Kitabı oku: «Licht aus!»
Vom Autor bisher bei KBV erschienen:
Vorhang zu!
André Storm (Pseudonym), geb. 1974, ist Profizauberkünstler aus Hamm in Westfalen. Seinen »ordentlichen« Beruf hat er schnell abgelegt, und er freut sich noch heute jeden Tag, dass er das Studium zum Elektroingenieur rechtzeitig abgebrochen hat. Sein Schreibtalent nutzte er in den letzten Jahren dafür, in seinen Shows »Helden« auf die Bühne zu bringen, denen man ihre Heldenhaftigkeit auf den ersten Blick nicht unbedingt ansehen kann. Sein Krimidebüt Vorhang zu! erschien 2020 bei KBV. André Storm ist verheiratet und hat zwei Kinder.
André Storm
LICHT AUS!
Kriminalroman
Originalausgabe
© 2021 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de E-Mail: info@kbv-verlag.de Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von © Pixel-Shot - stock.adobe.com Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-560-1
E-Book-ISBN 978-3-95441-569-4
Für Nick und Emily
Auf der anderen Seite des Lichts? Ist es dunkel.
Peter Rudl
Inhalt
Über den Autor
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
EPILOG
DANKSAGUNG
PROLOG
Erwachen. Er vernahm ein fernes, gedehntes Stöhnen und stellte im gleichen Augenblick fest, dass er selbst es war, der dieses Geräusch von sich gab. Er öffnete die Augen. Zumindest fühlte es sich so an. Sein Sehsinn war nicht in der Lage, einen Unterschied auszumachen. Um ihn herum herrschte Dunkelheit. Mit dem Geräusch, welches als Nächstes das eingeschränkte Feld seiner Wahrnehmung erreichte, kam die Erinnerung.
Er lag im Kofferraum eines fahrenden Autos. Seine Hand versuchte, die pochende Stelle am Hals zu berühren, an der ihm der Entführer den Elektroschocker an den Hals gesetzt hatte. Handschellen. Die Hände auf dem Rücken gefesselt. Ein Anflug von Panik wischte die Benommenheit beiseite, die ihm bis jetzt eine Art tauber Distanz bei der Einschätzung seiner Lage verliehen hatte. Er zappelte, zerrte wirkungslos an den Fesseln. Schrie.
Als er glaubte, das Entsetzen könne sich unmöglich steigern, wurde der Wagen langsamer. Er hörte, wie feiner Kies an die Innenseiten der Radkästen schlug, als die Reifen zum Stehen kamen. Das Motorengeräusch verebbte. Stille um ihn herum.
KAPITEL 1
Das Kapitel, in dem Ben wartet, wartet und wartet – und dann den Flugverkehr über Dortmund gefährdet
Ben sah auf die große Wanduhr, die sich auch wunderbar im Wartesaal eines Vorstadtbahnhofs gemacht hätte. 9:33 Uhr. Genau eine Minute später als das letzte Mal, als er nachgesehen hatte, und zwei Minuten später als das vorletzte. Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, dann lehnte er sich im Bürostuhl zurück, dessen in die Jahre gekommene Scharniere ein angestrengtes Seufzen von sich gaben.
»Der kommt wohl nicht mehr«, gestand er sich ein. Auch ein weiterer Blick zur Uhr, die nach wie vor auf 9:33 Uhr stand, vermochte an diesem Sachverhalt nichts zu ändern. Er stieß ein verärgertes Schnauben aus.
»Wie hieß der Kerl noch?« Er zog die Tastatur näher zu sich heran und öffnete die Google-Suchmaske auf dem Monitor. »Ivo …«, murmelte er und tippte mit seinem Zeigefinger die drei Buchstaben ein. »Ivo … nicht Einstein … äh … Sunstein. Ja, Sunstein war es, glaub ich.« Ben erwartete nicht, dass er mit seiner Recherche Erfolg haben würde, er hielt es mehr für einen Zeitvertreib. Sein Neun-Uhr-Termin hatte am Telefon mit aufgeregter Stimme davon gesprochen, dass er in einem Hotel in der Nähe von Bens Detektei wohne und, so wörtlich, »dringend mal rüberkommen« müsse. Es handle sich um etwas, »mit dem er nicht zur Polizei gehen« könne. Bei der Detektei handelte es sich in Wahrheit um Bens »Büro-Schrägstrich-Probenraum«, in dem er seine Shows einstudierte, Angebote schrieb und Telefonate führte. Etwas über ein Jahr war es her, dass Ben Pruss, seines Zeichens Zauberkünstler mit mäßigem Erfolg, den, wie die Presse ihn titulierte, Varieté-Killer festgesetzt hatte. Seitdem verdingte er sich nebenberuflich als Privatdetektiv, und damit war sein Büro/Probenraum eben zu einem (Detektiv-)Büro/Probenraum avanciert.
