Kitabı oku: «Affentanz»

Yazı tipi:

mitteldeutscher verlag


Sternstunden eines schlechten Verlierers

ROMAN ANDRÉ BERGELT

INHALT

Cover

Titel

Zitat

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

Über den Autor

Impressum

„Ein guter Verlierer zu sein, ist eine Kunst. Eine, die ich ungewöhnlich schlecht beherrsche.“

KAPITEL 1

An einem lauen Sommerabend im Gartenbereich des Berliner Techno-Clubs Zoo, einem mehrgeschossigen, neoklassizistischen Industriebau aus den 50ern.

Die untergehende Sonne spiegelt sich in den Fenstern der Fassade. Der letzte Tag der Woche neigt sich dem Ende zu. Doch im Garten des Clubs ist die herkömmliche Zeitrechnung außer Kraft gesetzt. Begriffe wie Wochentag oder Monat wirken hier wie Relikte einer mir fremden, von banalen Verpflichtungen dominierten Welt. Einer Welt, die ich nicht vermisse.

„Bist du öfter hier?“ Ihr südfranzösischer Dialekt reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich versuche, scharf zu stellen. Die Sitzelemente aus Beton und die dort abhängenden üblichen Verdächtigen sind noch immer da. Auf der winzigen Tanzfläche wippen fünf halbtote Touris vor sich hin. Wer hinter dem DJ-Pult steht und für den holprigen Sound verantwortlich ist, kann ich von meinem Stück Wiese aus nicht erkennen. Das attraktive Pärchen mir gegenüber ist hingegen nicht zu übersehen. Sie, groß, apart, mit unendlich langen Wimpern. Er, blass, halblanges, zotteliges Haar, faszinierend dunkle Augen.

„Wir waren erst zwei Mal hier, aber der Laden ist echt genial“, springt er seiner Freundin bei, womöglich weil ich noch immer nicht geantwortet habe.

Menschen, die nicht reden, werden von ihrer Umwelt ja oft als Bedrohung wahrgenommen und das, obwohl Stille gern mit Harmonie gleichgesetzt wird.

„Ja, der Club ist ganz ordentlich. Gute Musik, kreative Künstler. Ich überlege selbst, hier zu spielen. Hatte ich dir meiner neuen Klanginstallation erzählt?“

Er nickt interessiert, während sie weiter meinen Stoff auf ihrem Flyer zerkleinert.

„Das Untergeschoss ist eigentlich zu verbaut, als dass man einen wirklich guten Sound kreieren könnte“, erkläre ich und wackle wichtigtuerisch mit dem Kopf.

„Bei uns in Toulouse gibt’s nichts Vergleichbares. Also zumindest nicht so was.“

Er breitet ehrfürchtig die Arme aus und deutet auf das imposante Gebäude des Zoo.

„Stimmt“, pflichtet sie ihm bei und reicht mir Flyer und Ziehröhrchen.

„Südfrankreich hat aber auch was für sich“, antworte ich, taxiere die drei aufgebauten Lines und ziehe die größte.

„Warst du schon mal in Toulouse?“, fragt er und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich gebe ihr den Flyer zurück und lächle ihn an. Seine mandelförmigen Augen sind in der Mitte dunkelbraun, umfasst von einem bernsteinfarbenen Kranz. Ich muss an einen altaischen Esel denken. Altaische Esel haben riesige, melancholische Augen.

„Ich mag Esel“, blubbere ich.

Er sieht mich irritiert an. Die von mir unbedacht vorgetragene Sympathiebekundung scheint ihm vor seiner Freundin unangenehm zu sein.

„Nun, ich wollte sagen, ich meine …“, mein Hirn schaltet einen Gang höher, „… also der Punkt ist, ich hatte mal einen Studienkollegen, der kam aus einem Dorf in der Nähe von Toulouse, und dessen Vater … der hatte eine altaische Eselzucht.“

Das Mädchen sieht erstaunt zu mir.

„Echt? Altaische Esel?“

„Ja, bemerkenswert, oder? Aber jetzt wohnt der Typ in München. Berlin war, glaube ich, nicht so sein Fall, jobtechnisch jedenfalls nicht.“

„Dafür sind die Partys besser“, mischt er sich ein und lächelt versöhnlich.

