Kitabı oku: «MordsSchweiz», sayfa 2

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Aufstehen, frühstücken, rasieren, noch einmal die Anklageschrift durchgehen, schon bin ich wieder unterwegs zum Gericht. Ich gehe immer zu Fuß. Mein Arbeitsweg ist ein Spaziergang durch Berns Lauben, während die Altstadt erwacht. Dieser Moment der Ruhe tut mir gut, bevor sich neue menschliche Abgründe vor mir auftun.

Beim großen Brunnen in der Gerechtigkeitsgasse wechsle ich die Straßenseite, über mir auf dem Sockel steht die Statue der Justitia, die Augen verbunden, die Waage in der einen Hand. »Guten Morgen«, sage ich laut zu ihr, auch das ein Ritual. Sie antwortet mir nie.

So war das zumindest bis heute.

»Sie Arschloch!«, brüllt mir in dem Moment eine Frauenstimme entgegen.

Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Ich fahre zusammen und blicke erschrocken zu Justitia hoch.

»Sie haben die falsche Person verurteilt!«

Erst jetzt realisiere ich, dass nicht Justitia schreit, sondern eine junge Frau, die hinter dem Brunnentrog hervorspringt. Sie kommt mir bekannt vor.

»Mein Vater war ein Scheusal, er hat uns jahrelang gequält. Nicht meine Mutter, mein Vater sollte hinter Gittern sitzen.«

Samira. Die jüngste Tochter. Die gestern im Gerichtssaal auf mich losgehen wollte. Ich schaue mich um, ob ich jemanden zu Hilfe rufen kann. Doch da ist niemand, und auf Justitia kann ich nicht zählen.

»Beruhigen Sie sich«, sage ich zu der Frau, die fast noch ein Mädchen ist. Sie steht jetzt direkt vor mir und kommt mir zu nah, ich weiche zurück, stolpere um ein Haar.

»Und wenn, dann nicht meine Mutter, sondern ich! Ich habe ihm die Tabletten in den Drink getan, ich wollte ihn erwürgen! Und ich hätte es zu Ende gebracht, wenn meine Schwester und meine Mutter mich nicht zurückgehalten hätten.«

Sie will mich schubsen. Ich weiche aus. Mein Instinkt befiehlt mir, wegzurennen, doch etwas hält mich zurück. Was, wenn sie die Wahrheit spricht?

»Warum sagen Sie das erst jetzt, erst hier, wieso haben Sie das nicht früher gestanden?«

»Ich musste meiner Mutter versprechen, es niemandem zu sagen. Sie will die Strafe für mich tragen, damit mein Leben nicht zerstört ist. Das hier ist kein Geständnis, das werden Sie nie kriegen. Ich will nur, dass Sie eins wissen: Sie haben falsch geurteilt. Sie sind ein schlechter Richter.«

Sie speit mir die Worte ins Gesicht, stößt mich mit beiden Händen gegen die Brust, ich rudere mit den Armen, verliere das Gleichgewicht, stürze, bin am Boden, reiße die Hände vors Gesicht, doch der Schlag folgt nicht, sie dreht sich um und rennt davon, ist so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht ist.

Verblüfft bleibe ich zurück. Ich stehe auf und klopfe meinen Anzug ab, blicke zu Justitia hoch und kann mir ein Ächzen nicht verkneifen. Die Glocken der Nydeggkirche schlagen die Viertelstunde. Ich muss weiter. Die nächste Verhandlung beginnt gleich. Wieder muss ich ein Urteil finden.

Doch welches Urteil ist schon gerecht?

Erinnerungen einer Auftragskillerin an einem goldenen Herbsttag
am Lago Maggiore
Peter Beck

Der Lago Maggiore flimmerte und glitzerte wie die Diamanten auf dem samtenen Tuch in meinem Luganeser Banktresor. Auf der anderen Seite des Sees leuchtete der Monte Gambarogno in seinem Herbstkleid. Nach den heftigen Niederschlägen der letzten Tage war der Himmel heute wolkenlos, die Sicht klar. Hier war der Indian Summer auszuhalten.

Wobei Indian Summer viel besser klang als Altweibersommer, vor allem wenn man nicht mehr die Jüngste war. Aber die Gelenke schmerzten hier im Tessin deutlich weniger als am Zürichsee. Es war eine gute Idee gewesen, von der Goldküste nach Ronco sopra Ascona in die Residenz zu dislozieren. Residenza. Tönte auch besser als Altersheim, gerade auf Italienisch.

