Kitabı oku: «Wandlerin», sayfa 4

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Aufgeflogen

Ende Juli 2021


Morton, Illinois

Die Nacht war angenehm warm, trotz einer leichten Brise, die durch die Straßen von Morton wehte. Dennoch schloss Karina ihre Strickjacke, während sie auf den Bürgersteig trat. Um diese Zeit fiel man als Frau besser nicht mit weiblichen Reizen auf, wenn man nicht dumm angequatscht werden wollte.

Nicht dass sie oft nachts unterwegs war. Normalerweise vermied sie so späte Wanderungen durch die Stadt. Doch heute hatte sie sich nicht davor drücken können.

Es war Kolleginnenabend gewesen. Und wer nicht außen vor bleiben wollte, der besuchte diesen Stammtisch ab und zu. Es gab den neuesten Klatsch über Kollegen, neue Storys von einschlägigen Schülern und nicht zuletzt jede Menge Alkohol. Von Letzterem hielt sie sich üblicherweise fern. Alkohol setzte ihre Selbstkontrolle außer Kraft, und das war etwas, was sie sich nicht leisten konnte.

Doch heute hatte sie zwei Bier zu sich genommen. Der Schultag hatte sich frustrierend in die Länge gezogen. Morgens der übliche Unterrichtsbetrieb und nachmittags Elterngespräche. Und diese waren, wie so häufig, anstrengend gewesen. Die meisten Gespräche drehten sich um Problemschüler und leider ging der Trend zurzeit dahin, dass die Eltern dieser Kinder die Schuld für das Fehlverhalten ihrer Sprösslinge nicht bei sich, sondern bei den Lehrern sahen. Also hatte sie die meiste Zeit damit verbracht, sich zu rechtfertigen und, möglichst diplomatisch, besagten Eltern Tipps für den Umgang mit pubertierenden Jugendlichen zu geben. Leider fiel das selten auf fruchtbaren Boden und da Diplomatie nicht zu ihren Stärken gehörte, war sie entsprechend genervt.

Also hatte sie sich an dem Kolleginnenabend zwei Bier gegönnt, was nicht unbedingt viel war. Doch da sie selten trank und seit dem Mittag keine ordentliche Mahlzeit genossen hatte, spürte sie den Alkohol in ihren Adern kreisen. Ein Grund mehr, schnell nach Hause zu gehen, auch wenn sie wusste, dass die Wirkung von Alkohol bei ihr nie lange anhielt.

Ein Gähnen ließ sie ihre Schritte beschleunigen. Es war Zeit, ins Bett zu kommen. Zwar war morgen keine Schule, doch sie war noch nie eine Langschläferin gewesen. Und den Samstag nutzte sie gewöhnlich, um ihre Wohnung auf Vordermann zu bringen, einzukaufen und den Unterricht für die kommende Woche vorzubereiten.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass sie noch ein wenig Zeit hatte. Der nächste Bus ließ eine halbe Stunde auf sich warten. Trotzdem wurde sie nicht langsamer, sondern sperrte all ihre Sinne auf. Sie war nicht nur einmal belästigt worden, obwohl sie sicherlich nicht wie ein Opfertyp wirkte.

Mit knapp eins achtzig war sie groß für eine Frau. Schlank, aber nicht dürr. Eher athletisch. Und das war durchaus gewollt. Mehrmals in der Woche stemmte sie Gewichte und lief auf dem Laufband kilometerweit. Alles in ihrer Wohnung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Mit Sicherheit sah sie nicht aus wie ein schwaches, hilfloses Weibchen. Doch manche Männer waren blind, dämlich oder betrunken genug, um es trotzdem bei ihr zu versuchen.

Bisher hatte sie nur einmal unter Beweis stellen müssen, dass sie nicht an Männerbekanntschaften interessiert war. Es lag schon einige Jahre zurück und war ihr erster „Männerkontakt“ gewesen. Drei Kerle hatten sie verfolgt und waren handgreiflich geworden. Karina benötigte nur wenige Sekunden, um einem die Hand zu brechen, dem Zweiten die Kniescheibe zu zertrümmern und den Dritten quasi zu entmannen. Zumindest vermutete sie, dass er nach ihrem gezielten Tritt keine Kinder mehr zeugen würde.

