Kitabı oku: «Scheidung kann tödlich sein»
Scheidung kann tödlich sein
Impressum
Liebe Leser, ein Hinweis vorab
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Andrea Ross
Scheidung kann tödlich sein
Band I
XOXO Verlag
Für
unsere sieben Kinder
... mögen sie uns eines Tages verstehen können.
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-038-5
E-Book-ISBN: 978-3-96752-538-0
Copyright (2019) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter
Buchsatz: Alfons Th. Seeboth
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Rechtlicher Hinweis:
Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diesen Roman sind, abgesehen freilich von real existierenden Ortschaften, frei erfunden. Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge bei Behörden sowie anderen Institutionen oder Firmen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sowie deren Vereinigungen sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig. Selbstverständlich gilt letzteres nicht für ›Öffentliche Personen‹ aus der Politik.
Liebe Leser, ein Hinweis vorab
Dieser Roman greift ein sensibles Thema unserer Zeit auf und hinterlässt die wohl berechtigte Frage, ob die Rechtsprechung in Familiensachen im Deutschland unserer Tage in ihrer Form noch aktuell sein kann. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind nicht beabsichtigt, können wegen der autobiografischen Teile des Werks sowie der Vielzahl so oder so ähnlich abgelaufener Fälle jedoch wohl nicht ganz vermieden werden, auch wenn, wie in diesem Falln alle Namen geändert wurden.
Als Schauplatz der Handlung habe ich meine wirkliche Heimatstadt gewählt, doch hätte der Roman auch an jedem anderen Ort spielen können. Es ist nicht meine Absicht, diese Stadt zu verunglimpfen, aber ein wenig Satire wird sie sicherlich verkraften. Die Romanfiguren sind stellvertretend für bestimmte Persönlichkeitstypen zu sehen. Eine Verletzung von Persönlichkeitsrechten kann somit nicht eintreten.
Ich bedanke mich bei Freunden und Bekannten, die mir mit zahlreichen Fallschilderungen Anregungen zu diesem Buch gegeben haben.
Ihre Autorin
Kapitel I
Adieu, Du schnöde Welt
Liebe Familie,
wenn ihr das hier lest, dann habe ich es leider nicht geschafft. Um es vorweg zu nehmen: es muss sich an der Sauerei hier niemand schuldig fühlen, dies war meine Entscheidung. Mein einziger Ausweg aus einer vollkommen ausweglosen Situation. Einer Situation, die ich mir nach und nach selber geschaffen und zementiert habe, wenn auch aus dem Willen heraus, für alle Beteiligten etwas zu verbessern und endlich ein glückliches Leben zu führen, in welchem ich diejenige sein darf, die ich eigentlich bin. Ohne mich nach allen Seiten verbiegen, verarschen oder treten lassen zu müssen, nur weil ich nun einmal geradlinig und gutmütig bin. Verzeihung, WAR, meine ich natürlich.
Dies ist keine Kurzschlusshandlung, sondern vielmehr die Summe dessen, was sich durch drei gescheiterte Ehen, den Weggang von Kindern, einen seit 30 Jahren vollkommen ungeliebten Job und die Entwicklungen der jüngsten Zeit aufsummierte. Ich habe beständig gegengesteuert und versucht, für alle Beteiligten immer wieder alles zum Guten zu wenden. Leider bin ich gescheitert, denn je mehr ich geliebt, ertragen oder unternommen habe, desto mehr bekam ich eines übergebraten, oft auch von unerwarteter Seite. War ich gut, war man neidisch und bekämpfte mich. War ich in irgendetwas unzulänglich, habe ich mir Spott eingefangen. So ist in mir das Gefühl immer weiter gewachsen, dass ich es auf dieser Erde niemals schaffen werde, akzeptiert und einfach in Ruhe gelassen zu werden.
Schon öfters war ich an dem Punkt, an welchem ich mir sagte, dass Weitermachen einfach keinen Sinn mehr ergibt. Als ich es dann doch tat, haben sich freilich immer wieder ein paar positive Aspekte ergeben, die ich sonst nicht erlebt hätte. Doch dies währte ausnahmslos immer nur eine kurze Zeit, und der nächste Hammer, der mich traf, war dafür noch ein wenig schwerer als der letzte.
