Kitabı oku: «Narziss und Narzisse», sayfa 2

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IV.

Es war ein Mörder in ihrem Haus, der schnitt Herzen aus den Leibern der Menschen, die darin wohnten, und warf sie ihr zu Füßen. Gisela fürchtete sich sehr, fürchtete um ihr Leben, fürchtete um ihr Sterben, fürchtete sich panisch, und ihr war unheimlich bange ums Herz. Sie lief durch das ganze Haus und kam in ein Zimmer, in dem alles üppig und extravagant in Samt und in Seide gehalten war. Gelb, orange und rosenrot donnerten ihr die Farben aus jeder Ecke und aus allen Richtungen entgegen, als wollten sie ihr spotten. Da waren Spitzengardinen am Fenster und Leuchter an der Zimmerdecke, alles war mit Goldstaub bedeckt. Und mit Perlen, überall waren Perlen, perlmuttern schillernde Perlen, lose lagen sie herum oder hingen, zu einer Kette geknüpft, an den Wänden und über den Lichtern im ganzen Zimmer. Und der Mörder saß zwischen all dem Gold und Glitter in einem großen Sofawiegestuhl, neben ihm ein wunderschöner und mit bunten Perlen bestückter Leuchter, der sein Licht über den Boden fließen ließ wie ein Wassersturz. In dessen Licht erblühten auf blaugrauem Untergrund weiße Wasserblumen, und karminrote indische Elefanten waren zu sehen, die über diese Wasserblumen wie über Wolken in einen Himmel hineinliefen. Daneben wiegte sich der Mörder im großen Sofawiegestuhl, wiegte sich hin und wiegte sich her. Gisela ging auf ihn zu, denn sie kannte ihn, wusste aber nicht, wer er war, er zog sie einfach magisch an, und der Duft an ihm roch hier in diesem Raum besonders gut. Er roch nach Rosenwasser.

Im Hintergrund spielte verhaltene Walzermusik. Der Mörder stand auf und nahm sie in die Arme, um mit ihr, butterblumengleich, zu tanzen. In seinen Armen fühlte sich Gisela plötzlich wieder jung und schön und ohne Sorgen, wie er sie so durch das Zimmer führte, zwischen all dem Samt und all der Seide hindurchführte, wie er sie entführte. Da blickte sie auf und sah ihm ins Gesicht, sah ihm ins Gesicht hinein, mitten ins Gesicht hinein, mittenhinein, und sie erschrak fürchterlich, als sie erkannte, wer er war.

Er war Nurit, ihr Kindchen, ihr Sommersonnenkind, das sie am Tag der Sommersonnenwende in ihrem schmucken kleinen Wochenendhaus am Land zur Mittagszeit unter größten Schmerzen und mit verhaltenen Schreien zur Welt gebracht hatte. Der Mörder in ihrem Haus, der Herzen aus den Leibern der Menschen schnitt und ihr zu Füßen legte, war Nurit. Die Erkenntnis traf Gisela wie ein Schlag, und mit einem lautstarken Schrei erwachte sie aus dem schrecklichen Traum.

Der Albdruck wirkte noch lange nach.

ZWEITER TEIL HERBST

V.

Fast zwei Monate war es jetzt schon wieder her, als Jakob ausgezogen war, aus seinem Leben ausgebrochen war, nachdem er sich zuvor noch ein letztes Mal mit Gisela getroffen hatte und wie ein Kreisel über eine von diesen mörderischen Wendeltreppen in das pseudobarocke Kaffeehaus in der Innenstadt gekreiselt war, um dann mit seiner Frau, an einem dieser alten Tische auf einem verschnörkelten Stuhl sitzend, eine Tasse starken Kaffee zu trinken, weil Gisela zu dieser Zeit nur mehr starken Kaffee vertrug, alles andere half ihr nicht mehr. Auf diesem Stuhl in jenem Kaffeehaus sitzend, war dann so vieles in ihm aufgebrochen, so vieles, das er Gisela gerne gesagt hätte und noch immer gerne sagen würde. Immer noch. Und doch fand er nicht die richtigen Worte dafür, niemals konnte er sie finden, weil es die richtigen Worte dafür nicht gab, die Worte, die für das, was er ihr sagen mochte, richtig waren, keine banalen und schlechten Floskeln, sondern Worte, die die Magie um das, was er ihr so gerne sagen mochte, nicht zerstörten, nicht verstörten.