Sie selbst war noch in der gleichen Nacht weitergezogen. Es schien ihr zu gefährlich in dieser Stadt zu bleiben, falls die Männer auf die Idee kamen sie anzuzeigen. Im Nachhinein war sie froh, dass alles so glimpflich ausgegangen war, auch wenn das schlechte Gewissen sie noch monatelang plagte.

Immerhin hatte sie daraus gelernt und sich einige Strategien zurechtgelegt, wie sie einer solchen Konfrontation zukünftig aus dem Weg gehen konnte. Am besten war es immer noch, so früh wie möglich potenzielle „Gefährder“ zu erkennen. Sie war deutlich schneller als alle, die ihr bisher hinterhergerannt waren, und hatte schon zweimal solche Verfolger mühelos abschütteln können, ohne auch nur ins Keuchen zu kommen.

Also sperrte sie auch heute all ihre Sinne auf. Und diese waren außergewöhnlich, das hatte sie inzwischen akzeptiert. Wenn sie es zuließ, hörte sie das Rascheln von Mäusen und das Trippeln der Kakerlaken in den Nebengassen. Schon vor einem Sichtkontakt roch sie, ob sich vor ihr ein Mann, eine Frau, ein Kind oder ein Tier befand. Sie wusste nicht, ob ihre Nase so gut wie die eines Hundes oder Wolfes war, aber sie vermutete, dass sie denen zumindest sehr nahekam.

Noch krasser war ihre Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen. Diese hatte sich nach und nach gezeigt und es dauerte etwa ein halbes Jahr, bis ihr klar war, dass sie im Infrarotbereich sehen konnte. Für Nächte wie heute war das natürlich sehr praktisch.

Doch dieses Mal war es nicht ihre Nachtsicht, die zuerst Alarm schlug, sondern ihr Gehör. Ihr Kopf ruckte automatisch in die Richtung des angstvollen Schreis. Irgendwo, einige Straßen weiter, schrie eine Frau, und sie klang nicht nur panisch. Auch Schmerz lag in ihrer Stimme.

Instinktiv rannte Karina los. Es ging nicht anders. Sie musste einfach helfen. So war es schon immer gewesen. Und genau deshalb geriet sie auch immer in Schwierigkeiten.

Die Frau in Not entpuppte sich als ein junges Mädchen, das von einem bulligen Mann bedrängt wurde. Er hielt sie mit der linken Hand am Hals gegen eine Hauswand gedrückt und erstickte so weitere Schreie, während die andere Hand ihre Jeans herunterzerrte.

Karina roch Schweiß, Blut, Angst und Erregung. Letzteres ging von dem Mann aus. Seine Absicht war völlig klar.

„Lass sie los!“ Karina trat neben ihn und legte ihre Hand mit einem festen Griff auf den Arm, der das Mädchen an die Wand drückte. Karina schätzte es auf höchstens siebzehn und sein bleiches Gesicht war vor Panik und Schmerz verzerrt.

Der Mann stieß ein überraschtes Grunzen aus und ließ sofort los. Doch anstatt zurückzuweichen, griff er an seinen Gürtel und schwang ein bedrohlich aussehendes Messer in Karinas Richtung.

Sie wich zurück, konnte jedoch nicht verhindern, dass die Klinge über ihren Bauch ratschte. Der Schmerz war so heftig, dass ihr für einen Moment der Atem stockte.

„Miststück“, knurrte der Angreifer und wandte sich ihr ganz zu. Nur nebenbei registrierte sie einen verfilzten Vollbart, den schwammigen Bierbauch und einen unangenehmen Atem, der ihr entgegenwehte. Der ganze Kerl wirkte ungepflegt, doch trotz seines Schmerbauchs besaß er eine eindrucksvolle Armmuskulatur. Der nächsten Messerattacke entging sie durch eine geschickte Drehung, doch noch während sie ihm auswich, spürte sie schon, wie sich das Unausweichliche anbahnte.