Doch insgesamt war es ein gepflegtes Haus, mit Gourmetküche, Wellness-Spa, Schwimmbad, einem weitläufigen Park und angegliederter Arztpraxis, die, im Gegensatz zu den Heimen für Krethi und Plethi, rund um die Uhr besetzt war und auch Botox und so anbot. Nicht ganz billig, aber das letzte Hemd hatte ja keine Taschen. Und für die wöchentliche Pediküre musste man hier nicht mehr in ein Taxi mit klebrigen Plastiksitzen steigen. Das Sonnenlicht flutete das Appartement und wärmte die nackten Füße mit den frisch lackierten Nägeln. Dior Nagellack-Rouge Pandore mit Gel-Effekt.

Sie wackelte mit den Zehen und rekelte sich in der Chaiselongue.

Leider fanden hier nicht alle Möbel Platz, nur eine Handvoll Antiquitäten, einige Perserteppiche und die Ölbilder aus dem Schlafzimmer. Die Leichen lagen noch immer unter dem Weinkeller in der Villa. Niemand würde sie je finden. Sie schaute auf ihre Hände, mit denen sie diese noch eigenhändig einbetoniert hatte. Mittlerweile war die fast durchsichtige Haut voller Altersflecken. Sie berührte die edelsteinbesetzten Ringe an den von Gicht geplagten Fingern. Das Alter war ein Graus, aber wenigstens konnte man sich ab und zu etwas gönnen.

Ein Klopfen holte sie in die Gegenwart zurück. »Ja, bitte?«

Die Tür öffnete sich, und eine unbekannte Pflegerin im türkisfarbenen Kittel der Residenz schob einen Trolley herein. »Guten Tag, Frau Neidhart. Ich vertrete heute Doktor Mancini, der leider unpässlich ist. Mein Name ist Alessia Werffeli.«

Keine Pflegerin und ein bisschen jung für eine Ärztin, aber heute wirkten ja auch Vierzig-, Fünfzigjährige jung. Ab einem gewissen Alter konnte man sich allerdings nicht mehr einreden, man sei nur so alt, wie man sich fühle. »Guten Tag, Frau Doktor.«

Die Ärztin streifte sich blaue Plastikhandschuhe über. »Ich komme wegen Ihrer monatlichen Vitalzeichenkontrolle.«

Leichtes Kopfschütteln. Der September war wieder einmal nur so verflogen. Schon wieder Vitalzeichenkontrolle. Vitalzeichenkontrolle. Auch so ein Wort! Früher hatte es genügt, mit den Fingerspitzen den Puls zu nehmen, und man wusste, ob einer hinüber war oder ob man noch einmal abdrücken musste.

»Wie geht es uns heute denn so?«

Alessia hatte diesen forciert munteren Ton, der offenbar Voraussetzung war, um in der Residenz angestellt zu werden. Immerhin sprach die Ärztin Schweizerdeutsch, nicht so wie die Pflegerinnen aus der Lombardei, welche jeden Tag bei Brissago über die Grenze kamen, oder die Spanierinnen, die kein Wort Deutsch sprachen. Immerhin konnte man mit denen seine Sprachkenntnisse auffrischen. Sich in verschiedenen Idiomen zurechtzufinden, war eine wichtige Voraussetzung für die Erledigung der Auslandsaufträge gewesen. »Ich kann nicht klagen.«

»Wunderbar. Das ist gut zu wissen. Darf ich Ihren Blutdruck messen?« Alessia legte die kühle Manschette an und begann zu pumpen, studierte die Anzeige und ließ dann den Druck wieder ab. »Was haben Sie denn früher gemacht, Frau Neidhart?«

»Ich war Reiseleiterin.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Doch, doch.«

»Ich reise auch gerne.«

»Ja, ja. Reisen bildet.«

Während Alessia das Blutdruckmessgerät verstaute, schaute sie sich um und wunderte sich wahrscheinlich, wie sich eine Reiseleiterin diese Residenz leisten konnte. Sie fragte schließlich. »Und wie sind Sie dazu gekommen? Ich meine, gibt es da eine Ausbildung oder so?«

Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht. Gute Frage. Die Erinnerungen an den ersten Auftrag mit dem stillen Tommaso vor über sechzig Jahren waren ungetrübt. Vieles andere war im Laufe der Jahre verschwommen, aber Tommasos verträumte Augen blieben unvergesslich. Er war extra mit dem Zug aus Kalabrien in die Schweiz gereist und hatte einen sexy Lockvogel gebraucht, um die Zielperson zu isolieren, einen Geschäftsmann, der bei jemandem in Ungnade gefallen war. Der Auftrag hatte gelautet, ihn zu erledigen und bei dieser Gelegenheit ein Exempel zu statuieren, zur Abschreckung. Leider waren sie nur halb erfolgreich gewesen, denn das Dolder Grand hatte es damals irgendwie geschafft, das Ganze unter den Teppich zu kehren. Jedenfalls waren in den Zeitungen keine Berichte aufgetaucht. Dabei hatte Tommaso die abgezwackten Finger des Geschäftsmannes doch extra überall in der Luxussuite verstreut. »Ach, da bin ich vor langer Zeit hineingerutscht. Einer meiner Cousins war auch Reiseleiter und hat mich gefragt, ob ich aushelfen würde.«

Alessia nahm das Handgelenk, fühlte den Puls und erkundigte sich nach einer Weile: »Und dann? Haben Sie im Geschäft Ihres Cousins gearbeitet?«

»Nein, nein. Wir haben nur einige Reisen zusammen arrangiert. Das war, als ich noch ein ganz junges Ding war. Aber damals waren die Zeiten ganz andere. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Die Männer waren noch anständig angezogen, haben Hut und Krawatte getragen und einem in den Mantel geholfen. Aber was sage ich da. Als mein Cousin zurück nach Italien ging, habe ich mich selbstständig gemacht. Wissen Sie, das Schöne an diesem Beruf ist ja, dass man selbst bestimmen kann, wie viel man arbeitet.«

»Selbstständig zu sein. Das könnte ich mir auch vorstellen.« Alessia notierte den Puls.

»Ja, wenn man einen guten Ruf hat, kann man sich die Kundschaft aussuchen. Meine Spezialität waren maßgeschneiderte Reisen für die gehobene Kundschaft.«

»In welches Land sind Sie denn am liebsten gereist, wenn ich fragen darf?«

»In den Jemen …«, ins Jenseits, »und die Indianergebiete«, in die ewigen Jagdgründe, »aber Indianer darf man heute ja nicht mehr sagen, heute heißt es Native Americans, nicht wahr?«

»Im Jemen war ich noch nie.«

»Sie sind ja noch jung.«

»Das muss aber aufregend gewesen sein.«

»Meist war es höllisch heiß.«

Alessia zeigte besorgt auf die Beine. »Was haben wir denn da? Sie haben an Ihrem Schienbein einen ziemlichen Bluterguss.«

Die Beine waren auf der Chaiselongue übereinandergeschlagen, das obere der Ärztin zugewandt, Körpersprache beeinflusste das Unterbewusstsein. Die Prellung war unschön, aber schließlich war niemand perfekt. Schulterzucken. »Ach, das ist nicht schlimm. Da habe ich mich wohl am Bett gestoßen.«

Die Finger von Alessia fuhren vorsichtig über das Schienbein. »Tut das weh?«

»Nein, nein. Das geht von allein vorbei.«

»Haben Sie schon von Herrn Rohde gehört?«

Desinteressiertes und unschuldiges Kopfschütteln. Lügen war simpel, wenn man es einmal gelernt hatte. »Nein, heute noch nicht.«

»Ihr Nachbar hatte einen Unfall …«

Die Augen weiten, die Lippen zu einem stummen O formen, die Stirn in Falten legen und die Augenbrauen zusammenziehen. Wahrscheinlich wäre auch eine Karriere als Schauspielerin in der Cinecittà möglich gewesen. Ein Leopard des Filmfestivals Locarno hätte sich auf der Anrichte gut gemacht. Sean Connery, Claudia Cardinale und … Wie hieß diese Schweizer Schauspielerin mit dem Bikini schon wieder, die Tierfreundin mit Schoßhündchen? Andrea? … Ursula Andress. Ja, so hieß sie!

Alessia sagte: »Herr Rohde hat uns leider verlassen.«

»Sie meinen, mit den Füßen voran?«

Schräger Seitenblick. »Leider ja.«

»Wie schrecklich.«

Die Ärztin nickte nachdenklich.