Sie zieht ihre Line, wischt sich die Nase ab und gibt ihm den Rest, sie sieht zu mir und fragt: „Und was ist mit den Eseln passiert?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Keine Ahnung, der alte Mann wird sie wohl geschlachtet haben.“

„Oha“, entfährt es ihr.

Ich nicke zufrieden und freue mich, dass das Gespräch wieder in geordneten Bahnen verläuft. Er legt sich den Flyer auf die Knie und zieht sich den Stoff bis in die Stirnhöhlen hoch. Langsam richtet er sich auf und streckt sich ein paar Mal. Eine seltsam erotische Spannung legt sich über unseren Teil der Wiese.

„Im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Spanien, da gibt es noch immer Bauern, die Esel als Lastentiere halten“, erklärt er und leckt sich über die taub gewordenen Lippen.

„Das wusste ich gar nicht“, antworte ich und versuche, interessiert zu gucken.

Sie bietet mir eine Zigarette an. Ich greife zu. Wir geben uns gegenseitig Feuer. Er legt sich auf die Seite und schließt die Augen. Ich kreise mit dem Kopf hin und her und starre Löcher in die Luft. Sie spielt an ihrem Nasen-Piercing herum. Das Gespräch droht zu versiegen.

Erneut gibt er sich einen Ruck und sagt: „Wir wohnen übrigens in Weißensee.“

„Also faktisch um die Ecke“, witzele ich und sehe zu ihr.

„Mit der Straßenbahn ist es ein Katzensprung“, antwortet sie und lächelt einladend.

Zweieinhalb Stunden später sitze ich mit einem Kater namens Henri auf dem Schoß auf einer dreiteiligen Couch in Weißensee.

Sie wirtschaftet in der Küche herum, kocht Kaffee. Er sitzt neben mir und präsentiert stolz seine Bewerbungsmappe für die hiesige Kunsthochschule.

„Die habe ich selbstgemacht. Erst im Park gesammelt, dann getrocknet und anschließend mit Acryl und Öl aufgearbeitet.“

Ich sehe nur ein paar bunte Laubblätter, deren Ränder in unterschiedlichen Farben schillern.

„Das Projekt ist in mehreren Phasen entstanden, von denen jede an eine kunstgeschichtliche Epoche angelehnt ist“, erklärt er und blättert weiter.

Ich halte mir eine kalte Flasche Wasser an den Kopf und versuche, mich an meine Schulzeit und das Fach Kunst zu erinnern.

„Kommt gut, irgendwie expressiv“, quäle ich mir eine Stellungnahme heraus.

„Findest du? Aber eigentlich ist das Projekt als Post-Impressionisten-Zitat angelegt.“

„Ach so? Nun, der einzige Post-Impressionist, den ich kenne, ist Toulouse-Lautrec.“

„Du kennst Henri de Toulouse-Lautrec?“

Ich nicke. Er sieht mich fasziniert an. Unsere Ellenbogen berühren sich leicht.

„Der Kaffee ist fertig!“, brüllt es aus der Küche.

Ich zucke vor Schreck zusammen, schubse versehentlich den Kater von der Couch und greife mir eine der herumliegenden Zigaretten. Henri huscht fauchend unter den Tisch.

„Mit Milch und Zucker?“, fragt sie und sieht mich an, als hätte sie vor, mich zu vernaschen.

„Ich nehme ohne alles“, antworte ich.

Die beiden prusten los.

„Was ist denn?“, frage ich verunsichert.

„Wenn man den Satz eins zu eins ins Französische übersetzt, klingt er etwas …“

Das Mädchen stockt.

„Anzüglich?“, frage ich.

„Ja, genau“, antwortet sie und reicht mir eine große Tasse.

„Die Unterhaltung über Toulouse-Lautrec hat meine Gedanken in die Welt des Unmoralischen gelenkt“, versuche ich mich zu rechtfertigen.

Sie setzt sich neben mich und sieht mich forschend an. Ich nippe verlegen an meinem Getränk. Er beugt sich nach vorne, sieht an mir vorbei und sagt: „Er spielt sicher auf dessen wilde Zeit in Paris an.“

„Nun, eigentlich auf die inzestuöse Beziehung seiner Eltern“, verbessere ich altklug.