„Ich mach dich fertig, Schlampe“, brüllte der Mann und hob erneut die Waffe. Dann weiteten sich seine Augen. „Was zum Teufel ... Fuck!“ Sein Schrei wurde abgewürgt, als sich Karinas Finger um seinen Hals krallten und ihn gegen die Wand drückten.

„Und? Fühlt sich das gut an?“, fauchte sie. Diesmal stand die Panik in seinen Augen. Seine Hände versuchten vergeblich, ihre Klaue zu lösen.

In Karina brodelte ein Cocktail aus unbändigem Zorn über diesen Vergewaltiger und dem Drang, das Mädchen zu schützen. Gleichzeitig stieg in ihr die Verzweiflung hoch versagt zu haben. Sie hatte sich nicht unter Kontrolle! Hätte sie nicht selbst ihre eigene Hand vor Augen gehabt, hätte spätestens die Furcht in seinem Gesicht ihr verraten, dass sie sich gewandelt hatte. Noch nicht ganz, doch mit Sicherheit glühten ihre Augen in einem unmenschlichen Gelb und ihre Krallenhand zeigte die typisch roten Farbmuster auf der Haut. Mit einem verzweifelten Laut schleuderte sie den Mann quer durch die Gasse. Er krachte gegen einen Müllcontainer und sank dann leblos zu Boden.

Karina wandte sich dem Mädchen zu. Es blickte mit einem glasigen Blick zu ihr hoch.

„Bist du ein Dämon?“, lallte seine Stimme, bevor es anfing zu husten. Karina brauchte lange Sekunden, bis sie sich so weit im Griff hatte, die Wandlung zu stoppen und umzukehren. Erst dann beugte sie sich nach unten.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte sie leise.

Die Kleine fing an zu kichern. Irritiert sog Karina ihren Duft durch die Nase. Erst jetzt registrierte sie den Alkoholgeruch und noch etwas anderes. Sie hatte es schon bei einigen ihrer Schüler wahrgenommen. Oh Herr im Himmel, dieses Kind stand eindeutig unter Drogen. Immerhin schien es bis auf ein paar Blutergüsse im Gesicht und an den Armen unverletzt zu sein.

„Wie heißt du?“, fragte sie, während sie gleichzeitig ihr weiteres Vorgehen überlegte.

„Fanny“, kam die kichernde Antwort. „Wie hast du das gemacht?“

Ein erneutes Husten.

„So glühende Augen sehen echt geil aus.“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

Karina beschloss spontan, es mit der Strategie der Verleugnung zu probieren. Da sie inzwischen wieder normal aussah, war es zumindest einen Versuch wert.

„Hast du irgendwas gebrochen? Hat er dich geschlagen?“

„Ich glaub schon“, murmelte Fanny. „Mein Gesicht tut weh. Und mein Hals. Und mein Bauch.“

Sie blinzelte. „Bist du Superwoman?“

„Um Himmels Willen“, entglitt es Karina. „Ganz sicher nicht. Warte kurz. Ich muss nachsehen, wie es diesem Schwein geht.“

Sie richtete sich auf und ging auf den Mann zu, der reglos neben dem Müllcontainer lag. Der Container hatte eine beachtlich tiefe Delle an der Seitenwand. Offenbar war dieser Widerling mit dem Kopf gegen das Metall geknallt, denn blutige Schlieren zogen sich durch seine Haare und über sein Gesicht hinweg. Karina tastete nach seinem Puls und war erleichtert, dass er noch lebte. Zumindest hatte sie kein Menschenleben auf dem Gewissen. Auch wenn das die Lage verkomplizierte.

Sie griff nach ihrem Handy und wählte den Notruf.