Die Frau Doktor war noch jung. Trotz ihrer Ausbildung an der Universität hatte sie sich offenbar noch nicht an den Tod gewöhnt, aber das würde schon noch kommen. »Früher oder später müssen wir alle gehen.«

Alessia murmelte zustimmend. »Mhm.«

»Was ist denn passiert?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich habe nur gehört, dass er heute Morgen nicht in seinem Zimmer war. Ein Pfleger, der nach dem Frühstück jemanden in den Park begleitete, hat ihn gefunden. Herr Rohde lag im Seerosenteich, samt Rollstuhl.«

Der Deutsche hatte vom ersten Tag an mit seiner lauten Musik genervt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit hatte der alte Nazi irgendwelche Arien und Symphonien gehört, wegen seines schlechten Gehörs immer in voller Lautstärke. Ein bisschen Mozart, eine Entführung aus dem Serail, war ja nicht zu verachten, aber stundenlang Wagners Donnergrollen war unerträglich, vor allem bei offenem Fenster. Fort mit Schaden. Hoffentlich war der Nachmieter von Rohde erträglicher. »Was Sie nicht sagen.«

»Ja, wahrscheinlich ist er mit dem Rollstuhl in den Teich gekippt und hat sich unglücklich den Kopf gestoßen. Dummerweise ist der Teich nicht gesichert. Er ist ja auch nicht tief, aber das ist wie mit Kleinkindern im Planschbecken. Die sollte man auch nie unbeaufsichtigt darin spielen lassen.«

Rohde war eines dieser traurigen Gewohnheitstiere gewesen. Der Langweiler rollte jeden Morgen zum Seerosenteich und gaffte mit triefendem Maul in den Sonnenaufgang, sodass man die Uhr nach ihm stellen konnte. Ein knackiger Schlag mit der Krücke von hinten an den Hals hatte genügt, dann den Rollstuhl noch mit einem kleinen Schubs in den Teich befördern, fertig war der Unfall. Alles locker, noch vor dem Frühstück. Niemand hatte etwas gesehen. Wahrscheinlich hatte Mancini den Totenschein im Halbschlaf unterschrieben. Todesursache: Ertrinken. Manchmal war es wirklich fast zu einfach. Nur das Schienbein, das vom umkippenden Rollstuhl getroffen wurde, hatte für einen Moment höllisch geschmerzt. »Tragische Sache.«

»Man kann nicht vorsichtig genug sein. Passen Sie auf, wenn Sie dort spazieren gehen. Wir wollen ja nicht, dass Sie sich etwas brechen. So ein Unfall ist schnell passiert, nicht wahr, Frau Neidhart?«

Nicken. Da konnte man nur beipflichten, denn Unfälle waren meine Spezialität. Es war erstaunlich, mit was man davonkam, wenn man es geschickt anstellte, gerade in der Schweiz. Herzinfarkt? Normal. Fehltritt im steilen Gelände? Pech gehabt. Autounfall mit Alkohol am Steuer? Kann passieren. Niemand schaute genau hin. Die Notärzte unterschrieben alles. Die waren überarbeitet und machten meist nur widerwillig Pikett. Manchen fehlte auch die Fantasie oder die Erfahrung, schließlich war die Schweiz nicht Mexiko mit seinen Drogenkriegen, wo die Leichen an Straßenlampen hingen, oder Südafrika, wo man für ein paar Rand erstochen wurde. Hier konnte man am Kiosk einen Hunderter wechseln, ohne dass man schräg angeschaut wurde. »Sie sind neu hier, nicht wahr, Frau Doktor?«

»Ja, ich habe erst gerade angefangen. Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich noch Blut fürs Labor. Ich habe gesehen, dass Sie es ein wenig mit den Nieren haben. Es ist wichtig, dass wir Ihr Kalium, Natrium und Kreatin im Auge behalten.« Sie nahm das Handgelenk, drehte den Unterarm zurecht und desinfizierte diesen mit einem Wegwerftupfer. »Machen Sie bitte die Faust.«

»Woher kommen Sie denn?«

»Aus Zürich.« Alessia stöberte im Trolley, zog eine Plastiktüte hervor, riss diese auf und nahm eine Einwegnadel mit Kanüle und Konnektor heraus. Sie suchte die Vene und setzte an. »Ich habe dort studiert und konnte dann auch am Kispi assistieren. Jetzt gibt es gleich einen kleinen Stich. Falls Ihnen das unangenehm ist, schauen Sie einfach einen Moment aus dem Fenster. Das Wetter ist heute ja wunderbar, vor allem nach dem vielen Regen, nicht wahr?«

Es pikte. Das Blut floss. Professionell gemacht. »Aber Sie sprechen keinen reinen Zürcher Dialekt, oder täusche ich mich da?«

»Nein, da haben Sie recht. Als ich sechs war, ist meine Mutter mit mir und meiner Schwester nach Zürich gezogen. Geboren wurde ich im Engadin.« Alessia stoppte mit dem Daumen kurz das Blut, drehte das erste Röhrchen fürs Labor heraus und ersetzte es mit einem zweiten.

