englischen von
Ilka Schlüchtermann
Osburg Verlag
Titel der englischen Originalausgabe:
The Yorkshire Shepherdess
First Published 2014 by Sidgwick & Jackson,
an imprint of Pan Macmillan, a division of
Macmillan Publishers International Limited
Copyright © Amanda Owen 2014
Erste Auflage 2016
© der deutschsprachigen Ausgabe
Osburg Verlag Hamburg 2016
www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste ISBN 978-3-95510-114-5
Für meine Familie
Inhalt
Einer dieser herrlichen Sommerabende auf Ravenseat. Unsere Kinder lieben sie Ihre Kindheit unterscheidet sich so sehr von meiner
Vorwort
»Holst du für mich einen Schafbock von einem Kumpel ab? Ist ein richtig feiner Swaledale-Züchter und er leiht mir jedes Jahr einen Bock.«
Das war eine dieser typischen Bitten des Farmers, für den ich arbeitete. Er brauchte einen Bock, ein männliches Schaf für seine Herde – klar, wozu. Er half mir, den alten Anhänger hinten am Pickup festzumachen, und los ging’s, ohne gescheite Wegbeschreibung und mit der Angst im Nacken, ob Pickup und Anhänger durchhalten würden.
Das war im Oktober 1996, an einem kalten, dunklen Tag, ich folgte der Straße von Kirkby Stephen bis zur Grenze zwischen Cumbria und Yorkshire und dann ging’s rein ins Swaledale. Ich starrte in die Dunkelheit, um irgendeinen Hinweis auf die Farm zu entdecken. Solche Hinweisschilder kenne ich nur zu gut: ein einfaches Stück Holz, auf das jemand den Namen der Farm gekritzelt hat. Die Straße, eine endlose Achterbahn, schlängelte sich vor mir durch die dunklen Hügel. Allmählich kam mir der Gedanke, ich hätte die Abzweigung verpasst. War ich überhaupt schon an einer vorbeigekommen? Viel weiter konnte es doch gar nicht mehr gehen.
Da plötzlich: ein deutlich sichtbares Schild im Scheinwerferlicht, RAVENSEAT ONLY, 1 ¼ MILES. Ich bog in die schmale Straße ein, der klapprige Holzanhänger rumpelte hinter mir her, hier und da blickte ein Schaf starr in meine Scheinwerfer. Hoffentlich überfahre ich kein Schaf, ehe ich dort bin, dachte ich.
Dann, nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkam, endete die Straße. Ohne jede Vorwarnung. Ich stand vor einer Furt. Da durch? In einem tiefliegenden Pickup mit rostigen Türen? Ich paddelte mit dem Stiefel etwas durchs Wasser, es war nur knöcheltief. Der Pickup tauchte ein, und dann ging es hoch in einen schlammigen Hof, rechts das Farmhaus und direkt vor mir ein paar uralte Steinscheunen und Ställe (barns). Im Dämmerlicht einer Stalllampe konnte ich eine Kuh erkennen, die genüsslich widerkäute. Sofort sprang ein bellender Hund aus der Dunkelheit. Aus Erfahrung weiß ich, dass man sich vor Hofhunden in Acht nehmen muss, und war erleichtert, als plötzlich alles in helles Licht getaucht wurde und der Farmer in der Eingangstür stand.
»Weg da und Platz.«
Der Befehl war sicher nicht an mich gerichtet und tatsächlich, der Hund schlich zurück in die Dunkelheit.
»Immer herein Mädel, ich mach uns’n Tee.«
Kein großes Glücksgefühl überkam mich, dass ich mein Ziel endlich erreicht hatte. Kein romantischer Zauber umwehte diese schicksalhafte Begegnung. Nur Erleichterung, es geschafft zu haben. Ich freute mich jetzt auf einen Tee, doch mir graute auch schon vor der Rückfahrt.
Heute, wenn ich meine Familie, meinen Mann und unsere sieben Kinder anschaue, wird mir klar, dass diese erste Begegnung mit Ravenseat der entscheidende Wendepunkt in meinem Leben war. Diese Begegnung hat mir die beiden Dinge beschert, die ich am meisten liebe: Clive Owen, meinen Mann, und Ravenseat Farm, den wunderschönsten Ort auf der Welt.