Es müssten Worte sein, die es nicht gibt, hatte Jakob traurig gedacht, und hätte man zu diesen Worten finden können, die es nicht gibt, so wäre er sie in diesem Moment suchen gegangen.

Aber so war wieder nur ein Geschehnis, eine Episode zu Ende gegangen, so wie jede Episode immer einmal zu Ende geht. Und das würde er allen erzählen, die es hören wollten.

Wenige Tage später war er dann ganz alleine mit seinen Koffern und Reisetaschen zwischen den Umzugskisten in seiner neuen Wohnung gestanden. Und mit einem großen und ungestillten Hunger nach Verständnis im Bauch.

Die Einsamkeit war so überwältigend, dass ihm fast übel wurde und er die Tränen unterdrücken musste, um nicht auf der Stelle loszuheulen. In diesem Augenblick wollte er nur mehr nach Hause, wollte er unbedingt nach Hause, um dort Gisela so dicht an sich gedrückt zu spüren. So dicht wie noch nie in seinem Leben, nicht einmal wie nach Nurits Geburt. Er wollte zu seiner Familie nach Hause gehen, weil er immer nach Hause gehen wollte, weil er bei seiner Familie zu Hause sein wollte, weil seine Familie sein Zuhause war.

Aber es gab keine Familie mehr, weil er seine Frau verlassen hatte und damit auch sein totes Kind verlassen hatte und weil er dann auch noch Judith bei Clara gelassen hatte. Bei Clara, die keine eigenen Kinder hatte, weil mit ihrer Fruchtbarkeit etwas nicht stimmte, aber sie hatte sich immer so sehr Kinder gewünscht, die sie hätte wiegen können, die sie hätte lieben können. Sie war bestimmt eine gute Ersatzmutter, zumindest das war ein kleiner Trost.

Mittlerweile, dachte Jakob, hat sie sich wohl damit abgefunden, keine eigenen Kinder bekommen zu können, denn mittlerweile war sie mit ihren neununddreißig Jahren vielleicht schon zu alt für eigene Kinder.

Zumindest, so vermutete Jakob, redete sie sich das wahrscheinlich ein.

Und dann war plötzlich die kleine Judith für sie da. Für alle war die Situation am Anfang schwierig gewesen: Judith war verwirrt und ängstlich gewesen, Jakob am Boden zerstört, Peter hatte die ganze Szenerie mehr oder weniger ignoriert und sich empfohlen, und Clara wusste im Grunde genommen gar nichts. Es war ein einziges Desaster.

Doch dann blickte Clara in das kleine Gesicht des Mädchens, und in diesem Blick war mit einem Mal eine so tiefe, eine so innige Zuneigung gelegen zu diesem fremden Kind, das ihr eigenes hätte sein können, und sie sagte Jakob zu, für Judith zu sorgen.

Vorübergehend, wie Jakob betonte, als er sie in ihre Arme schloss und sie auf die Wange küsste, nur vorübergehend. Bitte.

Es dauerte nicht lange, da hatte Clara das Kind ganz tief und fest in ihr Herz geschlossen, wo sie es hegte und wo sie es pflegte, als wäre es ihr eigenes Kind, das sie jetzt endlich wiegen konnte, das sie jetzt endlich lieben konnte. Auch Judith war sicher gerne bei diesen netten Leuten, vermutete Jakob, sie liebte wahrscheinlich Clara und Peter und deren schicke Wohnung in einer dieser ruhigen Randbezirke schon über alles und vielleicht sogar bereits schon mehr als ihre eigenen Eltern. Und irgendwie hatte sie ja auch recht. Trotzdem musste Jakob bei diesem Gedanken weinen. Er fürchtete sich vor dem Tag, an dem Clara ihm Judith ganz wegnahm, an dem sie ihm Judith aus ihrem Leben nahm, ihm damit alles nahm.

Als Jakob jetzt an seinen Auszug vor zwei Monaten dachte, mit dem er sein Leben ändern wollte und doch nur feige aus seinem Leben ausgebrochen war, schnürte es ihm die Kehle mehr und mehr zu. Die Gedanken daran kamen meistens in der Nacht, da suchte er dann so ganz und gar traumverloren unter seinem Federbett nach Gisela, suchte ihre Haut auf seiner Haut und griff doch nur ins Leere, fand weder seine Frau noch ihre Haut, fand nur Nacht, tiefe dunkle, schwarze Nacht.