»Ah, das Engadin! Da bin ich auch immer gern hingefahren, vor allem im Winter. Die Berge dort haben es mir angetan.« Vor etwa dreißig Jahren ließ sich dort einmal das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Die Zielperson war jeweils am Morgen in seinem Baugeschäft, am Nachmittag auf den Skipisten des Piz Corvatsch und am Abend zu Hause gewesen, wo er den treu sorgenden Familienvater gemimt hatte. Trotz seines Ranzens hatte er immer diesen grässlichen, orangen Skidress von Bogner getragen, die damals der letzte Schrei gewesen waren. Aber Skifahren hatte er gekonnt, das musste man ihm lassen.

Der Auftrag selbst hatte sich nach ein paar Tagen Beschattung fast von alleine erledigt. Er hatte sich nachmittags immer im gleichen Restaurant ein Bier gegönnt und dazu zwei gekochte Eier verdrückt, wahrscheinlich, weil er glaubte, das Protein sei gut für seine Muskeln. Die bunten Eier standen auf allen Tischen herum, zu viert, in einem dieser Eisengestelle mit Gewürzen. Da er jedes Mal nach der Bestellung auf der Toilette verschwand, war es ein Kinderspiel gewesen, das Aromat auszutauschen. Das Gift im gelbroten Gewürzstreuer war so dosiert gewesen, dass er eine halbe Stunde später in der Gondelbahn einen Herzinfarkt erlitten hatte. Aromat sei Dank!

Dummerweise hatte sich der Auftraggeber, ein Baulöwe aus St. Moritz, der seinen Konkurrenten hatte entsorgen lassen, als Idiot entpuppt. Der war nicht nur ein Angeber, sondern auch ein notorischer Schürzenjäger. Er hatte sich schon während des Begräbnisses an die junge Witwe herangemacht, die ihm daraufhin vor versammelter Trauergemeinde eine Ohrfeige verpasst hatte. Danach war ein kleines Tête-à-Tête nötig geworden, das ihn schnell zur Vernunft gebracht hatte. Wie hatte der nur schon wieder geheißen? Das Namensgedächtnis verkalkte immer mehr, aber man sollte ja sowieso nur die schönen Erinnerungen behalten.

Vor dem Panoramafenster der Residenz flogen Krähen vorbei. Es klickte, als Alessia das dritte Röhrchen mit dem Konnektor verband. »Gleich haben wir’s.«

Bei den Brissago-Inseln legte das Kursschiff ab. Halb elf und schon wieder müde, aber es war ein ziemlich ereignisreicher Morgen gewesen. Rohde entsorgt. Nägel lackiert. Monatliche Vitalkontrolle. Ein kleines Schläfchen bis zum Mittagessen würde guttun. Die Ärztin hatte mittlerweile das Stethoskop hervorgekramt und angesetzt. Sie horchte konzentriert.

Das Herz schlug laut und klopfte wild. Eine der sporadischen Panikattacken? Ein Herzinfarkt? Nicht doch! Es war ein sonniger Tag und viel zu früh, um abzutreten. Und die Ärztin war da. Im Korridor hing ein Defibrillator. Die Residenz hatte eine Arztpraxis. Einfach tief einatmen und es würde schon wieder werden. Der Blick fiel auf die Spritze, die groß und leer war, immer noch im Konnektor steckte und deren Kolben ganz am Anschlag war. »Was haben Sie da gemacht?«

Alessia ließ das Stethoskop baumeln und erklärte lächelnd: »Luft injiziert. Einen Deziliter. Die Luftblase ist jetzt in Ihrem Herz. Dort bringt sie das Blut zum Schäumen, wie in einem Whirlpool, deshalb das Herzklopfen. Das Blut gelangt nicht mehr in genügender Menge in Ihre Lunge, und als Folge davon bekommen Sie nicht mehr genug Sauerstoff, aber das wissen Sie ja selbst.« Die Ärztin drückte die behandschuhte Hand auf Neidharts Mund. »Schschsch. Nicht schreien. Sie werden jetzt müder und müder. Es dauert nicht mehr lange.«

Neidhart strampelte etwas, dann war sie still, ihre Lippen schimmerten bereits blau, die verwunderten Augen wurden glasig.

»With love from St. Moritz.« Alessia prüfte mit dem Stethoskop das Herz. Vitalzeichen? Keine. Sie räumte auf und schob den Trolley aus dem Zimmer. Nachdem der alte Bauunternehmer aus St. Moritz auf dem Totenbett reines Gewissen gemacht hatte, hatte das Schicksal nun endlich auch die Auftragskillerin eingeholt. Lieber spät als nie. Zeit für eine Pause, Zeit für zwei gekochte Eier mit Aromat. Papa wäre stolz auf seine Tochter.