Ich meine es wirklich so, wenn ich sage, Ravenseat ist wunderschön. Klar, es ist rau und öde hier, es ist abgeschieden, der Wind heult um die Ecken und treibt den Regen durch die Mauern ins Haus hinein. Im Winter begräbt uns der Schnee, und wenn Strom und Wasser streiken, bleibt uns nichts anderes übrig, als so zu leben wie die Farmer, die sich an diesem Ort vor vielen hundert Jahren niedergelassen haben: Dann holen wir Wasser vom Fluss und kochen über offenem Feuer. Doch es ist der beste Platz auf Erden, um Kinder zu haben und Tiere, und ich würde ihn für nichts in der Welt eintauschen. Selbst heute noch, nach so vielen Jahren, gibt es Momente, in denen ich beim Anblick dieses grandiosen Fleckens Erde tief durchatmen muss.
Nicht, dass das Leben hier in irgendeiner Weise idyllisch wäre, das kann man wirklich nicht sagen. Wir arbeiten hart, damit unsere Kinder und unsere Tiere unter schwierigen Bedingungen sicher und gesund aufwachsen können.
Für die meisten Bergfarmer hier ist dies ihre traditionelle Lebensform, in die wurden sie hineingeboren. Aber für mich? Ich bin ein Stadtkind. Eine Zugezogene, eine offcumden1. Im Gespräch mit dem Berufsberater in meiner Schule in Huddersfield standen Berufe wie »Schäferin« oder »Farmerin« gar nicht zur Debatte.
Was hat mich hierher geführt? Zu dieser höchstgelegenen, abgeschiedensten Farm im Swaledale, der nördlichsten Farm der Yorkshire Dales?
Dies ist meine Geschichte, die Geschichte meiner Familie und – in der Hauptrolle – Ravenseat selbst.
1
Eine typische Kindheit
Wenn ich meine Kindheit mit einem einzigen Wort beschreiben sollte, dann wäre dies ›typisch‹. Ich wurde in Huddersfield geboren, im September 1974, als erstes Kind von Joyce und Maurice Livingstone. Die nordenglische Stadt Huddersfield war durch die industrielle Revolution zu beträchtlicher Größe angewachsen, überall schossen neue Webereien aus dem Boden. Eine kleine Wollindustrie hat bis heute überlebt, aber wie in so vielen Städten Nordenglands ist die Blütezeit dieses Wirtschaftszweiges längst Geschichte. Gleichwohl ist Huddersfield noch immer noch ein florierender und quirliger Ort.
Es war eine schöne Zeit. Wir wohnten in einem Doppelhaus aus der Jahrhundertwende, mit einem kleinen Vorgarten, einem größeren Garten hinter dem Haus und einer geräumigen Garage, deren steile Ausfahrt direkt auf eine belebte Straße führte. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, dass ich mit meinem Dreirad nonstop diese Ausfahrt hoch- und runterfuhr. Mein Gefährt war bei hohem Tempo in Kurven aber ziemlich wackelig und instabil, sodass ich eines Tages in eine der Steinsäulen an der Toreinfahrt reinkrachte und mir vier Vorderzähne ausschlug. Zum Glück waren es nur Milchzähne und es blieb kein dauerhafter Schaden zurück. Unzählige Male raste ich in den Kirschlorbeer und einmal wurde ich von einem bösartigen Rosenbusch durchlöchert. Im Laufe der Zeit nahm ich die Abfahrt auch mit Rollerskates, Gokarts und Rollern. Oben auf einem relativ steilen Hügel zu wohnen, hatte einen großen Nachteil: Die Ausflüge auf Rädern endeten sehr oft in Stürzen und Tränen. Für ein kleines Kind schien es unendlich viele Freiräume und Spielmöglichkeiten zu geben, doch wenn ich heute nach Hause zurückkehre, scheint mir alles viel beengter als in meiner Erinnerung.
Meine erste Schule war die Stile Common Grundschule in Huddersfield, ein altes viktorianisches Gebäude, nur einen kurzen Fußweg von zu Hause entfernt. Da es eine multikulturelle Schule war, wuchs ich mit asiatischen und farbigen genauso wie mit weißen Freunden auf. Mit sieben wechselte ich zur Stile Common Junior School, mein Freundeskreis blieb aber derselbe.