„Stimmt, die Mütter seiner Eltern sollen angeblich Schwestern gewesen sein“, springt er mir wieder mal bei und grinst spitzbübisch.

„Nur gut, dass wir keine Geschwister sind“, ergänzt sie und lacht hell auf.

„Was seid ihr denn?“, frage ich unsicher.

„Spielt das denn eine Rolle für dich?“, fragt sie und streicht mir mit der Hand über die Innenseite meines Oberschenkels.

Ich spucke den Kaffee in hohem Bogen über den Tisch. Die bunten Laubblätter der Collage färben sich braun. Er nimmt ein Taschentuch zur Hand und wischt das entstellte Kunstwerk sauber. Er sieht mich gespielt vorwurfsvoll an und fragt: „Kann es sein, dass du meine Arbeiten nicht magst?“

„Mann, das war ein Versehen. Nein wirklich, ich finde deine Arbeiten sehr spannend“, antworte ich und wundere mich, wieso mir plötzlich heiß wird.

„Willst du noch eine Mappe von mir sehen?“, fragt er und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich wedle mir Luft zu. Vergeblich, ein eigenartiger Druck legt sich auf meinen Kopf.

„Na ja, wenn du noch etwas Interessantes von dir zeigen magst …“

„Trink deinen Kaffee aus!“, herrscht mich das Mädchen unvermittelt an.

Ihre Stimme überschlägt sich im Raum und knallt mir um die Ohren. Ohne nachzudenken, komme ich ihrer Aufforderung nach, stelle die leere Kaffeetasse ab und atme durch. Die Hitzewallungen werden stärker. Er deutet auf meinen Pullover.

„Zieh dich doch aus, wenn dir zu warm ist!“

Auch seine Stimme hallt merkwürdig nach. Ich versuche, mich meines Oberteils zu entledigen. Aus irgendeinem Grund schaffe ich es jedoch nicht mehr, beide Arme gleichzeitig anzuheben. Erst als er mir hilft, gelingt es mir, den Pullover auszuziehen. Ich fühle mich seltsam erschöpft und lehne mich zurück. Meine Gastgeber sehen mich prüfend an. Ihre Gesichter haben sonderbar farbige Flecken. Es kommt mir vor, als wären die beiden ganz nah und weit weg zugleich. Auch das, was sie sagen, ist sonderbar verzerrt.

„Der Kaffee war ganz schön stark …“, versuche ich meinen Ausfall zu erklären.

„Schon gut … das lässt wieder … nach …“, ruft er mir aus der Ferne zu. Sie fasst mich an den Schultern und setzt sich unvermittelt auf mich.

Ihre Haare fallen auf meinen Bauchnabel. Ich spüre ihre warmen Hände auf meinem Körper. Er nimmt hinter ihr Platz und zieht dem Mädchen das T-Shirt aus. Seine Lippen liebkosen ihren Hals. Seine Hände lassen ihre kleinen, weißen Brüste über mir auf und ab tanzen. Ich fühle eine starke Erregung in mir aufkommen. Mein ganzer Körper mutiert zu einer erogenen Zone. Die Haut kribbelt. Die Hose fühlt sich an, als hätte sie jemand mit Beton ausgegossen. Ich taste nach meinem Reißverschluss. Sie lässt von mir ab. Er zieht sich das Hemd aus. Ich zerre, fummle und hebele, lasse mir erst von ihr, dann auch von ihm helfen. Vergeblich, der Reißverschluss meiner Hose lässt sich nicht öffnen.

Verzweifelt sehe ich zu ihr auf und stottere: „Habt ihr … vielleicht … eine Zange?“

Sie deutet kichernd zur Küche hinüber.

„Unter der Spüle … da müsste … ein roter Werkzeugkasten sein.“

Ich drehe mich in die angezeigte Richtung um und falle kopfüber von der Couch. Über mir geht es derweil ohne mich weiter.

Er hält sie von hinten am Becken fest, flüstert ihr Formeln und Beschwörungen ins Ohr und dringt langsam ihn sie ein. Dass ich ihnen dabei zusehe, scheint die beiden nicht zu stören. Im Gegenteil, es kommt mir vor, als würde es sie antörnen. Doch noch habe ich die sich mir bietende Chance auf einen Dreier nicht aufgeben.