Ben hatte sich einen rollbaren Riesenstadtplan von Dortmund im Format 250 x 200 cm an die Seitenwand gehängt, den ihm sein Kumpel Dennis auf fragwürdigen Wegen aus dem Fundus ihrer alten Schule besorgt hatte. Er diente einzig dazu, die beiden Zauberplakate von Houdini und Dante zu verdecken – und im günstigsten Fall, um etwas Eindruck zu schinden. Zur Steigerung der Dramatik hatte er an einigen Stellen des Plans kleine rote Klebepfeile angebracht, die dem interessierten Betrachter suggerierten, dass dort ein bedeutungsvoller Ort in einem von Bens zahlreichen Fällen zu finden sei. Um die Idee der zahlreichen Fälle im Kopf seiner Besucher zu festigen, hatte er die Sammlung seiner Zauberzeitschriften in ein offenes Hängeordnersystem sortiert. Die Reiter der Ordner waren fantasievoll beschriftet, unter anderem mit Titeln wie Schulz gegen Schulz, Kapitalsache Reuter, Diebstahl KBV und natürlich Zack Varieté. Wenn Ben auch noch immer nicht viel von seinem neuen Job wusste, so hatte er doch schnell gemerkt, dass ein klein wenig Show auch hierbei Wunder wirkte.
Nachdem er den Nachnamen in das weiße Feld der Suchmaschine getippt hatte, drückte er die Entertaste. 235.000 Ergebnisse. Ben gab einen Grunzlaut von sich und ergänzte seine Suchanfrage um das Wort Dortmund. Siehe da, durch diesen Kunstgriff detektivischer Recherche (der Ben ein überlegenes Grinsen und ein gehauchtes »Yes, Baby!« entlockte) dezimierte sich das Suchergebnis auf schlappe 809. Er überflog die Treffer auf der ersten Seite. Ivo tauchte auf und auch Sunstein. Aber immer waren es Ivos mit anderen Nachnamen oder Sunsteins mit anderen Vornamen, die der knappe Textschnipsel unter dem blau gefärbten Webseitenlink anzeigte.
Ben klickte auf die 2 am Ende der Webseite, und weitere Suchergebnisse erschienen. Der oberste Eintrag erregte seine Aufmerksamkeit. AStA Copyshop Dortmund lautete dieser, und darunter stand in etwas kleinerer Schriftart Unsere Mitarbeiter: Horst Dellwig, Anke Pahl und Ivo Sunstein …. Ein weiterer Klick, und Ben gelangte auf die entsprechende Seite. Ihr Inhalt wartete nicht mit viel mehr Information auf als der Google-Schnipsel, enthielt aber zusätzlich die Adresse und Telefonnummer. Er griff zum Hörer seines ockerfarbenen Telefons, welches er ein paar Monate zuvor in einem Second-Hand-Laden gekauft hatte. Neben vielen geheimnisvollen Zusatzknöpfen besaß es ein kleines, graues Display. Ben hatte zwar keine Ahnung, wofür das ganze Zeug gut war (zumal weder das Display noch die Knöpfchen irgendeine Funktion zu haben schienen), doch er fand, dass es veritabel nach Chef aussah. Er tippte die Nummer ein, die auf dem Monitor angezeigt wurde.
»Ja?«, meldete sich eine gereizt klingende Männerstimme. Ben fand den Klang durchaus verständlich, zog man in Betracht, dass es sich bei dem jungen Mann höchstwahrscheinlich um einen Studenten handelte und der Tag noch recht jung (mittlerweile 9:36 Uhr) und ungemütlich kühl war.