Als ich sechs war, wurde meine Schwester Katie geboren, ein Ereignis, an das ich mich nur sehr unscharf erinnere. Was ich hingegen noch in sehr guter Erinnerung habe, ist der Geheimtrick, mit dem ich Katie beruhigen konnte, wenn sie quengelig war. Dann griff ich durch die Stäbe ihres Kinderbetts, klaute ihr den Schnuller aus dem Mund und flitzte hinunter in die Küche. Wenn ich mich auf den Deckel des Eimers stellte, in dem Katies Windeln zum Einweichen lagen, konnte ich den Honigtopf erreichen und den Schnuller hineintauchen. Beim Herausziehen blieb ein dicker, klebriger Honigklumpen daran kleben, und diesen Honigschnuller stopfte ich ihr dann wieder in den Mund. Meine Mutter dachte tatsächlich jedes Mal, ich hätte eine besondere, magische Gabe, um Kleinkinder zu beruhigen. Es war aber natürlich nur eine Frage der Zeit, bis der ganze Schwindel aufflog: Eines Tages gab der Deckel des Windeleimers nach, der Inhalt ergoss sich auf dem Küchenboden und der Geruch von Bleichmittel durchzog das ganze Haus.
Mein Vater war Ingenieur und arbeitete in dem renommierten Unternehmen David Brown, das Traktoren und Militärfahrzeuge produzierte. Jede freie Minute verbrachte mein Vater in unserer Garage, denn seine große Leidenschaft war das Reparieren von Motorrädern. Er hatte die Begabung und das Knowhow, alles reparieren zu können, was ihm in die Finger kam: von der Wurstmaschine aus der Fabrik bis hin zur Kühlanlage unseres Supermarktes.
In der Familie meines Vaters hatten alle jungen Leute Motorräder und dazu eine große Pokal-Sammlung von Straßen- und Geländerennen. Mein Vater hatte jede Menge Motorräder, ein paar zum Fahren und ein paar in Einzelteilen. Sein ganzer Stolz war eine Honda mit metallic-blauer Lackierung, mein Favorit hingegen war eine Norton-Straßenmaschine. Die hatte einen breiten, viereckigen Sitz, auf dem ich mich als Sozius ganz sicher fühlte. Ich klammerte mich eng an meinen Fahrer, die Arme um seine glatte, speckige Belstaff-Motorradjacke geschlungen. Mein Vater fuhr sehr vorsichtig, wenn ich dabei war – wahrscheinlich auf Anweisung meiner Mutter, die stets um meine Sicherheit besorgt war. Früher oder später musste es aber dann doch passieren: Ich war acht oder neun, als ich rückwärts von einem Geländemotorrad stürzte. Das war in Post Hill, in der Nähe von Leeds, auf unwegsamem Gelände mit Wald, Wasserläufen und Steinbrüchen, einer Strecke, auf der die Motorradfahrer ihr Können testen. Geländemaschinen sind nicht fürs Fahren zu zweit geeignet und als mein Vater damals versuchte, eine steile, steinige Steigung zu erklimmen, vergaß er wohl, dass ich hinten drauf saß, auf dem Sozius über dem Schutzblech. Erst als er die schwierige Stelle geschafft hatte, blickte er sich um und sah eine kleine Figur mit einem übergroßen Sturzhelm, weit unten, verzweifelt winken. Meine Würde war stärker verletzt als mein Körper.
Wenn man meinen Vater suchte, musste man einfach in die Garage gehen. Hätte er die Wahl gehabt, so hätte er liebend gern dort gewohnt. Für meine Mutter hatte er eine Sprechanlage installiert, damit sie ihn ins Haus rufen konnte. Katie und ich verdienten uns ein Taschengeld, indem wir die Metallspäne unter den Drehbänken und Werkzeugmaschinen zusammenfegten. Mein Vater war der Mann, den man aufsuchen musste, wenn Präzisionsarbeit gefragt war; er hatte eine unbeschreibliche Geduld und half jedem, der irgendein technisches Problem hatte. Es gab Tage, an denen man morgens beim Öffnen der Haustür einen Auspuff oder eine ölige Kurbelwelle auf der Türschwelle fand und kurz danach sah man meine Mutter wie wild die Stufe schrubben, um die Ölflecken wieder wegzukriegen. Schnell lernte ich, Pleuelstangen von Vergasern zu unterscheiden und Kolben von Kurbelwellen.