Quitt
(Zürich)
Isabel Morf

Meinen Entschluss, kriminell zu werden, nahm ich nicht auf die leichte Schulter. Es war für mich ein äußerst ehrgeiziges Vorhaben, und ich hegte anfangs auch Zweifel an meinem Talent. Denn ich gehörte nie zu jenen Menschen, denen im Leben alles in den Schoß fiel. Auch war ich mit einem eher geringen Selbstvertrauen ausgestattet. Dennoch hatte ich Wünsche, entwarf Luftschlösser, stellte mir vor, was ich aus meinem Leben gern gemacht hätte.

Im beruflichen Bereich etwas Außergewöhnliches zu leisten hielt ich für aussichtslos. Ich übe eine der unauffälligsten Tätigkeiten aus, die es überhaupt gibt: Ich bin Sekretärin. Mein Chef – kein hohes Tier – ist mit mir ganz zufrieden, ich habe meine Arbeit im Griff, aber als »Perle« würde er mich wohl kaum bezeichnen. Besondere Begabungen sucht man bei mir vergeblich; ich bin eher unsportlich, manchmal ziemlich ungeschickt, meine Kochkünste sind mittelmäßig, und meine Versuche, Topfpflanzen zu Wachstum und Blüte zu bringen, blieben erfolglos. Ich bin mittelgroß, war bis vor Kurzem ziemlich mollig, in mein stumpfbraunes Haar hatten sich bereits graue Fäden gemischt, was ich eine Weile lang – ohne überzeugendes Ergebnis – mit einer selbst aufgelegten kastanienfarbenen Tönung zu überdecken versuchte. Ich hatte, frei heraus gesagt, nie den Ehrgeiz, mich hübsch zu machen, denn wenn ich mich im Spiegel betrachtete, schien mir, dass es ohnehin vergebliche Liebesmüh wäre.

Vielleicht neigte ich jedoch dazu, meine Träume besonders ehrgeizig auszugestalten, denn – so fantasierte ich zuweilen – wenn mir irgendwann etwas Großartiges, Einmaliges gelingen würde, dann wäre mein ganzes Leben gleichsam auf ein höheres Niveau gehoben, herausgelöst aus dem Klima der Mittelmäßigkeit und Erfolglosigkeit, in dem es sich seit jeher bewegt hatte. Mag sein, dass es im Grunde genommen diese entschlossene Sehnsucht war, die mich dazu antrieb, ein Verbrechen zu begehen.

Ich lebe in Zürich, an der Röschibachstrasse, in einer kleinen Wohnung, zwei Zimmer, 50 Quadratmeter. Von der Rosengartenstrasse her ist unablässig Verkehrslärm zu hören, den Balkon kann ich kaum benützen. Wegen der Hellhörigkeit des alten Hauses bekomme ich auch unweigerlich mit, wenn die Zweijährige im oberen Stock in einem Trotzanfall explodiert. Aber ich fand die Wohnung, ohne lange suchen zu müssen, sie ist bezahlbar, und ich habe sie nett eingerichtet.

Vor drei Jahren verließ mich mein Mann, nach vierzehn Jahren Ehe. Marc ging nicht einmal wegen einer Jüngeren, nein, sie war sogar ein Jahr älter als ich: Madeleine. Ein affiger Name, wenn man mich fragt, und Marc sprach ihn immer übertrieben betont französisch aus. Ich heiße Edith – wie soll man da mithalten, fragte ich mich erbittert. Die Scheidung ging schnell und zivilisiert über die Bühne, ich machte kein Theater. Marc und mich hatten, wie soll ich sagen, bestenfalls lauwarme Gefühle verbunden, mein Liebeskummer hielt sich in Grenzen. Aber sein Ausstieg aus unserer Ehe verletzte meinen Stolz, ich fühlte mich verraten; meine geheime Wut richtete ich gegen meine Nebenbuhlerin. Ich wusste praktisch nichts von ihr. Ein einziges Mal sah ich sie, und zwar als Marc und ich nach vollzogener Scheidung aus dem Gerichtsgebäude traten. Damit hatte ich halb gerechnet und war vorbereitet auf einen feindseligen oder triumphierenden Blick. Was jedoch geschah, war fast noch schlimmer: Sie übersah mich komplett. Sie streckte die Arme nach Marc aus, formte ihre pink angemalten Lippen zu einem süßen Lächeln – ich wandte mich augenblicklich ab und machte mich davon. So ersparte ich mir, den offiziellen Auftakt zu Marcs und Madläääns Liebesglück mitansehen zu müssen. Dennoch, diese Szene bildete eine solide Basis für meinen Hass. Ich schwor mir, diese Frau zu töten. Zunächst war es nur eine Gewaltfantasie, ein hasserfüllter Gedanke, ein ohnmächtiger Wunsch nach Rache, doch ganz langsam wandelte er sich zu einer Absicht, zu einem Plan.