»Hallo, Ben hier«, eröffnete er und gab sich Mühe, wie ein Studienkollege zu klingen. »Ich wollte Ivo sprechen.«
»Ist nich da. Hat eigentlich Dienst seit acht Uhr heute, aber der Arsch ist nich jekommen. Ick musste einspringen. Hab eben offen jemacht. Die ham mich hier aus dem Bett jeklingelt. Schlange vor de Tür bis zur Mensa. Elende Scheiße. Hab jar keine Zeit für so wat. Der Sack liecht mit Sicherheit wieder unter irgend nem Balkon.«
Ben hielt den Hörer beim Monolog des offenbar aus Berlin stammenden Herrn ein Stück weit vom Ohr entfernt. »Na jut. Äh, na gut«, antwortete er und sparte sich die Frage, warum Ivo Sunstein »unter irgendeinem Balkon« liegen sollte. Stattdessen fragte er: »Hast du vielleicht seine Telefonnummer?«
»Nee. Hab ick nich, deswejen ham ja alle bei mir anjerufen. Seine Adresse kannste von mir aus haben. Wohnt inner Bornstraße 92, det weeß ick. Direkt neben den Hannibal. Hau ihm eine rein von mir, wenn de ne siehst.«
Ben bedankte sich und legte auf. Das von den Dortmundern Hannibal genannte Hochhaus kannte er. In seiner unvergleichlichen terrassenförmigen Bauweise war es eine der berühmtesten Bausünden der frühen Siebziger.
Sobald die Zeitungen voll waren von der Story über den jungen Privatdetektiv Ben Pruss, der den Varieté-Killer zur Strecke gebracht hatte, trudelten fast täglich irgendwelche Anfragen bei ihm ein. Vorwiegend von gehörnten Ehefrauen und -männern oder betrogenen Firmenbossen, die sich sicher waren, dass sich ihr »kranker« Mitarbeiter in Wirklichkeit nebenbei den ein oder anderen Euro dazuverdiente, während in der Firma jede Woche ein neuer gelber Schein hereinflatterte. Ein weiterer positiver Nebeneffekt war, dass auch die Zauberei plötzlich wieder prächtig lief. Es schien als schick zu gelten, sich seinen sechzigsten Geburtstag von dem Mann bespaßen zu lassen, der drei Leute vor dem nahezu sicheren Tod gerettet und einen Mörder überführt und dingfest gemacht hatte. Doch wie es meistens im Leben ist, dauern die angenehmen Zeiten nicht ewig an. Nach knapp zwei Monaten ebbte das Interesse an Ben und seinem Dienstleistungsspektrum wieder ab.
Genau das war der Grund, warum er die Zeit und Muße hatte, an diesem Morgen vor Haus Nummer 92 in der Bornstraße aufzutauchen und der Frage nachzugehen, warum der Kerl, der um neun einen Termin mit ihm ausgemacht hatte, unverschämterweise nicht aufgetaucht war. Während Ben auf das verwitterte Tastenfeld mit den zehn Klingeln starrte und nach dem Namen Sunstein fahndete, stellte er sich die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit sei, dass dies gar nicht sein Ivo Sunstein war, sondern ein ganz anderer? Schließlich hatte seiner ja ein Hotel erwähnt.
»Trotzdem. Nicht sehr groß bei dem Namen«, murmelte er vor sich hin, als er das schwarze Schildchen mit den eingestanzten weißen Buchstaben I. Sunstein oben links im Tastenfeld ausmachte. »Na bravo, ganz oben.« Ben klingelte und wartete. Dann klingelte er erneut und wartete wieder. Niemand öffnete.
Er ging zurück auf den Bürgersteig und blickte an der verwitterten, grauen und in den ersten zwei Metern mit einem farbenfrohen All Cops Are Bastards verkündenden graffitbeschmierten Hauswand hinauf. Das Treppenhaus teilte das Haus in zwei Hälften mit jeweils fünf Wohnungen auf beiden Seiten. Ben nahm an, dass Ivo im Dachgeschoss links wohnte. Die Fenster auf der rechten Seite glänzten, als wären sie von Meister Propper persönlich gewienert worden, während die Fenster auf der linken Seite schon seit Langem keinen Putzlappen mehr zu Gesicht bekommen hatten. Gardinen waren ebenfalls Fehlanzeige – genau wie bei Ben zu Hause. Er rümpfte die Nase, immer noch den Blick nach oben gerichtet, und überlegte, was zu tun sei, als sich die Haustür knarzend und quälend langsam nach innen öffnete. Eine gepflegt wirkende, ältere Dame in weißer Bluse, altrosa Daunenweste und hautenger Jeans verließ das Haus und musterte Ben. Sie kam um einiges leichtfüßiger auf ihn zu, als er es nach der umständlichen Türöffnungszeremonie erwartet hatte.
»Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?«
Ben erwiderte ihr verschmitztes Lächeln und antwortete: »Ich suche Herrn Sunstein. Wissen Sie zufällig, wo der ist?«
»Nein, tut mir leid. Ich teile mir nur eine Etage mit diesem Herrn, ansonsten pflegen wir keinen Kontakt.« Ihr Gesichtsausdruck war in dem Moment einen Hauch finsterer geworden. Die Art, wie sie »mit diesem Herrn« ausgesprochen hatte, fachte Bens Interesse weiter an. »Sie mögen ihn wohl nicht besonders?«
»Sind Sie ein Freund von ihm?«
»Ich kenne ihn gar nicht. Ich habe jetzt eigentlich einen beruflichen Termin mit ihm, deswegen wundere ich mich, dass er nicht zu Hause ist.«
Die ältere Dame verdrehte die Augen und zog ihre Stirn in Falten. Dann sagte sie mit einer Stimme, die deutlich pikiert klang: »Vielleicht sollten Sie es mal bei der Polizei versuchen? Dort hält er sich hin und wieder auf.«
Polizei? Das passte! Ivo Sunstein hatte ihm gegenüber angedeutet, dass er eine Geschichte zu erzählen habe, mit der er sich nicht an die Polizei wenden könne. Er lachte. »Oh. Auf welcher Seite der Gitterstäbe denn?«
Nun lachte auch die Frau und trat ein Stück näher an Ben heran. Mit konspirativer Stimme, obwohl sich weit und breit keine weitere Person in Hörweite befand, raunte sie: »Sowohl als auch. Sie müssen wissen, dass der Herr nicht ganz richtig im Kopf ist.« Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, drehte sie eine imaginäre Kurbel an ihrer rechten Schläfe. »Ständig ruft der die Polizei an und zeigt irgendwelche Frauen an. Wegen Falschparken oder wenn die den Hundedreck nicht vom Bürgersteig nehmen. Nur Frauen! Ich hab das genau gehört.« Sie zwinkerte Ben geheimnistuerisch zu. »Durch die Tür. Zwei Polizisten waren neulich da und haben ihm klipp und klar Bescheid gegeben, dass er das sein lassen soll, weil sie andere Dinge zu tun hätten, als ihm hinterherzurennen. Und er sollte sich von irgendeiner Frau fernhalten, der er nachgestiegen ist, wissen Sie? Nachgestiegen!« Sie schüttelte empört den Kopf.
»Nachgestiegen?«, wiederholte Ben.
»Ja! Gestalkt hat der die. So was gab’s früher gar nicht. Hab ich neulich noch bei Aktenzeichen XY gehört. Deswegen war der auch mal im Knast.«
»Da haben Sie ja so einiges mitbekommen«, antwortete Ben und gab sich Mühe, die Anerkennung, die er empfand, möglichst kraftvoll zum Ausdruck zu bringen.
»Ich finde immer, wenn es was Interessantes gibt, muss man die Ohren spitzen, oder?«
»So ist es«, erwiderte Ben und fragte: »Hat er Sie auch belästigt?«
»Mich? Nee. Ich bin ihm wohl zu alt. Oder zu hässlich … Zum Glück.« Wieder zwinkerte sie Ben zu.
»Kann gar nicht sein«, sagte Ben lächelnd. »Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesehen?«
»Jetzt klingen Sie selber wie einer von der Polizei. Warten Sie mal.« Sie überlegte einige Sekunden, bevor sie antwortete: »Das war am Montag. Montagnachmittag.« Und als könnte Ben nicht wissen, welcher Tag heute war, schob sie hinterher: »Vorgestern war das. Vorgestern Nachmittag.« Sie nickte und trat zwei Schritte zurück. »So, ich muss dann auch los, sonst verpass ich den Bus.«
Ben bedankte sich und lief zurück zu seinem in die Jahre gekommenen Ford Fiesta, den er nicht weit vom Hauseingang entfernt in einer Parklücke abgestellt hatte. Von hier aus war es möglich, den Eingangsbereich perfekt einzusehen. In den letzten Monaten hatte er einige Erfahrungen mit Observationen gemacht und festgestellt, dass er diese für einen Privatdetektiv absolut unerlässliche Arbeit gar nicht so übel fand. Langeweile war kein Problem für ihn. Sein Gehirn wechselte dabei nach einiger Zeit in eine Art meditativen Stand-by-Modus, in dem das Denken weitgehend abgeschaltet war und nur noch seine Sinne funktionierten. Ein Zustand vollster Aufmerksamkeit, den er als äußerst angenehm empfand. So angenehm, dass er beim letzten Mal fast vergessen hätte, die Verfolgung aufzunehmen, als sich seine Zielperson nach zwei Stunden endlich gezeigt hatte. Was schade gewesen wäre, denn der Kerl war mit seinem BMW direkt zu einem Hotel gejagt, hatte unter dem falschen Namen Heiko Eiermann eingecheckt und kurze Zeit später, in einen seidenen Bademantel gehüllt, zwei aufreizend gekleidete, junge Damen empfangen. Ein paar Schnappschüsse von der Begrüßungszeremonie an der Zimmertür reichten, um den Verdacht der Ehefrau zu erhärten und zwei Dortmunder Scheidungsanwälte glücklich zu machen.