Vater hatte als Motorradmechaniker eine schillernde Kundschaft: Einmal kam eine Schar ledergekleideter Hell’s Angels auf ihren röhrenden Harleys, um diese nach ihren individuellen Wünschen frisieren zu lassen. Besonders ist mir eine auffällige, pinkhaarige junge Motorradfahrerin mit Namen Toyah in Erinnerung geblieben. Meine Mutter war nicht so begeistert von ihr wie mein Vater. Diese Toyah schenkte mir ein schwarzes, Ripped-T-Shirt, mit Löchern, und der Aufschrift THE PISTON BROKE CLUB, das ich ganz stolz trug, bis meine Mutter realisierte, was das überhaupt hieß – Kolbenbruch. Danach verschwand das Shirt ganz schnell auf einem Haufen ölverschmierter Lumpen in der Garage. Mein Vater hatte nur ein großes Problem: er war einfach zu gutmütig. Einige Kunden bezahlten ihn für seine Arbeit, andere waren weniger entgegenkommend. Sehr oft nahm er Arbeiten an, die andere Mechaniker abgelehnt hatten, er liebte solche Herausforderungen.
Meine Mutter war das genaue Gegenteil dieses ölverschmierten Tüftlers, sie war sehr elegant. Sie hatte Vater als Angestellte im Büro des Traktorunternehmens David Brown kennengelernt. Nebenberuflich verfolgte sie aber auch noch eine Karriere als Model und gewann – vor ihrer Heirat und den Kindern – bei Schönheitswettbewerben einige Preise und Titel. Es war die Zeit von Twiggy, und da Mutter sehr groß und schlank war und auch dieses knabenhafte Aussehen hatte, entsprach sie perfekt dem Modegeschmack der Zeit. Sie hatte wunderschöne Sachen zum Anziehen, von denen einige auf dem Dachboden einstaubten und andere in einer Kostümkiste landeten, darunter Ponchos, Schlaghosen und ein prächtiger Samtumhang. Diese Sammlung nutzten Katie und ich zum Verkleiden. Besonders ist mir ein Paar silberner Schaftstiefel in Erinnerung geblieben, die Mutter für ein Foto-Shooting anhatte. Diese Stiefel waren unser größter Schatz, und wir Schwestern lieferten uns heftige Kämpfe darum, wer sie tragen durfte. Ich wünschte, Mutter hätte mehr von ihren Kleidungsstücken aufbewahrt. Viele wären heute sicher sehr wertvoll und außerdem wäre es ein großer Spaß, sie noch einmal rauszukramen.
Vater und Mutter waren beide sehr groß: Vater war 2,06 m und Mutter 1,82, sodass es kein Wunder ist, dass Katie und ich auch ziemlich groß sind. Ich bin 1,88, war immer die Größte und hatte auch leider immer die größten Füße der Schule, von der ersten Klasse an.
Alle vier Großeltern lebten bei uns in der Nähe, im Umkreis von einer halben Meile. Die Eltern meines Vaters, Großmutter und Großvater, waren begeisterte James-Herriot-Fans. James Herriot war der Tierarzt in den Yorkshire Dales, der Der Doktor und das liebe Vieh (All Creatures Great and Small) geschrieben hat. Ich habe als Kind alle Folgen der Serie im Fernsehen gesehen und im Haus meiner Großeltern war ein Regal voll mit seinen Büchern, die ich irgendwann alle gelesen hatte. (Hier schließt sich, wie so oft, der Kreis: Nach Ravenseat kommen jetzt Besucher aus den USA, Kanada und Japan, die ebenfalls James Herriot-Fans sind. Sie möchten die Orte aus den Büchern aufsuchen und eine Farm besuchen, die noch ungefähr so aussieht wie die Farm, die James Herriot beschrieben hat – in den 40er und 50er Jahren.)
Die Eltern meines Vaters waren ein bisschen wohlhabender als die meiner Mutter, und hießen unter Freunden nur Nana und Ganda. Beide Großväter hatten wirklich praktische Berufe: Mutters Vater arbeitete bei einem Bushersteller und später als Lastwagenfahrer, während mein anderer Großvater eine gute Stelle beim Elektrounternehmen Philips hatte.