In knappen Worten gab sie ihren Standort durch und erwähnte zwei Verletzte. Als nach ihrem Namen gefragt wurde, zögerte sie erst, doch dann gab sie ihn an. Es war sowieso nicht ihr richtiger. Seit Jahren lebte sie unter falschem Namen. Es wäre zwar ärgerlich, wenn sie wieder einen neuen annehmen müsste, vor allem teuer, aber Fanny alleine zu lassen, kam nicht in Frage. Das Mädchen war verletzt und stand unter Drogen. Wer wusste schon, was für Typen hier noch vorbeikamen. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass niemand auf das Geschwätz einer Drogensüchtigen hörte.

Krankenwagen und Polizei waren erfreulich schnell vor Ort. Karina gab an, dass sie den Mann mit einem Schlag hatte überraschen können und er unglücklich gegen den Abfallcontainer gekracht war. Sein Messer hatte sie vorher in besagten Container geworfen und ihre Jacke um den Bauch gebunden, so dass der blutige Schnitt nicht zu sehen war. Sie hatte kein Interesse, ebenfalls im Krankenhaus zu landen. Die Ärzte hätten sich mit Sicherheit sehr gewundert, dass die Schnittwunde bereits zu heilen begann. Eine der wenigen ihrer unheimlichen Eigenschaften, die sie als positiv empfand.

Zu ihrer Erleichterung gaben sich die Cops mit einer kurzen Zusammenfassung zufrieden, notierten aber ihre Adresse und forderten sie auf, am nächsten Tag aufs Revier zu kommen, um eine genauere Zeugenaussage abzugeben.

Sie sagte natürlich zu. Normale Bürger taten so etwas. Und sie war seit sechs Jahren sehr bemüht, diesen Eindruck zu vermitteln. Bisher erfolgreich, doch sie war sich mehr als bewusst, dass sie dabei viel Glück gehabt hatte.

Auch dieses Mal würde sie welches benötigen. Alles hing davon ab, wie glaubwürdig die kleine Fanny war und was der verletzte Mann erzählte, wenn er wieder das Bewusstsein erlangte.

Vorsichtshalber würde sie ihre Notfalltasche bereitstellen. Auch wenn es ihr dieses Mal sehr schwerfallen würde, die Stadt zu verlassen. Seit vier Jahren lebte sie hier, hatte sich eine neue Existenz aufgebaut und liebenswürdige Bekannte gefunden, die ihr zumindest einen Hauch von Normalität in ihrem Leben schenkten. Das zu verlieren, würde sie tief treffen.

Die Jagd wird eröffnet

Asher Hunters Haus, Nähe Springfield, Ohio

Das Telefon klingelte zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Asher Hunter ließ den Blick zwischen dem Apparat und dem derzeitigen Objekt seines Ärgers hin und her pendeln.

Dr. Nathalie Bates stand mit verschränkten Armen vor ihm und ihre grauen Augen blitzten ihn herausfordernd an. Ihre langen, silbergrauen Haare umrahmten ein attraktives Gesicht und sie war eine große Frau. Asher musste nicht allzu tief nach unten sehen, um Blickkontakt herzustellen. Und das gefiel ihm außerordentlich gut. Er mochte große, selbstbewusste Frauen. Allerdings mochte er sie noch mehr, wenn sie auf ihn hörten und seine Entscheidungen nicht in Zweifel zogen. Dies wiederum war ein anstrengendes Talent dieser hochintelligenten Frau.

Nathalie Bates war zweifellos ein Prachtweib und normalerweise würde er diese Auseinandersetzung auf die einzig akzeptable Art beenden. Doch diesmal ging es um seine Tochter und da war es wohl nicht angebracht, Nathalie Bates über den Schreibtisch zu werfen und gründlichst durchzuvögeln.