Er dachte daran, wie er seiner älteren Tochter, nachdem Nurit auf der Welt gewesen war und Judith angefangen hatte, sich für Märchen zu begeistern, Abend für Abend aus Tausendundeiner Nacht vorgelesen hatte, einer alten Buchausgabe, die er auf einem Flohmarkt zwischen anderen alten und weniger alten Büchern gefunden und gekauft hatte. Jeden Abend – und das war ihr gemeinsames Zeremoniell gewesen – war er dann vor dem großen Bücherregal auf der linken Seitenwand im Wohnzimmer geheimnisvoll stehen geblieben und hatte die erwartungsvollen Blicke von Judith im Rücken gespürt, die bereits in ihrem Zimmer im Bett gelegen und ihrem Vater durch die Verbindungstür ins Wohnzimmer zugesehen hatte. Dann hatte er jedes Mal mit einer ungemein langsamen Bewegung, als überlegte er, welches Buch er nehmen sollte, einen dicken alten Band herausgezogen, der schon so abgegriffen war, dass er sogar dort, wo die Abnutzungen waren, gelblich vergilbt war und ein bisschen säuerlich schmeckte, wenn man daran roch.

Tausendundeine Nacht, hatte Jakob dann immer zärtlich über den Buchumschlag zu Judith hin gehaucht und verheißungsvoll entrückt gelächelt, und mit dieser Tausendundeinen Nacht in seiner Hand hatte er sich dann neben seine Tochter auf den Bettrand gesetzt und begonnen, ihr darin vorzulesen, bis sie von den Geschichten müde geworden und eingeschlafen war.

Ihm selbst hatte als Kind niemand Geschichten vorgelesen, damit er besser schlafen konnte, und schon als kleiner Junge hatte er es sich zu seinem heiligen Gebot gemacht, genau das bei seinen eigenen Kindern, sollte er jemals welche haben, anders zu machen, nämlich richtig zu machen. Erst viel später hatte er verstehen können, dass seine Eltern mit ihren sechs Kindern die Kraft und Energie andernorts gebraucht hatten, und er verzieh ihnen. Sein Vorsatz, bei seinen Kindern das richtig zu machen, was seine eigenen Eltern bei ihren Kindern verabsäumt hatten, war dennoch geblieben, obwohl er schlussendlich doch daran scheitern sollte.

Er musste Judith wieder zu sich holen! Aber würde sie es wollen? Was, wenn er ihr fremd geworden war, hatte sie doch schon so viel mitgemacht in ihrem kurzen kleinen Mädchenleben. Was würde sie wohl von ihm denken? Dass er feige war? Ein Narr?

Jakob verbot sich solcherlei Gedanken, musste doch gerade er jetzt stark sein und dem kleinen Mädchen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben. Zwar vertraute er Clara von tiefstem und ganzem Herzen, doch war es seine Aufgabe, für seine Tochter zu sorgen. Und auch seine Verantwortung als guter Vater, der er Judith sein wollte. Es würde nicht einfach sein, aber er musste es zumindest versuchen, musste seine Familie – oder was noch davon übrig war – wieder auf gesunde Beine bringen, musste alles versuchen und durfte nichts, aber schon gar nichts dabei verabsäumen, ermahnte er sich streng. Er würde kämpfen, würde alle Kämpfe in und um sich mutig zu Ende kämpfen und niemals aufgeben. Niemals. Nie.

Und wenn er dennoch verlieren würde, dann hätte er zumindest alles verloren.

VI.

Judith träumte von Zuckermelonen und freundlichen Elefanten, auf denen sie durch fröhliche Glitzerwelten ritt, wie in Tausendundeiner Nacht ritt sie durch diesen Glitter-Glitzer ihres Traumes und war nur in bunte Seidentücher gehüllt und mit einem Kopfschmuck aus goldenen Perlen und ins Haar geflochtenen Blumen bedeckt. So ritt sie auf dem Rücken eines rot und blau geschmückten Elefanten an orientalischen Tempeln vorbei bis in regengrüne Wälder hinein, ritt hocherhobenen Hauptes wie eine indische Prinzessin mit dem Punkt auf der Stirn, und alles jubelte ihr zu. Es war ein großartiges Gefühl, Prinzessin zu sein. Es war ein Fest, ihr Fest, wie sie meinte.