Als ich elf war, kam ich auf die Newsome High School, eine riesige Gesamtschule mit mehr als tausend Schülern, angeschlossen war noch eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung und für Taube. In dieser Schule trafen sich Kinder vieler verschiedener Nationalitäten und sozialer Schichten. Ich erinnere mich, dass mal die Polizei aufs Schulgelände kam und während des Kunstunterrichts einen Jungen festnahm. Er hatte offensichtlich die Mittagspause dazu genutzt, Autoradios zu stehlen. Ich war nicht wirklich eins von den coolen Mädchen dort, ich riss keinen vom Hocker. Ich war keine von denen, die den letzten Schrei an Klamotten oder Schuhen trugen. Das Geld war knapp und die neuesten Turnschuhe waren einfach nicht drin. Ich wurde zwar nicht gemobbt, versuchte aber immer, so unauffällig wie möglich zu bleiben. Ich wollte einfach kein Aufsehen erregen, weder positiv noch negativ. Ich hatte sehr viele Freunde, die meine Leidenschaft für A-Ha und Madonna teilten, außerdem war ich – etwas beschämt gebe ich es zu – eine Brosette, d. h. ein Fan der schaurig aussehenden Goss-Zwillinge, deren Popband Bros hieß. Zum Glück gab es zu jener Zeit auch Modetrends, die nicht viel kosteten: Netz-Tops, von Madonna getragen und von uns ›Teebeutel-Tops‹ genannt zum Beispiel, die man recht billig auf dem Markt erstehen konnte. Außerdem verbrachten wir viele glückliche Stunde damit, die Container hinter dem Fountain Pub zu durchstöbern, um Grolsch-Flaschenverschlüsse zu finden, die wir an unseren Schnürschuhen festmachten. Wenn wir modemäßig auch nicht immer top waren, so waren wir aber auch nicht ganz out.
In der Schule war ich keineswegs ein Faulpelz, machte aber nur, was nötig war, und blieb den Rest der Zeit für mich. Sobald ich alt genug war, allein draußen herumzulaufen, schnappte ich mir unseren West Highland Terrier, einen knuddeligen kleinen Hund mit dem ungewöhnlichen Namen Fiona, um lange Spaziergänge zu machen. Die Alternative dazu wäre gewesen, mit anderen Kindern in Bushäuschen rumzuhängen, aber das schien mir nicht sehr spannend und Fiona hatte, ehrlich gesagt, auch nicht den geeigneten ›Status‹ eines Vorzeigehundes. Newsome, der Ortsteil, in dem wir wohnten, liegt sehr zentral: Geht man 30 Minuten in eine Richtung, so ist man mitten in der Stadt, 30 Minuten in der anderen Richtung landet man mitten im Hochmoor, weit weg von Häusern und Verkehr. Diese zweite war immer meine Richtung. Manche Leute finden das Moor trostlos, andere bedrohlich, ich aber habe diesen endlosen Himmel immer geliebt, die imposanten Umrisse der Hügel und die Granitfelsen.
Als ich 11 oder 12 war, bekam ich ein Mountain-Bike, ein großartiges Geschenk, das mir viele Jahre von großem Nutzen sein sollte, die ganze Schulzeit hindurch und noch weit darüber hinaus. Am Anfang war es viel zu groß für mich, doch ich wuchs schnell ›hinein‹ und das Rad gab mir die Freiheit, mich allein weiter von zu Hause wegbewegen zu können. Oft sagte ich meinen Eltern, ich wollte Blaubeeren sammeln, was ich auch tat, allerdings nicht, weil ich mich von diesen kleinen violetten Beeren besonders angezogen fühlte, sondern weil ich die Ausrede brauchte, um hoch ins Moor zu radeln. Ich kann es nicht erklären, aber ich war einfach unendlich glücklich dort oben. Geerbt habe ich diese Liebe zur freien Natur nicht. Auch wenn meine Eltern die Natur nicht gerade hassten, so waren sie doch keine Leute vom Land und ganz gewiss keine Farmer. Niemand in meiner Familie hat je einem Kaninchen das Fell über die Ohren gezogen, geschweige denn ein Feld umgepflügt – wenigstens nicht in den letzten Generationen.
Einmal, als ich so um die 13 war und hoch nach Meltham und dann weiter raus ins Saddleworth Moor radelte, traf ich auf einen riesigen Schwarm Polizisten, ich sah Straßensperren und ein Geschwirr von Hubschraubern über unseren Köpfen. Es war die Hölle los und ich musste umdrehen. Später hörte ich, dass an jenem Tag entweder Ian Brady oder Myra Hindley2 dort hochgebracht worden waren, als die Polizei auf der Suche nach dem Grab ihres letzten Opfers war.