Ich rappele mich hoch, halte mich an der mir entgegenkommenden Stehlampe fest, verliere das Gleichgewicht und krache mit der Schulter gegen den Türrahmen. Diesmal gelingt es mir jedoch, auf den Beinen zu bleiben, was ich als kleinen, aber wichtigen Zwischenerfolg werte.

„Ich bin … gleich … wieder da“, erkläre ich feierlich, reiße mich vom Anblick der sich Liebenden los und stürze wankend in den mit Punktstrahlern erleuchteten Korridor. Auch hier schreien mir selbstgemachte Holzdrucke und farbenfrohe Aquarelle von den Wänden entgegen. Mit halbgeschlossenen Augen kämpfe ich mich bis zur Küche durch. Buntbemalte Kacheln und hochkopierte Fotocollagen springen mich ohne Vorwarnung an. Ich richte meinen Blick zum Boden und taste mich bis zur Spüle vor. Hektisch wühle ich mich durch den Hausrat der Franzosen.

Noch immer bin ich fest entschlossen, den Hebel Richtung Orgie umzulegen. Doch weder unter der Spüle noch in einem der zahlreichen Regale ist so etwas wie ein Werkzeugkasten zu finden. Mein Magen zieht sich zusammen. Mir wird übel. Ich setze mich auf einen der Hocker. Um nicht vornüberzukippen, halte ich mich an der Tischkante fest.

Wieso in aller Welt war mir nur derart schlecht? Hatte ich zu viel genommen? Oder war es die Gesamtsituation, die mir derart zu schaffen machte?

Unter mir schnurrt es. Der Kater bewegt sich zwischen meinen Beinen hindurch und sieht mich verführerisch an. Ich atme ein paarmal kontrolliert aus und versuche erneut aufzustehen. Doch diesmal versagen meine Beine. Henri ist es recht. Er reibt sich weiter an meinen Waden. Dann macht er einen Buckel, streckt sich zweimal und scharwenzelt zum Balkon hinüber. Plötzlich erfasst mich ein unwiderstehlicher Drang, dem Tier zu folgen. Ich lasse mich auf den klebrigen Fußboden plumpsen, ziehe meine Socken aus und krieche dem Kater auf allen Vieren hinterher.

„Nur eine kurze Auszeit, eine ganz, ganz kurze Auszeit“, beruhige ich mich selbst.

Tatsächlich, die kühle Luft tut mir gut. Alle Anspannung fällt von mir ab. Ich lege mich neben Henri, umfasse seinen warmen, gleichmäßig atmenden Körper, schließe für ein paar Sekunden die Augen und schlafe zufrieden ein.

KAPITEL 2

In Mischas Neuköllner Einraumwohnung. Ich liege auf Mischas Diwan und kühle mir die schmerzenden Nebenhöhlen mit einem Eisbeutel. Im Fernsehen läuft Fußball, Milan gegen Manchester.

Mischa schenkt uns beiden Whisky nach. Er sieht mich interessiert an und fragt: „Und, hast du den Toulouser noch flachgelegt? Oder bist du mit dem Kater auf dem Balkon geblieben?“

Mischa ist gebürtiger Moskauer und hat seit kurzem einen deutschen Pass. Nachts verdingt sich der Vater einer sechsjährigen Tochter als Sportkommentator, tagsüber dealt er mit gebrauchter Film- und Tontechnik.

Ich sehe zu Mischa auf und antworte: „So weit ich mich erinnern kann, habe ich niemanden mehr flachgelegt. Stattdessen träumte ich, wie ich als Junge mit meiner Mutter am See baden war. Meine Mutter saß auf einer blaugrün karierten Wolldecke. Sie trug ihren gelben Bikini und sonnte sich. Ich kletterte auf dem alten Sprungturm herum und sprang ein ums andere Mal in den See. Meine Mutter sah mir vom Strand aus zu. Das Klatschen der Wellen, das Lachen der anderen Kinder, alles wirkte so friedlich. Ich kam aus dem Wasser und lief auf meine Mutter zu. Da fing ein Kind an zu weinen. Mehrere Erwachsene versuchten es zu beruhigen. Das Kind aber weinte immer mehr. Es tobte und schrie so intensiv, dass alle anderen Kinder verunsichert aufsahen. Einige stimmten in das Weinen ein. Es war ein furchtbares, herzzerreißendes Geheul. Ich erschrak und wachte auf.“

Mischa fährt sich mit der Rechten über die polierte Glatze.