Observationen waren eindeutig sein Ding. Und in dem Kurs, den er besuchte (acht Wochenenden an einer Akademie in Köln, siebenundzwanzig Lerneinheiten per E-Mail und zwei praktische sowie zwei theoretische Prüfungen zum zertifizierten Privatdetektiv) wurde das Thema ebenfalls behandelt. Ben war sich bewusst, dass eine Beschattung in diesem Fall eigentlich nicht angebracht war. Observationen wurden dann durchgeführt, wenn
a) gesichert war, dass die Zielperson sich im Haus befand und innerhalb einer überschaubaren Zeitspanne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Haus wieder verlassen würde, oder
b) gesichert war, dass die Zielperson das Haus innerhalb einer überschaubaren Zeitspanne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder betreten würde.
Was für ein Fall?, fragte er sich und gab sich gleich selbst die Antwort. Es gab überhaupt keinen Fall. Es gab allenfalls einen Termin, der nicht wahrgenommen wurde – und fertig. Er saß hier einzig und alleine deswegen rum, weil er sonst nichts zu tun hatte.
Das Wort Stalker kam ihm wieder in den Sinn, und es fiel ihm schwer, die Parallele zu seinem eigenen Verhalten zu verleugnen. Aber irgendetwas reizte ihn an dieser Sache. Sollte er sein Besteck rausholen und die Tür zu Sunsteins Wohnung knacken? Eher nicht. Doch dann kam ihm eine andere Idee. Er kramte in der Hosentasche nach seinem Huawei-Handy und forderte zweimal erfolglos: »Okay, Google, ruf Kai Siebert an!«, woraufhin er das Telefon auf althergebrachte Weise durch Wischen entsperrte und Kais Nummer per Hand aus den Kontakten raussuchte.
»Da siehst du doch nichts, wenn ich da ranfliege, Alter. Guck dir mal die dreckigen Fensterscheiben an. Lass uns lieber einsteigen wie beim Schottner damals.« Kai schaute Ben herausfordernd und mit einem maliziösen Funkeln in den Augen an. In seiner Hand hielt er einen DJI Inspire 2 Quadrocopter mit eingebauter X4S-Kamera, das Neueste vom Neuesten. Ben war die Idee gekommen, sie könnten mit der Drohne die Fenster abfliegen, um sich auf diese Weise ein Bild von den Innenräumen von Ivo Sunsteins Wohnung zu machen. Möglicherweise lag der Bewohner ja tot oder hilflos in einem der Räume. Nach dem, was Ben von diesem Typen gehört hatte, hielt er solch eine Variante für durchaus möglich. Er hatte Kai die Situation am Telefon geschildert, und der war kurzerhand – Gott segne die Freiberuflichkeit – angerückt. Nicht ohne Ben empört darauf hinzuweisen, dass es sich bei seinem Fluggerät nicht um eine herkömmliche Drohne handele, sondern um einen Highend-Quadcopter der – so wörtlich – Extraklasse. Ben quittierte diese klare Ansage mit einem wortreichen »Mmmh« und legte auf. Er hatte drauf gewettet, dass Kai sich gleich auf den Weg machen würde. Erstens wartete dieser ständig auf einen Grund, seinen Highend-Dingsda sinnvoll einsetzen zu können (das Dortmunder U und den Phönixsee hatte er tausendfach zu allen Tages-, Nacht- und Jahreszeiten auf Film sowie Foto gebannt). Und zweitens hatte er selten etwas so Dringendes zu erledigen, das nicht bequem noch ein paar Stunden, Tage oder Wochen verschoben werden konnte. Nur sporadisch arbeitete er als Programmierer an irgendwelchen Projekten und traf sich vor und nach der Arbeit am Laptop mit merkwürdigen Typen, die immer ein Handy am Ohr und eine dicke Geldbörse in der Arschtasche hatten und stets in bar bezahlten. Ein Umstand, der dafür sorgte, dass Kai ebenfalls immer über genug Barreserven verfügte und sich ab und zu solche Spielereien wie den Drohnentestsieger, pardon Quadcopter-Testsieger, leistete.