In den Blumen grummelte eine späte Hummel, und Fliegenpilze flogen durch die Luft und surrten und sirrten wie Bienen, als sie selber hocherhobenen Hauptes wie eine indische Prinzessin mit dem Punkt auf der Stirn auf dem Rücken eines rot und blau geschmückten Elefanten ritt und ihr, der schönen Prinzessin, alles und jeder zujubelte. Aber dann brach plötzlich ein Feuer aus, und Judith bekam große Furcht und noch größere Angst, weil sie nicht absteigen konnte, weil die Elefanten plötzlich allesamt verschwunden waren, weil sie mit einem Mal ganz alleine war, ganz alleine am Boden lag, dann in einem Zimmer lag. Da erst bemerkte sie, dass sie sich im Haus ihrer Mutter befand und dass sie an Händen und Füßen gefesselt war. Sie konnte sich nicht mehr bewegen und schrie verzweifelt in das Feuer hinein, atmete aber nur bitteren Rauch ein, der ihr die Luft zum Schreien mehr und mehr abschnürte.

Dann sah sie Blumen aus dem Feuer wachsen. Wie ungewöhnlich, dachte sie im Traum, dass Blumen aus dem Feuer wachsen und nicht verbrennen. Aus den Blumen im Feuer wurden Narzissen, wunderschöne gelbe und weiße Narzissen, die Judith so gerne mochte, wenn nämlich die Narzissen blühten, dann war der Frühling nicht mehr weit – und mit dem Frühling auch immer schon ein möglicher Sommer, deshalb hatte sie Narzissen ja auch so wahnsinnig gern, und deshalb sah sie auch wie gebannt auf diese Narzissenpracht, aus der Narzisse für Narzisse im Feuer der Frühling erblühte.

Aber mit einem Mal verwandelten sich die Narzissen in einen Menschen, in einen Mann, es war ihr Vater, der dort im Feuer stand und zu ihr herübersah.

Sie entfernte sich rückwärts von ihm wie von einem König. Und war er es in diesem Augenblick nicht auch ein bisschen, in diesem Feuermeer aus gelben und weißen Narzissen? Er der König und sie seine Prinzessin?

Ihr Vater rief ihr durch das Feuer etwas zu, aber sie verstand es nicht sofort, horchte genauer hin, aufmerksamer, und hörte dann, was er sagte, was er ihr zu sagen hatte.

Ich bin der Narziss, rief er ihr zu, ich bin der Narziss und du meine Narzisse. Dann ging er in Flammen auf und verbrannte im Feuer lichterloh. Judith war sprachlos und machte die Augen ganz weit auf, als sie, aus diesem Traum vom Schlaf aufgeschreckt, blind auf ihre Hände schaute.

Als Judith am nächsten Morgen wie jeden Morgen zum Frühstück in die Küche ging, wo sie zwar Clara noch nicht hörte, aber immerhin wusste, wo sie ihr Frühstücksmüsli fand, um es in ihr Schälchen zu schütten, erschrak sie fürchterlich, als sie am Küchentisch ihren Vater sitzen sah. Ihr Vater war tatsächlich da, ganz echt und nicht als Albtraumbild. Judith schaute ihn verängstigt an, saß der Traum von letzter Nacht doch noch viel zu tief in ihren Gliedern.

Ihr Vater sprach sie an und schaute ihr mit großem Ernst in die Augen. Judith fragte sich, wie ihr Vater in die Wohnung gekommen war, traute sich aber nicht, ihn anzusprechen. Er sagte gerade, dass sie so etwas so schnell nicht mehr machen dürften, und damit meinte er wohl, dass sie sich so lange nicht gesehen hatten und das nicht wiederholen sollten. Er sagte ihr, wie sehr er sie vermisst hätte und fragte sie, wie es ihr ging. Judith wusste in diesem Augenblick weder so richtig, wie es ihr tatsächlich ging, noch, was sie zu der ganzen Situation hier meinen sollte, was sie dazu meinen müsste. Sie dachte an die Blumen in ihrem Traum und wie sich die Blumen in ihren Vater verwandelt hatten, der dort im Feuer stand und zu ihr herübersah. Unwillkürlich entfernte sie sich schon wieder rückwärts von ihm wie von einem König. Und war er in diesem Augenblick nicht auch wieder ein bisschen so wie ein König aus Tausendundeiner Nacht? In diesem Moment riss sie wie in ihrem Traumgefüge von letzter Nacht die Augen sperrangelweit auf und sah, wie ihr Vater in Flammen aufging und im Feuer lichterloh verbrannte. Und doch war es nicht ganz so wie in ihrem Traum, denn jetzt sprach ja ihr Vater mit ihr.