„Und was ist dann passiert?“

„Ich öffnete die Augen und erschrak ein zweites Mal. Um mich herum standen lauter Kinder. Sie sahen mich von oben herab an und rümpften ihre kleinen Nasen. Als wäre ich Abfall.“

„Aber du sagtest doch, dass du dich auf den Balkon gelegt hattest? Wie können da plötzlich Kinder um dich herum stehen?“

„Es stellte sich heraus, dass der Balkon gar kein Balkon, sondern eine Terrasse war. Diese wiederum grenzte an den Spielplatz des benachbarten Kindergartens.“

„Verstehe“, antwortet Mischa und fragt: „Und bist du wieder zu den beiden in die Wohnung, oder haben die Kindergärtnerinnen deinetwegen die Polizei gerufen?“

„Die Terrassentür war seltsamerweise abgeschlossen. Zum Glück hatte ich noch immer meine Hose an, du weißt ja, der Reißverschluss hatte sich nicht öffnen lassen. Also lief ich ums Haus und klingelte ein paarmal. Da mir jedoch niemand öffnete, entschied ich mich, mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren. Und weil ich kein Geld für eine Fahrkarte hatte, durfte ich barfuß von Weißensee bis nach Stralau laufen.“

Ich deute auf meine Füße.

„Hier, willst du meine Schwielen sehen?“

Mischa verzieht seinen Mund.

„Deine Schwielen interessieren mich nicht. Sag mir lieber, was dein Erlebnis auf der Terrasse mit der Entscheidung, deine Installation zu überarbeiten, zu tun hat.“

Ich nippe an meinem Whisky und sehe meinen russischen Freund einen Moment lang an.

„Dieser Ausdruck in den Gesichtern der Kinder war unglaublich, eine Mischung aus Neugier, Entsetzen und Verachtung. Als wären sie Götter, die auf ihre Schöpfung hinabschauen, teils ungläubig, teils angewidert.“

„Meine Güte, meine Tochter sieht mich auch manchmal an, als könnte sie mir direkt in den Kopf gucken. So etwas kommt immer ein wenig schräg rüber und hat vielleicht sogar einen eigenen Reiz. Aber nochmal, wieso willst du schon wieder alles über den Haufen werfen?“

„Ich bin einfach davon überzeugt, dass meine Installation noch sehr viel besser werden könnte. Ich würde gern noch viel stärker kontrastieren, sowohl bildlich als auch musikalisch.“

„Aber du hattest doch letztens im Club einen Super-Auftritt hingelegt.“

Ich nicke Mischa zu und ziehe entschuldigend die Schultern hoch.

„Ja schon. Aber der Mann, auf den es ankam, ist gar nicht erst erschienen.“

„Der Zoo-Booker ist nicht dagewesen? Und wieso erfahre ich das erst jetzt?“

„Habe ich dir alles gemailt, letzte Woche schon.“

„Ich habe nichts bekommen“, erwidert Mischa und sieht mich verwundert an.

„Ich habe ihn eingeladen, und er ist nicht gekommen. Außerdem hat mir ein befreundeter DJ gesteckt, dass der Zoo-Booker großen Wert auf Exklusivität legt. Mein Installations-Konzept ist aber strenggenommen zwei Jahre alt. Wenn ich also wirklich sichergehen will, dass der Zoo-Booker auf meine Arbeit abfährt, muss ich nochmal gründlich Hand anlegen.“

„Und wo wirst du deine neue Installation präsentieren? Im Hinterhof eures Mietshauses oder auf dem Kinderspielplatz in Weißensee?“

„Auf dem Schwarzlicht-Festival, auf deren Talent-Floor. Da präsentiert sich dieses Jahr der musikalische Nachwuchs Berlins. Zwar gibt es nur eine begrenzte Zahl an Startplätzen, mein Mitbewohner kennt aber die rechte Hand des Veranstalters. Der wird mich entsprechend empfehlen.“

Mischa nickt stumm vor sich hin. Er überlegt einen Moment lang, sieht zu mir und sagt: „Nimm es mir bitte nicht übel, aber meine Entscheidung steht fest. Ich bin nicht mehr in der Lage, dein Projekt weiter zu sponsern.“

Ich trinke einen Schluck Whisky und genieße das kurze, aber intensive Brennen im Rachen.