„Sophia ist alt genug, um selbst zu entscheiden, mit wem sie zusammenleben möchte“, beharrte diese. „Du kannst sie nicht ewig von allem abschotten.“

„Sie ist gerade mal zwanzig Jahre alt“, knurrte Asher und versuchte, das beharrliche Klingeln zu ignorieren. „Und Medon ist Achtundsechzig!“

„Du selbst bist über dreitausend Jahre alt und ich bin erst Anfang vierzig. Das ist also kein Argument. Außerdem hast du selbst gesagt, dass du ihm vertraust und er ein guter Mann ist. Der wirkliche Grund, warum du sie nicht gehen lässt, ist dein Kontrollwahn.“

Nathalie zwang sich sichtbar zu einer Ruhe, die in ihrem Inneren nicht gegeben war. Asher konnte ihren Adrenalinpegel nicht nur riechen, sondern inzwischen auch sehr gut einordnen. Diese Frau, seine Frau, war noch lange nicht bereit, nachzugeben. Und wenn er ehrlich war, hatte sie natürlich recht.

Es fiel ihm mehr als schwer, Sophia aus seiner Verantwortung zu entlassen. Auch wenn er wusste, dass Medon seine Tochter vergötterte und sie niemals unbewacht lassen würde, war sie in seinen Augen immer noch Kind und hatte noch so viel zu lernen.

Wieder schrillte das Telefon und Asher stieß ein genervtes Fauchen aus, während er zum Apparat griff.

„Die Diskussion ist noch nicht beendet“, warf er in ihre Richtung, bevor er in den Hörer bellte. „Was?“

„Asher Hunter?“

Er benötigte nur eine Sekunde, bis er die Stimme eingeordnet hatte, und holte tief Luft. Dann zwang er sich zur Ruhe.

„Chief Bryan. Was kann ich für Sie tun?“

„Hm, die Frage ist wohl eher, was ich für Sie tue.“

Klang dieser Kriegerwolf etwa belustigt? Sie redeten eher selten miteinander und dann auch nur, wenn es um ernste Angelegenheiten ging. Doch die nächsten Worte klangen alles andere als heiter.

„Sie müssten noch eine unerledigte Akte bei sich liegen haben. Aufschrift Karina Wells.“

Asher straffte sich unwillkürlich und sah zu Nathalie, die ihn aufmerksam beobachtet hatte und jetzt mit einem kurzen Nicken den Raum verließ. Wieder zwang er sich, ruhig zu bleiben. Dieses Weib brachte sein Blut zum Kochen und forderte ihn mit ihrer Intelligenz und Sturheit täglich heraus. Gleichzeitig war sie die Einzige, die seine Stimmungen sofort erfasste und genau wusste, wie weit sie gehen konnte, ohne ihn zu weit zu treiben. Genauso, wie sie gerade sofort erkannt hatte, dass er nun alle Aufmerksamkeit für dieses Telefongespräch benötigte.

Um nichts in der Welt würde er diese Frau wieder hergeben.

Er konzentrierte sich auf seinen Gesprächspartner.

Karina Wells. Dieser Name hatte ihn schon etliche schlaflose Nächte gekostet. Seit dem Tag vor sechs Jahren, in den Rocky Mountains, an dem sie diesen größenwahnsinnigen Vampir Breda zur Strecke gebracht hatten, verfolgte ihn der Name und er war sich sicher, dass er da nicht der Einzige war.

Karina Wells war Sprengstoff in ihrer Welt, der ihnen jederzeit um die Ohren fliegen konnte. Ein Geschöpf, das die Existenz aller Wandler, Wölfe, Hexen und Vampire gefährdete.

Ein Jahr lang waren sie ihr durch das Gebirge und dann quer durch die Staaten gefolgt, bis sich ihre Spur verflüchtigt hatte. Und das war mehr als ungewöhnlich. Wolfsnasen waren normalerweise beharrlich und bisher hatten die Ranger noch jeden gefunden, der auf ihrer Fahndungsliste stand. Doch irgendwie hatte diese Frau es geschafft, unterzutauchen. Seitdem war es, als würde sie nicht existieren.