Außer Fiona war mein Kontakt zu Tieren sehr begrenzt, bis ich anfing, Reitunterricht zu nehmen. Um diese Reitstunden bezahlen zu können, musste ich einen Wochenend-Job annehmen und das ging erst, als ich nach dem Gesetz alt genug war, Geld zu verdienen, also mit 14. Aus einem unerklärlichen Grund befand sich in unserer Siedlung, inmitten der Sozialwohnungen mit Kieselrauputz, ein Reitstall. Der Begriff ›Reitstall‹ ist mit großer Vorsicht zu genießen, denn dieser Stall bestand aus einer Ansammlung von Blechhütten und Schuppen, einer ›Reitbahn‹ umzäunt von recycelten Leitplanken und bestückt mit den klapprigsten Gäulen, die die Welt je gesehen hat. Eine Reitstunde kostete 10 Pfund und da ich für Katie mitbezahlte, konnte ich mir nur alle zwei Wochen eine Reitstunde leisten.
Um das Reitgeld zu verdienen, arbeitete ich jeden Samstag in Barratts Schuhgeschäft im Stadtzentrum. Es war schon schlimm genug, hübsch angezogen in einem engen Rock und weißer Bluse dort zu erscheinen, doch zu allem Überfluss wurde von mir erwartet, Barratts Pumps zu tragen, und die waren richtig uncool. Zum ersten Mal im Leben halfen mir in jenem Moment meine großen Füße: Es war schwierig – wenn nicht unmöglich – ein passendes Paar Pumps in meiner Größe zu finden und so durfte ich meine eigenen Schuhe tragen. Während der Öffnungszeiten schaute ich regelmäßig durchs Schaufenster und sobald ein Klassenkamerad das Geschäft betrat – vielleicht sollte ich besser sagen, wenn er oder sie von der Mutter hineingedrängt wurde – versteckte ich mich im Lager. Kein Teenager mit etwas Grips wäre je freiwillig hier reingekommen.
Wegen meiner Größe bekam ich beim Reiten natürlich immer sehr große Pferde, normalerweise Drake, einen einäugigen, stämmigen Burschen, mit langem Behang an den riesigen Hufen, einer hochstehenden Bürstenmähne, schwarzem Fell mit Schuppen und keinerlei Bereitschaft, etwas anderes zu tun, als gemächlich dahinzutrotten. Ich liebte das Gefühl, auf einem Pferderücken zu sitzen, auch wenn unsere Ausritte – zu einem schäbigen, trostlosen Platz hinter dem Industriegebiet – nicht sonderlich spannend waren. Dort konnten alle Reiter galoppieren, nur ich bildete in unbequemem, schnellem Trab die Nachhut. Manchmal durchkämmten wir auch den Straßendschungel unserer Siedlung. Die Pferde waren bombensicher, nichts konnte sie aus der Ruhe bringen. Herrenlose Fahrräder, freilaufende Hunde, Polizeisirenen oder Alarmanlagen: all dies hatten sie schon gesehen, schon gehört und es kümmerte sie nicht. Und mich, ehrlich gesagt, auch nicht. Für eine kurze Zeit war ich in meine eigene Welt versunken. Dies war jedes Mal die wunderbarste Stunde und die Trauer war groß, wenn sie vorbei war, denn ich wusste, jetzt würde es wieder zwei Wochen bis zur nächsten dauern.
Als Teenager war ich sehr groß und sehr dünn. Ich erinnere mich noch gut an eine Situation, als eine Frau mit pummeliger Tochter im Bus zu meiner Mutter sagte:
»Ihre Tochter sollte keine Jeans tragen, sie hat doch nichts, womit sie sie füllen kann.«
Genau das war aber die Statur, die man brauchte, um Model zu werden, und meine Mutter hatte anscheinend den Plan im Kopf, dass ich die kommende Jerry Hall wäre. Als ich 14 oder 15 war, sah sie eine Anzeige in der Lokalzeitung ›Model gesucht‹, und sie rief sofort dort an, um für mich ein Treffen zu arrangieren und um Bilder von mir im Fotostudio machen zu lassen. Ich war zögerlich und eher widerwillig, aber so war ich bei all ihren Vorschlägen zu jener Zeit. Es kam schon automatisch: Mutter wollte dies oder das, also wollte ich es auf keinen Fall.