„Weißt du, Mischa, mein Anspruch an mich selbst ist irgendwie gewachsen. Meine Musik ist viel klarer geworden. Ich spiele jetzt nicht mehr so viel herum, verliere mich nicht im Klein-Klein. Alles folgt einer Linie, auch das Licht und die Videosequenzen ordnen sich einer leitenden Idee unter. Die Leute verstehen das oft nicht sofort, aber sie spüren es irgendwie, also instinktiv. Sie steigen dann unbewusst auf die von mir kreierten Welten ein und lassen sich davontreiben. Dieser Austausch zwischen Zuhörer und Künstler schafft eine unglaubliche Nähe. Deshalb habe ich auch so viele Fans, im Netz.“

„Fans zu haben ist toll. Aber mit Gefällt-mir-Buttons kann man keine Miete zahlen. Oder gibt es eine neue Tauschbörse im Netz, von der ich noch nicht weiß?“

Ich überlege, was ich meinem russischen Freund auf dessen Einwände hin entgegnen könnte.

Mischa aber kommt mir zuvor: „Wie es aussieht, produzierst du mal wieder ins Blaue hinein. Natürlich hoffst du, dass sich der Aufwand am Ende lohnt. Was aber, wenn du keinen Startplatz für dieses Festival zugelost bekommst? Was, wenn der Zoo-Booker wieder nicht kommt? Was, wenn du wie letztes Jahr abstürzt und wieder wochenlang ausfällst?“

„Ich bin gar nicht mehr so unstet. Ich arbeite sehr viel konzentrierter und fühle eine neue Kraft in mir. Eine Kraft, die mich antreibt und mich voranschreiten lässt. Früher wusste ich oft nicht, warum ich eine Entscheidung treffe. Mir fehlte die Selbstsicherheit und die Ruhe. Doch das alles hat sich mit der Perspektive Zoo grundlegend verändert. Jetzt bin ich in der Lage zu sagen, was ich will und wohin es mit meiner Musik und meinen Bildern geht.“

Mischa beugt sich zu mir, schenkt uns Whisky nach und fragt mit süffisantem Lächeln: „Du bist also reif für die ganz große Bühne? Klingt großartig. Ich steige trotzdem aus. Einen Künstler wie dich kann ich mir im Moment einfach nicht leisten.“

„Kein Problem, dich zwingt ja keiner, dabeizubleiben. Obwohl ich es sehr schade finde, dass du mich in so einer wichtigen Situation im Stich lässt. Und ja, ich denke schon, dass ich für den nächsten großen Schritt bereit bin.“

Mischa hebt sein Glas an und prostet mir zu: „Na dann, auf deine neue Kraft und darauf, dass dir das Projekt nicht irgendwann über den Kopf wächst.“

„Was meinst du damit?“, frage ich und sehe Mischa mit schmalen Augen an.

„Nun, wenn man dir so zuhört, könnte man meinen, du seist Christo und Copperfield in einer Person und hättest vor, den Vatikan mit Hilfe eines überdimensionalen Kondoms verschwinden zu lassen.“

Trotzdem wir gut befreundet sind, fühle ich mich ob Mischas unqualifizierter Kritik angegriffen. Auch sein spontaner Rückzug als mein Hauptsponsor schlägt mir gehörig auf den Magen. Ich fixiere den Russen und knurre: „Das ist ja drollig, dass ausgerechnet du findest, dass ich mich zu wichtig nehme?“

Mischa sieht mich überrascht an und fragt zurück: „Wieso, was ist denn mit mir?“

„Na, überleg mal! Erst hintergehst du deine Frau mit ihrer besten Freundin, und kaum, dass Gras über die Sache gewachsen ist, knallst du euer neues Kindermädchen.“

Mischa zieht die Schultern hoch.