Henry Graves, der Stellvertreter von Bryan, vermutete, dass sie den Namen gewechselt und möglicherweise Magie eingesetzt hatte, um das zu schaffen. Möglich war es.

Der Akte, die sie aus Bredas Versteck gerettet hatten, konnten sie entnehmen, dass die Frau nicht nur gewandelt worden war, sondern auch Wolfs- und Hexengene in ihr aktiviert wurden. Über ihre Fähigkeiten war leider nichts vermerkt gewesen. Aber wenn sie sich gewandelt hatte, dann war sie zumindest mit einigen Kräften ausgestattet, die ihr ein Untertauchen erleichterten. Das war das Talent eines jeden Wandlers.

„Sie haben eine Spur!“ Er hoffte, dass er nicht allzu erwartungsfroh klang, sondern so nüchtern, wie es angebracht war.

„Möglicherweise.“ Bryan klang jetzt ebenfalls gewohnt sachlich. „Mein Mitarbeiter Hicks, Sie kennen ihn ja bereits, hat diverse Pressemeldungen gefunden, die interessant sein könnten.“

Das klang zwar nicht nach einem Durchbruch, doch immerhin war es seit langem wieder eine Spur.

Bryan räusperte sich, bevor er weitersprach. „Bestehen Sie immer noch darauf, dass das Ihre Angelegenheit ist?“

Asher Hunter brauchte nicht zu überlegen. „Diese Frau ist eine Wandlerin! Und das, weil meiner Tochter dasselbe angetan wurde wie ihr! Damit ist sie definitiv meine Angelegenheit!“

„Akzeptiert.“ Immerhin, dieser Wolf war nicht so stur wie die verdammten Hexen. „Hicks schickt Ihnen die entsprechenden Dateien. Und – nur, um es noch einmal gesagt zu haben: Meine Männer stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung.“

„Das weiß ich zu schätzen“, knurrte Asher. Und das war nicht einmal gelogen. Seit Jahrhunderten konnten sich Wandler und Wölfe im wahrsten Sinne des Wortes nicht riechen. Doch in den letzten Jahren war es tatsächlich zu einer Art Annäherung gekommen. Man respektierte sich. Und wenn es sich nicht vermeiden ließ, half man sich sogar.

Noch misstraute er diesem wackeligen Frieden, doch er musste zugeben, dass er ohne die Hilfe der Fellträger seine Tochter verloren hätte. Das allein war schon Grund genug, den Wölfen eine Chance einzuräumen.

„Danke, ich melde mich, wenn sich etwas Neues ergibt.“

Sobald er aufgelegt hatte, wandte er sich dem Computer zu. Kaum hatte er sein Mailprogramm aufgerufen, da trafen auch schon mehrere Nachrichten ein.

Gespannt öffnete er die Dateien und las die Texte mit höchster Konzentration. Nach und nach steigerte sich seine Unruhe.

Dieser Hicks, oder Freaky, wie ihn seine Kollegen nannten, hatte eine Meldung aus einigen Zeitungen herausgefiltert.

Das Grundgerüst war immer das Gleiche, nur zwei Artikel gingen ein wenig mehr ins Detail.

Offenbar war eine Siebzehnjährige von einem achtunddreißigjährigen Mann misshandelt und beinahe vergewaltigt worden. Nur das Eingreifen einer Lehrerin hatte Schlimmeres verhindert. Der Mann lag seitdem aufgrund einer Kopfverletzung im Koma. Die Siebzehnjährige befand sich zurzeit auf Drogenentzug und litt an schweren Halluzinationen. In zwei Klatschzeitungen wurde detailliert ausgebreitet, dass die Kleine ihre Retterin im Drogenwahn als Superwoman mit glühend gelben Augen und Superkräften beschrieb.

Das Ganze hätte amüsant sein können, doch Asher verspürte eine deutliche Anspannung in seinem Bauch. Gelbe Augen und außergewöhnliche Kräfte passten genau ins Bild von Karina Wells. Und wenn auch die Wölfe diese Spur interessant fanden, konnte er sie nicht ignorieren. Das Bauchgefühl dieser Fellträger trog selten.