Wir fuhren zusammen mit dem Bus hin. Ich fühlte mich äußerst unwohl, so herausgeputzt, mit den Unmengen an türkisfarbenem Lidschatten und matt-rosa Lippenstift, die sie mir verpasst hatte. Wir hätten gewarnt sein müssen, als wir den heruntergekommenen Ort in einem Außenbezirk von Huddersfield erreicht hatten, aber der Typ, der uns empfing, war okay und hinter den schäbigen Türen der Behausung gab es ein richtiges Studio mit verschiedenen Hintergrundkulissen und Scheinwerfern. Ich glaube, ich habe den Model-Job früher durch eine rosarote Brille gesehen und dachte, ich würde für Vogue oder Cosmopolitan arbeiten, doch bei der ›Arbeit‹, die der Typ uns zeigte, ging es eher um Strickmuster und Prospekte. Klar, dachte ich mir, man muss halt irgendwo anfangen und der Fotograf bescheinigte mir auf jeden Fall ein gewisses Potenzial …
Er schickte mich in die Umkleidekabine, um mich umzuziehen. Aber was fand ich dort vor: ein wirklich schauriges Kleid aus den 1980ern in Zitronengelb und mit Schulterpolstern, kombiniert mit einer dazu passenden, aber absolut altmodischen Strickjacke. Ich überlegte, dass es gar keinen Grund zur Beunruhigung gäbe, schließlich musste ich weder in Bikini noch in Unterwäsche erscheinen. Ich hatte nur in einem dieser großen Rattan-Pfauensessel zu sitzen, die zu jener Zeit in jedem Wintergarten zu finden waren, und so zu tun, als ob ich telefonierte.
Der Typ machte Fotos, um zu sehen, ob ›die Kamera mich liebte‹. Dann wollte er ein Portfolio zusammenstellen und sich wieder bei mir melden.
Wir hörten nichts mehr von ihm, bis wir ihn einige Wochen später auf einem Bild in der Zeitung sahen. Anscheinend war alles ein ausgeklügelter Schwindel: Der Kerl hatte eine geheime Kamera in der Umkleidekabine angebracht, die die Mädchen beim Ausziehen filmte. Ich entdeckte, dass viele Mädchen aus meiner Schule sich von ihm hatten fotografieren lassen, um zu sehen, ob sie Model-Qualitäten hatten … Das war der Anfang und gleichzeitig das Ende meiner Model-Karriere und ich bin dankbar, dass Mutter nie mehr davon gesprochen hat.
Bücher habe ich immer geliebt. Von klein auf habe ich Bücher verschlungen, aber lieber Sachbücher als Romane. Ich hatte einen Bücherschrank in meinem Zimmer und investierte mein Taschengeld in antiquarische Bücher aus staubigen alten Buchläden, wo man für ein paar Pennies speckige, abgewetzte Wälzer erstehen konnte. Ich liebte alles, was mit Tierärzten, Landwirtschaft oder Tieren zu tun hatte. Und ich klebte förmlich jeden Samstagabend am Fernseher, wenn Der Doktor und das liebe Vieh lief. All dies heizte meine Fantasie und Lust immer weiter an, obwohl sich mein Kontakt zu Schafen und Kühen auf die Fernsehbilder beschränkte. Als ich mal eine Rolle Prägetapete fand, zeichnete ich eine Kuh, ein Schaf und ein Pferd darauf, kramte einen veralteten Band Black’s Tierarzt-Lexikon heraus und beschriftete meine Tiere mit allen möglichen Krankheiten. Die Madonna-, Bros- und A-Ha-Poster mussten die Wände räumen und für die Tierbilder Platz machen. Ich träumte davon, Tierärztin zu werden. Und zwar nicht eine von diesen klinischen Tierärzten in weißem Kittel, die ich mit Fiona manchmal aufsuchen musste. Nein, ich spürte kein Verlangen, den ganzen Tag Kater zu kastrieren. Was ich mir wünschte, war Tierarzt zu sein wie James Herriot einer war.