Natürlich sah ich mich vor immense Schwierigkeiten gestellt. Als Erstes musste ich mich für eine Mordmethode entscheiden. Mich entscheiden – das klingt, als ob ich vor einer Auswahl gestanden hätte. Aber dem war ganz und gar nicht so. Es war eher eine Art Ausschlussverfahren. Erschießen, das wäre eine elegante Methode gewesen, kam jedoch für mich nicht in Frage. Ich hatte nie in meinem Leben eine Schusswaffe in den Händen gehalten. Ich wusste vage, dass man eine Pistole oder einen Revolver (Was war überhaupt der Unterschied zwischen den beiden Dingern?) vor dem Schießen entsichern musste und dass das präzise Zielen eine Kunst darstellte, die geübt werden sollte. Ich erinnerte mich an die Filmversion eines meiner Lieblingskrimis, in dem die Heldin – nun ja, die Mörderin – in ihrem paillettenbesetzten Abendhandtäschchen eine zierliche Waffe mit sich führte, mit der sie die Kontrahentin sauber erledigte. Hübsch, aber das musste ich mir aus dem Kopf schlagen, wie ich bedauernd einsah. Die Idee, Marcs Neue zu erwürgen beziehungsweise zu erdrosseln (Machte man das eine mit bloßen Händen, das andere mit einem Hilfsmittel, etwa einem Seidenschal oder einer Nylonschnur?), stieß mich ab. Eigentlich wollte ich sie lieber gar nicht anfassen. Die unbehagliche Vorstellung beschlich mich, wie ich ihren Hals zudrücken würde und sie würde einfach nicht sterben – stattdessen widerwärtige Geräusche von sich geben, mit den Armen fuchteln, mich womöglich aus hervorquellenden Augen vorwurfsvoll anschauen. Was für eine grässliche Vorstellung! Auch Erstechen und Vergiften schieden aus mehreren Gründen aus.

Schließlich entschied ich mich für Erschlagen mit einem stumpfen Gegenstand. Das hat mir in den Kriminalromanen immer gut gefallen. Ein stumpfer Gegenstand, das kann vieles sein, es ist ein Ausdruck, der Bilder von einer vagen Gefährlichkeit, aber auch einer beruhigenden Anonymität evoziert.

Problem Nummer zwei: mit welchem stumpfen Gegenstand? Ich erinnerte mich an eine Story, in der eine Frau ihren Mann mit einer tiefgefrorenen Lammkeule erschlug, die dann im Backofen weich vor sich hin brutzelte, während die Polizisten die Wohnung nach einem passenden stumpfen Gegenstand absuchten. In einem anderen Roman schraubte der Täter aus einem Messingbettgestell eine Verzierung heraus, eine Messingkugel, die er nach getaner Arbeit gelassen wieder hineinschraubte. Ich besaß kein Messingbett mit massiven Verzierungen, sondern nur eine einfache, schmale Liege mit elastischem Lattenrost, die ich mir nach der Scheidung gekauft hatte. Unser Ehebett ließ Marc von einem Gebrauchtmöbelhändler abholen; auch er hatte – aus naheliegenden Gründen – kein Interesse daran. Ich trieb mich ratlos in Warenhäusern, Sportgeschäften und Do-it-yourself-Shops (»do it yourself«, kicherte ich in mich hinein) herum und entschied mich schließlich für einen einfachen Hammer.

Schritt Nummer drei bestand in der Auskundschaftung des Opfers. Hier griff ich zu einer List. Marc und ich pflegten einen losen telefonischen Kontakt. Alle paar Monate einmal rief er mich an, fragte, wie es mir ginge, erzählte so dies und das, Belanglosigkeiten aus seinem Alltag. Diese Gespräche waren meistens eher kurz, da ich keine besondere Lust hatte, mir sein ödes Geplauder anzuhören. Und mit Neuigkeiten aus meinem doch eher ereignislosen Leben aufzuwarten, nein, darauf konnte ich verzichten. Aber nun sagte ich mir, weshalb nicht einmal selbst zum Hörer greifen und, die Konversation unauffällig steuernd, ganz bestimmte, für mich nun höchst interessante Belanglosigkeiten abhören? Ich erwischte ihn in einem günstigen Moment. Madeleine war weg, in einem Italienischkurs, den sie, so hörte ich mit Wohlgefallen, jeden Donnerstag von acht bis zehn Uhr abends in der Migros Klubschule Wengihof besuchte. Mehr brauchte ich nicht.