Seine Hand langte erneut zum Telefon. Es wurde Zeit, die Jagd wieder aufzunehmen.

*

„Rolf schickt euch alle Dateien und auch die Telefonnummer von diesem Ranger Hicks. Ihr wisst, dass die Zeit drängt. Ich will dieses Weib so schnell wie möglich hier haben. Und zwar ohne dass die ganze Welt mitbekommt, dass sie kein Mensch mehr ist!“

„Und wenn sie sich weigert?“ Leo Rollins sah seinen Boss fragend an.

Asher seufzte innerlich und zwang sich zur Ruhe. Leo stand schon lange in seinen Diensten und hatte sich immer wieder als treuer Mitarbeiter und zuverlässiger Kämpfer bewährt. Doch Denken war nicht gerade seine Stärke.

Er sah zu dem zweiten Mann vor seinem Schreibtisch. Erdil Jadoon war da ein ganz anderes Kaliber.

„Sie darf nicht entkommen! Wenn sie sich wehrt, habt ihr freie Hand sie unschädlich zu machen. Lieber wäre es mir aber, wenn sie unverletzt bleibt. Letztendlich ist sie auch nur ein Opfer und vielleicht können wir sie integrieren.“

Erdil Jadoon nickte knapp. Von ihm wusste Asher, dass er die Lage richtig einschätzen konnte. Erdil war einer der wenigen Wandler, die sich beinahe so gut im Griff hatten wie Asher Hunter. Mit weit über dreihundert Lebensjahren hatte Erdil die Zeit und die eigene Stärke genutzt und seine Selbstbeherrschung in die richtigen Bahnen gelenkt. Natürlich trug er immer noch eine gewisse cholerische Ader in sich, das konnten Wandler nie abschütteln, doch in den letzten zweihundert Jahren hatte er definitiv niemanden mehr im Affekt getötet. Und das war bemerkenswert. Aber Asher hatte auch viele Jahre in diesen Mann investiert. Er war froh, dass es nicht umsonst gewesen war. Erdil war sein bester Mann und genoss sein absolutes Vertrauen. In den letzten Jahren hatte er vor allem als Leibwächter für Nathalie und Sophia gearbeitet, doch Letztere war inzwischen hoffnungslos in Medon verknallt und dieser hatte mit Begeisterung ihren Schutz übernommen.

Und Nathalie – nun ja, dieses Weib war in seiner Nähe sowieso am besten aufgehoben.

Es sprach also nichts dagegen, Erdil eine neue Aufgabe zu übertragen.

Besagter Wandler schien der gleichen Meinung zu sein, denn in seinen Augen blitzte bereits das Jagdfieber.

*

Endlich war es wieder so weit. Die Jagd ging weiter.

Erdil wäre am liebsten sofort losgezogen, aber er kannte seinen Boss inzwischen gut genug. Es war nie schlau, in dessen Gegenwart Ungeduld zu zeigen. Im Laufe der letzten Jahrhunderte war die Selbstbeherrschung eines Wandlers ein wichtiges Bewertungskriterium geworden bezüglich seiner Stellung in der Wandlergemeinschaft. Wobei Gemeinschaft sicherlich das falsche Wort war. Von ihrer Natur her waren Wandler absolute Einzelgänger, die die Nähe anderer Wandler mieden. Und das nicht ohne Grund. Ihr Aggressionspotenzial war ungewöhnlich hoch und Ursache für manch blutige Auseinandersetzung.

Erdil war mehr als froh, geradezu stolz, ein Mitglied von Asher Hunters Haus zu sein. Er kannte kaum einen Wandler, der nicht ehrfürchtig zu dem Ältesten aufsah. Und Hunters Haus war mit Abstand das größte weltweit. Zurzeit vereinte es zweiunddreißig Wandler, was eine beeindruckende Zahl war. Das zweitgrößte Haus wurde von Lennart Silver in Nebraska geführt und besaß lediglich fünfzehn Mitglieder – was auch eine stattliche Anzahl war.