Mit 16, kurz bevor ich meine Abschlussprüfungen machte, hatte ich eines dieser Standard-Interviews mit dem Berufsberater an unserer Schule. Wie sollte mein Leben weitergehen? Eine meiner Schulfreundinnen war schon schwanger, eine andere hatte eine Stelle in einer Fabrik in Aussicht, die Kopfteile für Betten herstellte. Meine Mutter wollte unbedingt, dass ich bei Marks and Spencer arbeitete, aber zu der Zeit war die Vorstellung, eine gestreifte Bluse zu tragen und den ganzen Tag Kleidung zu verkaufen, für mich alles andere als erstrebenswert.
Ich traute mich nicht, meinen Traum vom Tierarztberuf irgendwo zu erwähnen: All das war so realitätsfern, weit weg vom Alltag in der Newsome High School. Ich bekam ein Handbuch zur Berufswahl, in dem ich nachlesen konnte, welche Noten man für den angestrebten Karriereweg benötigte. Ziemlich ernüchternd. Mir wurde bewusst, dass sehr große und ernsthafte akademische Anstrengungen nötig waren, um ein neuer James Herriot zu werden. Allerdings waren meine Schulabschlussnoten so gut, dass ich einen Platz für die A-Levels am College bekam. Das gab mir etwas mehr Zeit zu entscheiden, in welche Richtung mein Leben weitergehen sollte. Ich hatte schon immer hart arbeiten müssen, um die Prüfungen zu bestehen, und war mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich so viele Jahre meines Lebens für dieses aufwendige Tiermedizin-Studium opfern wollte.
Schließlich entschied ich mich, meine A-Levels am Greenhead College in den Fächern Englisch, Biologie, Erdkunde und General Studies zu absolvieren. Wie schon zu Schulzeiten, machte ich nur das, was nötig war, ohne hundertprozentige Anstrengung und ohne klare Vorstellung, wo das alles hinführen sollte. Die Lehrer am College waren sehr darauf bedacht, dass so viele wie möglich von uns zur Universität gingen und ich überlegte zwischendurch tatsächlich, einen Abschluss in Betriebswirtschaft zu machen, allerdings fehlte mir auch da wieder der nötige Enthusiasmus.
Am College lernte ich Jason kennen, meinen ersten richtigen Freund. Er machte dort einen Computer-Kurs. Ehrlich gesagt, hatten wir nichts gemeinsam außer unseren Modegeschmack und unsere Liebe zu schwarzem Eyeliner. Wir waren beide Goths, wenn auch nicht so engagiert wie andere. Ich färbte zum Beispiel meine Haare nicht schwarz und Jason auch nicht.
Schwarz angezogen waren wir schon, von Kopf bis Fuß, und trugen auch unsere Sonnenbrillen zur Schau – zu jeder Zeit und bei jedem Wetter. Wir durchwühlten Plattenläden, um irgendetwas von The Mission zu finden, ich trug Fallschirmjäger-Stiefel, Netzstrumpfhosen, Tüll-Petticoats und Knotentücher, Jason die Lederhosen und Ripped-Shirts, die er immer schon trug. Dies war meine Art der Rebellion, und meine Mutter war nicht sehr glücklich damit, aber sie hat meine Veränderungen niemals kommentiert und mir anscheinend auch nicht übel genommen. Im Rückblick jedoch wird mir klar, dass es für diese elegante Frau deprimierend gewesen sein muss, ihre Tochter in diesem Aufzug herumlaufen zu sehen!
Was auch immer wir zu jener Zeit dachten und taten, eigentlich waren Jason und ich nicht wirklich rebellisch: wir verlobten uns sogar! Wie spießig ist das denn? Er kaufte mir für 90 Pfund einen Ring mit einem mikroskopisch kleinen Diamanten bei dem renommierten Juwelier H. Samuel. Ich war sehr beeindruckt von dem Geschenk – so viel Geld. Ich zeigte den Ring glückstrahlend im ganzen College herum, er war wundervoll. Merkwürdigerweise kann ich mich heute noch nicht einmal daran erinnern, warum Jason und ich auseinandergingen. Allerdings kann ich mich sehr gut daran erinnern, dass ich ihm den Ring eines Tages vor die Füße warf. Unsere Beziehung war nicht wirklich ernst und nicht einen Moment habe ich daran gedacht – auch in jener Zeit nicht –, ihn zu heiraten. Ich habe keine Ahnung, was aus Jason geworden ist. Ich habe ihn nach Beendigung des College nie mehr gesehen.