Kai hatte irgendwann im letzten Jahr bei Ben geklingelt und gefragt, ob er ein paar Tage bei ihm übernachten könne, nachdem er von seiner Freundin Steffi vor die Tür gesetzt worden war. Aus diesen paar Tagen war nun ein Fünkchen mehr als ein Jahr geworden, und Kai machte keine Anstalten, an dieser Situation etwas ändern zu wollen.
»Klar. Ich breche mit dir da ein, und dann landen wir wieder unter irgendeinem hundert Jahre zugestaubten Bett. Nee danke, einmal hat mir das gereicht«, antwortete Ben auf Kais Vorschlag, lieber gleich in die Wohnung einzusteigen.
»Auch wieder wahr. Hast du dich hier schon mal umgesehen? Lass mal hinters Haus gehen, da wird der gute Herr ja auch noch ein paar Fenster haben, und da fallen wir nicht gleich auf.«
Sie gingen die gepflasterte Einfahrt neben dem Haus entlang, der zum Garagenhof führte. Jeweils vier Garagen mit alten, zigfach überstrichenen, grauen Holztoren standen sich hier vis-à-vis gegenüber. »Entweder hat der kein Auto, oder er ist weggefahren«, sagte Ben, der auf eine offene Garage deutete, deren gemauerte und weiß gekalkte Innenwand die krakelige Beschriftung DG links trug.
»Sie verfügen über eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe, Ben Pruss«, feixte Kai in Bens Richtung.
Wenn das Haus schon von der Vorderseite kein Schmuckstück war, war es von der Rückseite ein Schandfleck. Der Putz war hier so dunkelgrau verfärbt, als hätte über Jahrzehnte ein Kohleofen seinen Ruß direkt auf die Hauswand gepustet. Da das Haus wahrscheinlich aus den Fünfzigerjahren stammte und in einer Hochburg des Kohlenpotts stand, war diese Erklärung durchaus plausibel. Neben dem Eingang zum Keller und den brav aufgereihten Mülltonnen gab es einen schmalen, mit Waschbetonplatten ausgelegten Patt, der in früheren Zeiten dazu gedient hatte, die Kohlen in der Schubkarre bis vor die Kellerfenster zu schieben. Daneben lag ein vermoostes Rasenstück mit Wäschespinne, auf die eine tüchtige Hausfrau sechs blütenweiße Laken zum Trocknen aufgehängt hatte.
»Lass da hinter die Laken stellen. Da sieht man uns nicht sofort.« Ben hatte sich an Kais Redeweise gewöhnt, der gerne Wörter wie uns, ich und wir in seinen Sätzen unter den Tisch fallen ließ, wenn sie für das grundlegende Verständnis nicht unabdingbar waren.
Im Schutze der sanft vor sich hinflatternden und aprilfrisch duftenden Laken setzte Kai die Drohne auf die Wiese und startete sie mit der Fernbedienung, die, durch einen um sein Genick geschlungenen Nylonriemen gehalten, vor seinem Bauch hing. Sanft und nahezu geräuschlos erhob sie sich gut einen Meter in die Luft. Auf dem hochauflösenden Monitor war das gestochen scharfe Bild ihrer Beine und ein Stück des Rasens zu erkennen. Kai drückte den Schalthebel nach vorne, und die Drohne schwebte Meter um Meter weiter in die Höhe. Nach wenigen Sekunden stabilisierte Kai sie auf Sunsteins Fensterniveau. Langsam ließ er sie in Richtung des ersten Fensters gleiten und kurz davor stoppen. Wie ein übergroßes Insekt hing das Gerät lautlos in der Luft. Über einen weiteren Schalthebel ließ sich die Kamera in jede beliebige Richtung schwenken sowie raus- und reinzoomen.
»360 Grad«, sagte Kai mit hörbarem Stolz in der Stimme, als er mit der Kamera eine Rundumsicht auf den Bildschirm zauberte.
»Schlafzimmer«, sagte Ben und meinte den Raum hinter der Glasscheibe, der soeben auf dem Monitor ins Blickfeld rückte.