Nun wurde es langsam ernst. Am nächsten Donnerstagabend rekognoszierte ich die Situation vor Ort – Zielperson, Weg, den sie einschlug, Ausmaß der Belebtheit des Gebiets, Festlegung des geeignetsten Tatortes –, dann ging es an die Detailplanung. Ich beschloss, mich wie eine strenggläubige Muslimin zu kleiden, mit langem Regenmantel und Kopftuch. Beides kriegte ich für wenig Geld in einem Warenhaus. Ich ging absichtlich nach Feierabend hin; in dem Gewusel von Kundinnen, die sich umschauten, Sachen anprobierten und an der Kasse über den Tresen schoben, konnten die Verkäuferinnen garantiert keine einzelnen Gesichter im Gedächtnis behalten. Eine solche Verkleidung macht einen unkenntlich, und Madeleine würde sich garantiert nicht bedroht fühlen und davonrennen, wenn eine unauffällig wirkende Frau hinter ihr herging.

Ich geriet in jener Zeit in einen eigenartigen Zustand von höchster Konzentriertheit. Im Büro tat ich mechanisch meine Arbeit, aber innerlich war ich stets bei meinem Vorhaben. Meine übliche Unsicherheit, überhaupt alles Gefühlsmäßige, war weg, nur das logische Denken war da, kühl wägte ich Details und Eventualitäten ab.

Dann war der Tag da. Kurz vor zehn Uhr war ich auf dem Posten. Mein Opfer ließ auf sich warten. Gruppen von Schülern strömten aus dem Gebäude und entfernten sich in alle Richtungen; Madeleine war nicht darunter. Sieben Minuten nach zehn sah ich sie endlich herauskommen. Sie bog in den schmalen, kurzen Fußweg ein, der in die Engelstrasse führte. Ich näherte mich von der Wengistrasse her und achtete darauf, dass sie mich – und damit meine Harmlosigkeit – bemerkte. Es klappte. Hinter ihr hergehend, den Hammer fest in der rechten Hand, beschleunigte ich auf dem ansonsten menschenleeren Fußweg, schloss auf und schlug zu. Aber richtig! In dieser einen Sekunde war nichts anderes in mir als Hass, Gewalt und Triumph. Ohne einen Ton von sich zu geben, brach die Frau zusammen. Augenblicklich legte sich mein innerer Aufruhr, ich fühlte mich ganz ruhig und wusste genau, was zu tun war. Ich ging weiter, bog in die Engelstrasse ein, entsorgte den Hammer in einem Abfallsack, den ich fest zuband und in einen Container warf, und machte mich auf den Heimweg; am Hardplatz nahm ich den 33er. In weniger als einer halben Stunde war ich zu Hause. Den wichtigsten Teil hatte ich geschafft. Alles war nach Plan verlaufen, keine Störung von außen hatte mein Unternehmen durchkreuzt, und ich hatte die Nerven bewahrt. Nun hieß es abwarten.

Würde ich befragt werden, in Verdacht geraten? Hatte ich irgendwelche Spuren zurückgelassen? Sehr unwahrscheinlich. Den Regenmantel, das Kopftuch und die Schuhe warf ich am nächsten Tag in getrennten Tüten mit anderen alten Kleidern, die ich für diesen Zweck in einem Brockenhaus gekauft hatte, in Kleidersammelcontainern ein. Jene muslimische Frau und ich hatten keinerlei Ähnlichkeit miteinander.

Madeleine wurde erst spät gefunden, gegen drei Uhr morgens, wie es in den Morgennachrichten des Lokalradios hieß. Von einer Frau mit langem Regenmantel und Kopftuch war keine Rede. Ich wunderte mich etwas, dass Marc sich erst so spät nachts Sorgen um sie gemacht hatte. Um zwei hatte er eine Vermisstenmeldung aufgegeben, und die Polizei war ihren Heimweg von der Sprachschule aus abgegangen. Diese Meldung klang für mich ganz gut, aber es hieß weiter abwarten. Die Polizei sagt den Medien oft nicht alles, sondern verschweigt gerade die interessantesten Dinge.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
304 s. 7 illüstrasyon
ISBN:
9783839269589
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Telif hakkı:
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