Weißt du, sagte er ganz feierlich, es ist kein gutes Gefühl, dich so lange nicht sehen zu können, weil dann dieser Schmerz im Herzen so bedrohlich wird, zur Bedrohung für mich wird. Und das will ich nicht, weil ich ja nur mit dir zusammen sein will, weil wir ja zusammen gehören, weil du mein kleines Mädchen bist. Und deshalb müssen wir gerade jetzt so gut auf uns schauen, ja, ich will so gut auf uns schauen, will auf dich schauen, will auf mein kleines Mädchen schauen, das versprech’ ich dir. Ich versprech’ es dir, versprech’ es dir.

Judith verstand kaum die Hälfte von dem, was ihr Vater zu ihr sagte, und trotzdem hörte sie ihm zu, weil seine Stimme für sie so schön klang.

Willst du das, fragte ihr Vater sie nun.

Judith wusste nicht, was sie wollte oder nicht wollte oder wollen sollte oder nicht, und trotzdem nickte sie ihm freundlich zu. Da nahm sie ihr Vater in seine Arme und drückte sie fest an seine Brust.

Bin ich der Schmerz in seinem Herzen, dachte Judith, weil er mich so fest an sein Herz drückt, dass es ihm fast wehtun muss?

Sie sah zu ihm auf, und in diesem Augenblick traten Tränen aus seinen Augen. Da wusste Judith, dass sie der Schmerz in seinem Herzen war.

In diesem Moment ging die Tür auf und Clara kam herein. Erschrocken blickte sie von Jakob zu Judith zu Jakob zurück. Judith sah, dass Clara am ganzen Körper zitterte, als wäre ihr kalt. Überhaupt war sie anders als sonst, gar nicht freundlich, fand Judith.

Wie er hier hereingekommen sei, fragte ihn Clara mit zittriger Stimme.

Die Tür sei offen gewesen, meinte Jakob nur, Peter hatte wohl vergessen, sie zu schließen, als er außer Haus ging. Da war es naheliegend, einfach so einzutreten, ohne erst schrecklichen Lärm machen zu müssen.

Jakob sah schuldbewusst auf seine Hände, weil er wusste, dass er wie ein Eindringling wirken musste, was er schlussendlich irgendwie ja auch war.

Dann fragte ihn Clara, was er hier wolle. So plötzlich, wie sie sich ausdrückte.

Warum gerade jetzt, fragte sie ihn mit einer Angst, die tief in ihrer Kehle saß.

Judith wollte nicht hören, was die Erwachsenen sprachen, das fand sie alles langweilig, und sie wollte ja nur Spaß haben, fröhlich sein und lachen können. Deshalb ging sie hinaus und hörte nicht, wie Clara und Jakob sich aussprachen, dass Jakob in einer Woche kommen sollte.

In einer Woche würde sie, Clara, es dann mehr oder weniger begriffen haben, meinte Clara, als ihr Jakob vorsichtig sagte, dass er Judith wieder zu sich holen wollte.

Das Mädchen braucht einen Vater, sagte er im Tonfall eines Patriarchen, auch wenn ich vielleicht nicht der allerbeste Vater bin, möchte ich doch für meine Tochter sorgen können, so viel Verantwortungsgefühl, ja, so viel Verantwortungsgefühl besitze ich gerade noch.

Eine Woche, sagte Clara, dann kannst du Judith wieder zu dir nehmen, ich verspreche es.

Jakob zeigte sich einverstanden, wenn auch nicht überzeugt von dieser Idee, wollte Clara aber doch noch die Möglichkeit einer Woche mit Judith geben. Er trat zu Judith, gab ihr einen Kuss auf die Wange und sagte zu ihr, dass sie ihren Koffer und ihre Spielsachen zusammenpacken sollte, weil er sie nächste Woche abholen kommen würde. Und zwar mit dem großen gelben Auto, das sie doch so gerne hatte, weil es so lustig brummte, wenn ihr Vater auf das Gaspedal trat.