In Gedanken packte Erdil schon sein Reisegepäck. Die Fahrt nach Morton hatte Ashers Berater Rolf bereits organisiert. Es war erstaunlich, wie schnell man mittlerweile von A nach B gelangen konnte. Aber das hieß auch, dass weniger Zeit zum Planen blieb.

Unbewusst ballte Erdil die Fäuste. Schon einmal war er hinter Karina Wells her gewesen. Doch trotz der Unterstützung der Minnesota Ranger hatte sich ihre Spur verloren und sein Frust darüber war hoch gewesen. Es kam nicht oft vor, dass er versagte, und in diesem Fall war es besonders ärgerlich. Immerhin hing davon die Existenz aller geheimen Völker ab. Dass auch Wolfsnasen Karina Wells verloren hatten, besänftigte ihn nicht. Schließlich fiel sie in die Verantwortung der Wandler.

Seine Nase war natürlich nicht so sensibel wie die von diesen Fellträgern, doch auch ihm war der typische Wandlergeruch nicht entgangen, der von ihren Spuren ausging. Sie roch nach Wandler, Angst und Zorn. Nach Asche und Weiblichkeit.

Es gab nur noch eine Frau auf diesem Planeten, die ähnlich roch. Und das war Sophia Hunter. Noch immer empfand er es als ein Wunder, dass Ashers Tochter eine Wandlung überstanden hatte. Vor allem, da diese von skrupellosen Wissenschaftlern künstlich herbeigeführt worden war. Genauso wie bei Karina Wells. Doch Ashers Tochter hatte zumindest geahnt, was sie überstehen musste. Dass man solche Höllenqualen überleben konnte.

Karina Wells war unvorbereitet und ohne jegliches Wissen in eine Wandlung geschickt worden. So wie er selbst auch. So wie viele vor ihm und noch etliche nach ihm. Er wusste also sehr genau, was diese Frau durchgemacht hatte.

Lennart Silver, der Historiker unter den Wandlern, hatte ihm einmal vorgerechnet, dass auf eine erfolgreiche Wandlung mindestens zwanzig gescheiterte kamen. Sprich: zwanzig tote Wandler. Und das waren die Zahlen der Neuzeit! Früher waren vermutlich mehr als doppelt so viele Wandlungen fehlgeschlagen. Doch aus diesen Zeiten gab es natürlich keine verlässlichen Zahlen.

Umso erstaunlicher, dass Karina Wells die Kraft und das Durchhaltevermögen gehabt hatte, eine Wandlung zu überstehen. Aber das machte sie vermutlich auch umso gefährlicher. Ihre Akte kannte er inzwischen auswendig. Doch in dieser stand lediglich, dass die Frau sehr stark und sehr schnell war. Zudem hatte sie die Regenerationsfähigkeit eines Wolfes. Womöglich war dies ein mitentscheidender Faktor für die gelungene Wandlung gewesen, aber das konnten sie nur vermuten.

Genauso unklar war, wie viele von ihren eigenen Fähigkeiten Karina Wells inzwischen weiterentwickelt hatte. Und was sie von den anderen Völkern wusste.

Dass sie Angst hatte, war ihren Verfolgern natürlich nicht entgangen. Verständlich, wenn man bedachte, was ihr angetan wurde. Doch ängstliche Menschen neigten zu panischen und unüberlegten Handlungen. Und dieses Verhalten war bei verängstigten Wandlern vermutlich noch ausgeprägter.

Erdil Jadoon war durchaus klar, was das bedeutete. Im besten Fall konnten sie die junge Frau von der Menschenwelt unbemerkt einfangen und in das Volk der Wandler integrieren. Im schlimmsten Fall würde die Welt der geheimen Völker auffliegen. Dazwischen lagen viele Möglichkeiten.

In den meisten würde Karina Wells sterben.

Möglicherweise durch seine Hand.

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