„Ja und?“

Dein Vergnügen ist dir das Wichtigste. Platz eins für Mischa und seinen unermüdlich ackernden Freudenstab. Alles andere kommt an zweiter Stelle. So weit du beim Ficken überhaupt bis zwei zählst. Wer nimmt sich hier also zu wichtig, du oder ich?“

Mischa winkt ab und antwortet: „Jetzt übertreibst du aber gehörig. Die Affäre mit der Freundin meiner Frau ist gar nicht mehr aktuell. Und unser neues Kindermädchen habe ich bisher nur einmal vernascht. Abgesehen davon bin ich nicht immer uneingeschränkt glücklich mit dem, was ich tue.“

„Nicht uneingeschränkt glücklich? Was genau soll das heißen?“

„Na ja, manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich als Mormone oder Moslem geboren wäre. Muslime leben nach wie vor polygam und dürfen so viele Frauen haben, wie sie wollen. Als Jude musst du dich inzwischen für eine Einzige entscheiden und dann auch noch bei ihr bleiben. Das wiederum widerspricht meinem Naturell.“

Ich stelle mir Mischa in einem weißen Kaftan und Sandalen vor und muss lachen. Meine innerliche Aggression verpufft.

„Du wärst also lieber Moslem? Du müsstest dann während deines Urlaubs nach Mekka pilgern. Keine besonders leichte Aufgabe, bei deinem Übergewicht.“

„Moslem oder was auch immer. Ich wäre auf jeden Fall gern jemand, der sich und sein Begehren in Bezug auf Frauen nicht ständig moralisch hinterfragen muss.“

Ich schüttle belustigt den Kopf und antworte: „Aber du liebst es doch, moralische Grenzen zu überschreiten, und noch mehr liebst du deinen Genuss.“

„Nun, eigenartigerweise habe ich in letzter Zeit immer mal wieder ein schlechtes Gewissen, vielleicht wäre ich deswegen gern religiöser“, erwidert Mischa.

Ich lehne mich zurück und frage: „Du würdest also freiwillig deine Freiheit und deinen Verstand opfern, nur um im Gegenzug ein klein wenig mehr zur Ruhe zu kommen?“

Mischa rückt ein Stück näher an mich heran.

„Ja, das würde ich. Grenzenlose Freiheit bringt doch auf Dauer eh nur Ärger. Übrigens glaube ich, dass auch dir etwas mehr Spiritualität gut zu Gesicht stehen würde. Sie würde dir Halt geben.“

Ich wende mich kopfschüttelnd ab und sehe zum Fernseher rüber. Der Schiedsrichter hat den Italienern einen Elfmeter zugesprochen. Der Gefoulte schießt selbst – daneben.

„Ich sollte also lieber mit dir in die Synagoge gehen, statt am Wochenende im Club abzuhängen? Glaubst du wirklich, dass mich so ein Schnickschnack weiterbringt?“

Mischa lässt seine linke Hand eine unsichtbare Linie in der Luft nachzeichnen und antwortet: „Na ja, womöglich existiert zwischen deinen exzessiven Abstürzen und deiner unendlichen Sehnsucht nach Anerkennung ja ein Zusammenhang? Ich zumindest habe manchmal den Eindruck, dass du nicht in der Lage bist, dich als Teil von etwas Übergeordnetem zu begreifen. Deshalb fehlt dir auch die nötige Entspanntheit beim Lösen von Problemen.“

„Ich wusste gar nicht, dass du so ein Fan von Hausfrauen-Psychologie geworden bist. Außerdem, was bitte ist so schlimm an meinen exzessiven Abstürzen?“

„Eigentlich nichts. Du lebst das Leben eines Künstlers, so gesehen hast du das Recht, dich ab und an treiben zu lassen oder durchzudrehen“, antwortet Mischa und ergänzt: „Wie gesagt, ab und an, denn sonst besteht die Gefahr, dass du dich verlierst und gar kein Land mehr siehst.“

„Aber du bist doch auch nicht in der Lage, dich einer spirituellen Kraft unterzuordnen. In die Synagoge gehst du doch nur an Feiertagen, und den Talmud, der da so demonstrativ in deinem Bücherregal steht, hast du den etwa gelesen?“

„Es geht doch nicht darum, irgendwelchen religiösen Mustern oder Traditionen zu folgen“, antwortet Mischa.

„Um was geht es denn?“, frage ich.