Judith wusste zwar nicht, warum es noch eine Woche – und das waren immerhin noch ganze sieben Tage mit ganzen sieben Mal schlafen –, warum es also noch eine ganze Woche dauern sollte, bis sie ihre Spielsachen in die große Umzugskiste packen sollte, aber die Aussicht auf das große gelbe Auto, mit dem sie abgeholt werden würde, ließ sie es vergessen.

Und Mutter, fragte sie ihren Vater noch, bevor er ging, wird Mutter auch wieder bei uns sein?

Ich weiß es nicht, war seine Antwort, ich weiß es leider wirklich nicht. Und damit schloss er langsam die Türe hinter sich.

VII.

Clara wurde zunehmend panisch.

In ihrem ganzen Leben hatte sie noch niemals solche Angst gehabt. In ihrem ganzen Leben war sie aber auch noch niemals so bedroht worden, und als Bedrohung sah sie Jakob, der ihr Judith wegnehmen wollte. Sie spürte, wie sie immer mehr die Kontrolle über sich verlor, spürte, wie sie kopflos reagierte, blindlings fast und ganz ohne Verstand, und spürte eine Lähmung, die sich vom Kopf aus in den Nacken vorarbeitete bis ganz hinunter zu ihren Zehenspitzen, da saß sie, die Angst, in ihren Zehenspitzen saß sie und lähmte sie von innen heraus. Sie spürte Herzrasen, Schwindel, Atemnot und griff sich in panischer Angst mit den Fäusten ins Gesicht und drückte ihre Finger tief in die Wangen hinein.

Was sollte sie tun? Was konnte und musste sie tun? Und was nicht? Wo sollte sie mit Judith hin? Was würde Jakob machen? Wie sollte sie weiterleben? Wie sollte sie so noch weiterleben? Wie denn? Wie? Und wer war sie überhaupt? Und was? Und wo? Wie? Wer? Die Fragen drehten sich wie ein Karussell in Claras Kopf, drehten sich schneller und immer schneller, drehten sich vorwärts und rückwärts und gerieten schier außer Kontrolle – wie auch ihr Verstand mehr und mehr außer Kontrolle geriet.

Flucht, dachte sie, weg von allem. Flucht. Fliehen. Flucht. Wirr wechselten die Gedanken zusammenhanglos in ihrem Kopf, schmiedeten einen Fluchtplan, dann eine Entführung auf Leben und Tod, Kindesraub, Kidnapping, was auch immer.

Clara atmete schwer. Sie kam sich vor wie in einem tiefen trüben Wasser, bekam noch weniger Luft und wollte nur noch auftauchen, an die Wasseroberfläche tauchen, mit Algen und Schlingpflanzen um ihren Hals, die sie nicht mehr aus dem Wasser ließen, immer weiter in die Tiefe rissen. Und immer panischer werden ließen.

Da kam Judith ins Zimmer gelaufen und taumelte ein bisschen vor Schreck, als sie Clara sah, denn die Angst, die um Clara war und die in Clara war, wurde zunehmend spürbar, greifbar. Und ansteckend. Sie verbreitete sich seuchenartig oder wie ein schwelendes Feuer, das sich mit seinen züngelnden Feuerszungen in das Gras um sich herum verbiss. Und in Bezug auf diese Gefahr hin waren mit einem Mal Clara und Judith miteinander verbunden, spürten sie doch beide eine Bedrohung, die sie aber trotzdem nicht benennen konnten, weil sie nicht sichtbar war, nur spürbar war, greifbar. Und ansteckend.

Clara rannte auf Judith zu, die sie wie versteinert anstarrte, packte das Kind am Arm und zog es an dem kleinen Arm in ihrer Hand aus dem Zimmer in den Vorraum. Dort riss sie einen Kinderregenmantel vom Bügel und warf ihn um die Schultern des Mädchens, das sie immer noch wie in Stein gemeißelt anstarrte und nur ganz langsam in die Ärmel des Kinderregenmantels schlüpfen konnte. Dann lief Clara, nur mit Hausschuhen bekleidet und ohne Jacke, mit dem Kind blindlings aus dem Haus auf die Straße hinaus, wusste nicht wohin, wusste nicht warum, wusste gar nichts mehr.