»Bin ich froh, dass wir nicht bei dem unterm Bett liegen müssen«, murmelte Kai, der soeben auf einen geöffneten Pizzakarton mit einem vergammelten Stück Thunfischpizza gezoomt hatte. Drei zur Hälfte gerauchte Zigarettenkippen steckten darauf wie groteske Wunderkerzen auf einer absonderlichen Torte. »Mmmh. Lecker!«, meine Ben.
»Ja. Im Aschenbecher war eben kein Platz mehr.« Der quoll in der Tat von Zigarettenkippen über, genau wie die Schachtel, die daneben lag und in der die Zigaretten ursprünglich mal gesteckt hatten. »Sunny & Steyn raucht der. Passt ja! Ich wusste gar nicht, dass es die Marke noch gibt«, sagte Kai.
Sunsteins Bett sah aus, als wäre ihm erst gerade jemand entstiegen, der dort eine verdammt wilde Nacht verbracht hatte. Die Wände waren behangen mit Faltpostern aus diversen Männermagazinen neben drei Working Girls-Pin-up-Kalendern aus den Jahren 2011 bis 2013. Der größte Schatz im Raum war ein Großbildfernseher, der an der dem Bett gegenüberliegenden Seite an der Wand prangte und mit etlichen futuristisch anmutenden Lautsprechern verbunden war. Durch die Kamera wirkte es auf Ben, als wäre die Mattscheibe im Gegensatz zu allem, wirklich allem anderen im Raum, staubfrei und blitzblank. Der Typ setzte Prioritäten, ging es Ben durch den Kopf. Unter der Mörderglotze standen mehrere Gerätschaften, die wild untereinander und mit dem Fernseher verkabelt waren. Ein Gegenstand, der weitgehend vom Bett verdeckt war, erregte Kais Aufmerksamkeit, und er zoomte ihn ran. Beide erkannten gleichzeitig die breit ausgestreckten Beine einer gelblich blonden Gummipuppe, die ihren Mund zu einem immerwährenden, wollüstigen O verzogen hatte.
»Äääääh!«, machten beide gleichzeitig, als Kai die Kamera instinktiv wieder auf den Kalender lenkte, der mit einer jungen Blondine, die nichts weiter als einen gelben Helm, eine blaue Latzhose und High Heels trug, weitaus gefälliger auf die beiden wirkte.
»So hochauflösend müsste die Kamera gar nicht sein, wenn du mich fragst«, sagte Ben angeekelt. »Flieg mal ans nächste Fenster.«
Kai drückte den Hebel nach rechts, und einen Moment später rückte die Küche ins Bild, deren Anblick ebenfalls nicht die Lust weckte, sich spontan eine Schürze umzuwerfen und mit Gusto ein pikantes Szegediner Gulasch zu zaubern. Bergeweise schmutziges Geschirr, offene Ravioli-Dosen, eine vertrocknete Scheibe Mortadella, die man in ihrem Zustand wunderbar als Türkeil verwenden konnte, weitere drei, nein, vier, fünf Pizzakartons und ein Kühlschrank, der schon von außen so versifft aussah, dass Ben dankbar war, dass er dessen garantiert äußerst vitales Innenleben nicht sehen musste … Sechs Pizzakartons.
»Zum Glück ist das nächste Fenster Riffelglas. Sein Scheißhaus will ich mir, ehrlich gesagt, nicht ansehen«, sagte Kai.
»Dann lass uns auf die andere Seite gehen, vielleicht sehen wir im Wohnzimmer was Interessanteres.«
»Entspann dich«, sagte Kai und blickte hoch zur Drohne, die er soeben über das Dachniveau hatte steigen lassen. »Ich bin auch ein Ass im Blindflug.« Er senkte den Blick zurück auf den Monitor, und Ben sah, wie das Fluggerät hinter dem Dach in Richtung Straßenseite verschwand. »Mit der geilen Cam geht das wie geschmiert.«
Kaum ausgesprochen, kamen nach wenigen Sekunden, in denen nur vermooste Dachziegel zu bestaunen waren, die Fenster ins Bild. Dahinter ein Raum, der nach Vorstellung von Architekt und Vermieter wohl das Wohnzimmer sein sollte. Es gab hier sogar eine Couch und einen weiteren Großbildfernseher, doch der eigentliche Blickfang war die Wandseite gegenüber den Fenstern. Ben und Kai schauten ungläubig auf das Bild des Monitors. Die Wand war über und über mit Fotos beklebt. Großformatige, kleinformatige, einige gerahmt, der Großteil direkt auf die Wand geklebt.