„Es geht darum, zu wissen, wer man ist und wo man hingehört.“

„Ach, und du weißt, wo du hingehörst?“

„Na logisch weiß ich das. Ich hintergehe zwar gelegentlich meine Frau, und ja, sie hat mich gerade aus unserer gemeinsamen Wohnung rausgeschmissen. Aber prinzipiell weiß ich, wo ich hingehöre und welchen Prioritäten ich mich unterzuordnen habe. Ich bin verheiratet, habe eine kleine Tochter, lebe für meine Familie und glaube an die Selbstverwirklichung innerhalb der kapitalistischen Konsumgesellschaft.“

„Gerade noch wolltest du zum Islam wechseln, um tausendundeine Frau zu knallen, und nun erklärst du mir, dass dir deine Familie am wichtigsten ist?“

Mischa breitet die Arme aus und lächelt mich zufrieden an.

„So ist es, mein Freund.“

Ich schüttle genervt den Kopf und versuche, das Gesagte nicht an mich heranzulassen. Zu spät, gnadenlos wechselt mein Hirn in seinen Frage-Terror-Modus: ‚War mein Lebenswandel tatsächlich derart unstet? Neigte ich in Bezug auf meine Arbeit deshalb zu chronischen Neustarts? Stand ich mir am Ende gar selbst im Weg?‘

Da mein Kopf mich regelmäßig auf diese Weise ins Kreuzverhör nahm, wusste ich, was in solchen Momenten zu tun war. Es galt, die unangenehmen Fragen mit Alkohol und niederer Unterhaltung zu torpedieren, so lange, bis diese sich verpisst hatten.

Nach einer Viertelstunde konzentrierten Fußballschauens und zwei doppelten Single Malt habe ich meine Gedanken endlich wieder im Griff.

Mein Kopf ist befriedet und ich der Überzeugung, dass alles nur eine Frage der Zeit und des sich verändernden Energieflusses ist und es sich definitiv nicht lohnt, sich von Mischas kruden Hypothesen den Abend versauen zu lassen. Schon in wenigen Tagen würden sich meine Endorphin-Depots regeneriert haben. Dann würde sich alles wie von selbst finden. Es gab also keinerlei Grund, sich derart verunsichern zu lassen.

Entspannt sehe ich zu Mischa, deute auf die vor dem Bücherregal stehende schwarze Reisetasche und frage: „Dein neues Mikrofonset ist aber auch dabei, oder hast du das vorsorglich rausgenommen?“

Mischa überlegt einen Moment lang.

„Nein, mein neues Set ist nicht dabei.“

„Aber ein einheitliches Mikrofonset würde mir meine Arbeit deutlich erleichtern.“

„Du wolltest mit vier herkömmlichen Mikrofonen eine Flächenatmosphäre nachstellen. Deshalb habe ich dir vier Mikrofone besorgt. Von meinem neuen Set war nie die Rede. Außerdem kannst du dir so ein hochwertiges Mikroset gar nicht leisten.“

„Wie viel muss ich denn abdrücken, wenn das neue Set nicht dabei ist?“

„Dreihundertfünfzig.“

„Aber so viel habe ich gar nicht.“

„Du kannst mir die Miete in Raten zu je fünfzig Euro abstottern, vorausgesetzt, du zahlst einen Hunderter an.“

Ich hole mein Portemonnaie hervor und versuche, mir einen Überblick über meine Barbestände zu machen.

„Wenn ich dir einen Hunderter anzahle, bin ich faktisch pleite.“

„Keine Hände, keine Kekse“, antwortet Mischa und dreht den Ton des Fernsehers lauter.

„Und ich dachte, wir sind Freunde. Oder hat der Mann, der an die Selbstverwirklichung innerhalb der Konsumgesellschaft glaubt und sich weigert, weiter Geld in meine Installation zu investieren, keine Freunde?“

„Natürlich sind wir Freunde, mein Lieber. Deshalb mache ich dir ja auch einen Freundschaftspreis“, erwidert Mischa.

„Dreihundertfünfzig, das ist doch kein Freundschaftspreis. Dafür könnte ich den Schrott ja schon fast kaufen“, antworte ich.

„Dann kaufe ihn dir doch, den Schrott. Dann musst du auch kein Geld mehr für Technikmiete ausgeben“, erwidert Mischa gereizt.

„Schon gut. Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen. Ich bin nur gerade etwas knapp bei Kasse. Es wäre daher schön, wenn du mir den Gesamtbetrag stunden könntest?“

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