In diesem Moment kam zum großen Glück Peter nach Hause, sah gerade noch, wie Clara in höchster Eile um die Häuserecke verschwand, dachte sich zunächst nichts dabei, wurde aber unruhig, als er merkte, dass Clara aus dem Haus gegangen war, ohne zuzusperren. So etwas tat die stets bedachte Clara sonst nie, so etwas tat nur Peter, wenn er es eilig hatte. Die Besorgnis wuchs, als er sah, dass Clara ihre Straßenschuhe und ihre Jacke zurückgelassen hatte. Da musste etwas geschehen sein, und Peter zögerte keine Sekunde, sondern rannte Clara und Judith mit größtem Tempo, das er aufbringen konnte, hinterher, rannte so schnell wie schon lange nicht mehr, rannte fast um sein Leben.

Was war passiert, dass Clara so plötzlich wegmusste? War etwas mit Judith? Aber wenn es einen Unfall gegeben hätte, wäre doch der Krankenwagen gekommen und hätte das Mädchen ins Spital gefahren. Auch hätte ihn Clara zumindest angerufen.

Peter wurde nicht schlau daraus, da konnte er noch so viel nachgrübeln, was, wo, wie, als er etwa hundert Meter vor sich Clara über eine Straße sprinten sah, das erschöpfte Kind im Schlepptau hinter ihr. Er setzt nochmals zum Endspurt an und hatte die beiden schon fast erreicht, als er von einem vorbeifahrenden Radfahrer beinahe niedergefahren wurde, weil dieser, ohne zu schauen, nach links abbiegen wollte. Peter gab einen lauten schrillen Schrei von sich und konnte so den kopflosen Radfahrer auf sich aufmerksam machen. Das hatte wiederum zur Folge, dass der Radfahrer so sehr erschrak, dass er ins Schwanken kam und auf den Beton knallte. Clara und Judith hatten das Ganze scheinbar nicht mitbekommen, denn sie eilten weiter in Richtung Innenstadt.

Peter fluchte, half dem Radfahrer auf die Beine, schimpfte ein wenig und fragte ihn dann, ob er sich wehgetan habe.

Er glaube nicht, sagte der Radfahrer ein wenig eingeschüchtert. Es war ein junger Bursche um die Zwanzig, der daraufhin eine Entschuldigung vor sich her murmelte und seine Utensilien am Boden einsammelte, die er beim Sturz auf die Straße verstreut hatte. Ein bisschen hinkte er, und über dem rechten Auge hatte er längs der Stirn eine kleine Abschürfung. Aber Peter konnte sich jetzt nicht um die Bedürfnisse des Jungen kümmern.

Er sei in Eile, sagte er, schüttelte dem verunglückten Radfahrer die Hand zum Gruß und rannte dort weiter, wo er Clara und Judith in ihrer Tollheit vermutete. Dass es sich um so etwas wie eine Tollheit bei den zweien handeln musste, wusste er bereits genau, denn ansonsten hätten sie den Schrei aus seiner Kehle und den Sturz des Radfahrers bemerken müssen.

War es der Wahnsinn bei seiner Frau, der plötzlich ausgebrochen war und sie so unvernünftig handeln ließ? Eine Geisteskrankheit? Eine Störung ihrer Psyche, bei der sie unberechenbar wurde und sich eigenartig verhielt? Oder hatte das Ganze vielleicht eine ganz logisch nachvollziehbare Erklärung?

Hinter der nächsten Kurve blieb Clara stehen und schaute Judith an, die mittlerweile blind vor Tränen nur mehr schluchzte und hickste und immer wieder den Rotz zurückzog, der ihr jetzt schon fast über die Lippen bis in den Mund lief. Clara holte ein Taschentuch hervor, und gerade als sie damit Judith übers Gesicht wischen wollte, schoss Peter um die Kurve und blieb so abrupt stehen, dass er fast ins Schleudern kam und nur mit seinen rudernden Armen wieder zu Halt und Balance fand.

Überrascht sah ihn Clara, die scheinbar nicht mit ihm gerechnet hatte, an, fiel dann aber sofort in Abwehrstellung, weil sie ihre Fluchtdistanz zu Peter sinken spürte. Und auf einmal fing sie zu schreien an, schrie in einem hysterischen Anfall alles aus ihr heraus, schrie Schmerz und Schreck und Angst von sich, schrie Judith an, schrie Peter an, schrie ihren kaum enden wollenden Schrei, bis sie in ein klägliches Weinen verfiel, hintenüber sank und wie ein Embryo am Boden liegen blieb.