Ben stieß ein tonloses Pfeifen aus. »Das müssen ja Hunderte sein.«
»Ziemlich genau dreihundert.«
»Wie kommst du denn da drauf?«
Kai schaute Ben mitfühlend an. »Zwanzig Stück in der Breite und fünfzehn in der Höhe. Macht dreihundert. Etwas weniger wegen den paar Gerahmten und den Großen. Ich kann zählen.« Er blickte wieder auf den Monitor. »Und rechnen.«
»Du guckst wie Bambi«, sagte Ben schnippisch und fuhr fort: »Wie es aussieht, hat unser Freund echte Probleme mit Frauen.«
»Zumindest mit einer Frau«, antwortete Kai, der näher an die Fotos heranzoomte. Jetzt wurde deutlich, dass es sich bei allen Motiven um ein und dieselbe Frau handelte. Eine junge Dame mit langen, platinblonden Haaren. Auf einigen Fotos trug sie sie offen, auf anderen zu einem Zopf oder zwei Zöpfen gebunden, manchmal locker, manchmal streng gescheitelt. Auf wieder anderen trug sie einen Dutt. Hin und wieder war sie in aufregender Abendkleidung zu sehen, dann in Schlabberlook. Auf einigen Bildern trug sie nur Unterwäsche oder nichts weiter als ein Badehandtuch um die Brust. Die meisten Motive wirkten, als wüsste die Frau nicht, dass sie fotografiert wurde. Ben und Kai sahen sich mit hochgezogenen Brauen an.
Dann meinte Kai: »Ich fotografiere den Kram mal ab. Vielleicht finden wir raus, wer das ist.«
Einige Minuten starrten sie beide nur auf den Monitor, während Kai die Drohne millimetergenau justierte und einzelne Abschnitte der Wand fotografierte. Dann hob er das Fluggerät wieder über Dachniveau und ließ es langsam zur rückwärtigen Hausseite und wieder in ihr Sichtfeld gleiten.
»So, runter das Teil und ab nach Hause.«
»Warte noch«, sagte Kai und lenkte die Drohne zurück an das Schlafzimmerfenster. »Ich will noch dieses Mädel in Latzhose fotografieren, die sieht echt Hammer aus!«
»Ach hör doch auf mit diesem Kinderkram! Lass uns abhauen. Sei froh, dass wir nicht gesehen worden sind.«
»Was machen Sie denn hier?«, gellte eine hohe Frauenstimme jenseits ihres Sichtfeldes hinter den Bettlaken. Kai zuckte vor Schreck zusammen und drückte instinktiv den Schalthebel nach vorne. Ben sah, wie die Drohne gegen die Fensterscheibe im fünften Stock prallte, einen Moment in der Luft taumelte, um dann, gemächlich, aber unweigerlich, seitlich abzusacken.
»NEIN«, schrie Kai, der panisch auf das Fluggerät stierte und hektisch mithilfe des Steuerknüppels versuchte, sein schwankendes Lieblingsspielzeug vor dem sicheren Tod zu retten. Als er erkannte, dass es sinnlos war, rannte er mit weit ausgestreckten Armen in Richtung Hauswand. Dabei riss er zwei Bettlaken mit sich und stieß beinahe noch die mit Lockenwicklern und Wäschekorb bewaffnete Frau um, die sich nur mit einem beherzten Sprung nach hinten in Sicherheit bringen konnte.
»Strömungsabriss. Scheiße!«, schrie Kai verzweifelt in den Himmel.
Ben war komplett erstarrt. Er sah das Fluggerät eine letzte waghalsige Rollenkehre vollführen, dann prallte es mit einem ungesunden Pong an die Regenrinne und stürzte ungebremst zu Boden. Direkt neben Kai, der ein weiteres »NEIN!« kreischte und nach wie vor die Arme gen Himmel reckte, als wollte er Gott nach einer dreimonatigen Dürre um ein Tröpfchen Regen anflehen. Ben spürte beim Aufprall einen Schmerz, als wäre die Drohne nicht auf die Waschbetonplatten, sondern ihm direkt auf den Kopf gefallen. Kai sank auf die Knie und stieß ein herzzerreißendes Heulen aus, bei dem er sich mit beiden Armen selbst umarmte. Dann drehten sie gleichzeitig ihre Köpfe in Richtung der Dame, die mit wenigen Worten, ausgesprochen im feinsten Dorstfelder Ruhrdeutsch, großes Leid über Bens Mitbewohner gebracht hatte.