Langsam trat Peter zu ihr und strich ihr vorsichtig über den Arm, dann lockte er Judith zu sich, der er zu verstehen gab, dass Clara vielleicht krank war, vielleicht Fieber hatte, so wie ihr Kopf glühte, und dann zurück ins Bett müsste.

Warum hatte sie auch keine Jacke angezogen, sagte er zu Judith, damit diese nichts von Claras Wahnsinn und der Gefahr, in die sie das kleine Mädchen gebracht hatte, mitbekam.

Sogleich sah er Erkenntnis auf dem kleinen Gesicht aufleuchten und bewunderte insgeheim den Verstand des kleinen Mädchens, aber zu Clara hinzugehen traute sie sich trotzdem noch nicht, zu tief saß noch der Schreck in ihren Gliedern, zu tief war noch die Angst in ihr, die Angst vor Clara vielleicht, die sich ihr gegenüber so wunderlich verhalten hatte, als sie gemeinsam über die Straßen liefen. Clara lag noch immer zusammengekrümmt wie ein Ringelwurm in einem Kringel im Kreis am nackten Boden und schluchzte vor sich hin.

Peter holte sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und wählte die Nummer der Rettung, die sie ins nächste Spital zu einer Untersuchung bringen sollte.

Seine Frau liege auf der Straße, sagte er ins Telefon hinein, sie habe wahrscheinlich einen panischen Anfall erlitten und er wisse nicht, was tun.

Wenige Minuten später kamen die Sanitäter, um Clara zu holen, nahmen ihre Personalien auf und brachten sie ins nächste Krankenhaus, wo sie ein paar Tage in stationärer Beobachtung bleiben müsse, dann werde man Peter bestimmt schon Näheres sagen können. Er brauche sich keine Sorgen zu machen, sagte der eine Rettungsmann in seiner roten Rettungskleidung zu Peter, sobald irgendetwas über Claras Zustand diagnostiziert sei, würden sie ihn umgehend informieren. Es sehe aber generell eher harmlos aus, meinte der andere, der seine rote Rettungsjacke ausgezogen hatte.

Vorsichtig halfen sie Clara in den Wagen und schlossen sie an einen Tropf an. Peter und Judith sahen nur noch eine Silhouette von Claras Hinterkopf, als das Rettungsauto sich immer weiter entfernte und dann ganz verschwand. Erst jetzt sah Peter, dass Judith weinte und nahm sie in seine großen breiten Arme, drückte sie an sich und strich ihr die Haare aus der Stirn.

Sternenstirn, hatte ihre Mutter früher immer gesagt, als sie Judith mit ihren sanften Händen über das Haar strich. Noch nie in ihrem Leben, seit ihr Geschwisterchen gestorben war, hatte Judith solche Sehnsucht nach ihrer Mutter gehabt, die immer so liebevoll gewesen war, bis dann Nurit geboren wurde. Von diesem Zeitpunkt an hatte sich ihr Leben verändert, hatte sich alles verändert. Weil sich ihre Mutter von diesem Zeitpunkt an verändert hatte. Und als das Baby dann gestorben war, hatte ihr Vater sie verlassen, hatte sie bei Clara gelassen, bei dieser Tante mit dem schönen Lächeln im Gesicht. Judith hatte sich bei ihr immer wohlgefühlt und wusste nicht, warum Clara plötzlich so komisch geworden war. Das machte ihr Angst, und das wollte sie Peter auch sagen, der sie so liebevoll in seine großen Arme genommen hatte, als er ihre Tränen sah. Er ließ ihr aber gar nicht die Zeit dazu, sondern brachte sie wieder zurück nach Hause, während er ununterbrochen am Telefon mit verschiedenen Kollegen sprach und ihnen Verschiedenes zu erklären versuchte.

In der Zwischenzeit sammelte Judith, immer noch ein Kind, das schnell auch wieder umgestimmt und beglückt werden konnte, viele herbstlich bunte, grelle Blätter und Kastanien vom Boden auf, die sie zu Hause dann mit Holzspießchen zu einem tausend-bunten Tiere-Zoo zusammenstecken wollte. Das hatte sie schon letztes Jahr unglaublich gerne gespielt. Und, ja, jetzt freute sie sich schon sehr auf dieses wundervolle Spiel in ihrem Zimmer, dass sie ihre Tränen dabei ganz vergaß.

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