Zuletzt stand ich Anfang dieses Jahres in der Küche des Hauses in Voitsumra, mit einem Messer in der Hand zwecks Abflug – ja, wohin eigentlich? Ich war total verzweifelt, weil ich an Günther nicht mehr herankam, der nur sein Martyrium lebte und mich, die Kinder und meine Probleme mit ihm gar nicht mehr wahrnahm. Ich musste quasi hilflos zusehen, wie auch die dritte Ehe den Bach runter ging, ein Umzug bevorstand und meine Kinder derweil ihre Verhaltensauffälligkeiten ausweiteten. Dazu war ich recht gestresst, da mich Job, Kinder, die lange Fahrtstrecke zur Arbeit, die Arbeit im und um das Haus etc. von früh bis spät beanspruchten und ich absolut keine Zeit für mich selbst finden konnte.
Aber ich tat es nicht, legte das scharfe Messer in die Schublade zurück. Ich hasste mich für diese Schwäche. Meine gesamte Hoffnung setzte ich nun in den Umzug und darauf, dass ein neues Umfeld Günther aus seiner Leidenslethargie reißen und durch neue, einfachere Lebensumstände vielleicht endlich eine Phase der Beruhigung eintreten würde. Doch wieder kam es ganz anders. Anstatt einer Erholungsphase nebst Eherettung erwartete mich erst ein Horror-Umzug, dann eine Verschärfung der Probleme mit Günther, neben einigen Nebenkriegsschauplätzen auf der Arbeit und dem Ärger mit den Vermietern, den ich ganz alleine in die Hand nehmen durfte. Günther hielt sich vornehm zurück, wie er es immer getan hatte.
Meine verzweifelten Appelle an Günther, die Kinder und auch mein eigenes Seelenleben betreffend, ignorierte er weitgehend. Die einzige Reaktion war, sofort wieder zum Märtyrer zu werden und im Keller an seinem Schreibtisch zu verschwinden. Da wurde mir klar, dass alle Bemühungen meinerseits vergebens waren. Dass ich wieder einsam und alleine alles ertragen und weitermachen müsse.
Nun war ich am Überlegen, wie ich diese Ehe so schmerzlos wie möglich beenden könne, weil die Familiensituation unerträglich geworden war und ich auch meine Kinder vor einem solchen Stiefvater schützen musste. Selbst, wenn garantiert keine böse Absicht hinter seinem Verhalten steckte, er war offenbar schlicht und einfach mit der Situation überfordert.
Dann passierte etwas durch und durch Merkwürdiges, Verwirrendes, Schönes, womit ich niemals gerechnet hätte. Und dieses Etwas trug den Namen Attila. Ja, sicher, ich dachte aufgrund vorheriger Beziehungen, dass ich schon wüsste, was Liebe ist, und hielt die bisher gekannten Gefühle auch hierfür. Nun musste oder durfte ich aber erkennen, dass es doch wohl etwas anderes gewesen war. Es traf mich zu einem Zeitpunkt, an dem ich auf alles andere eingestellt gewesen wäre, aber nicht auf so etwas. Aus heiterem Himmel, sozusagen. Mit einem Menschen, der noch verheiratet war, und das auch noch mit meiner Cousine. Mehr Tabu geht eigentlich nicht. Schon immer hatte ich mich mit Attila sehr gut verstanden, wenn wir ab und zu aufeinander trafen. Ich hatte auch ein merkwürdiges Gefühl von totaler Harmonie wahrgenommen. Doch niemals wäre ich auf die Idee gekommen, er wäre für MICH. Ich besitze ein äußerst exakt funktionierendes Gewissen, schon dieses hätte alle Gedanken in diese Richtung erbarmungslos ausgefiltert.
Als wir uns dann zu einer Krisensitzung im Café del Sol trafen, um über seine weiteren Schritte bei der Scheidung von Uschi zu diskutieren (und mehr hatte wirklich keiner von uns geplant), da schlug der Blitz ein. Bumm, Gegenwehr überhaupt nicht möglich. Einerseits machte uns das etwas Angst, andererseits war es so überwältigend schön und auch unbekannt, dass sofort klar war, worum es sich hier handelte: Liebe. Die echte, bedingungslose. Die ohne Kompromisse, ohne Netz und doppelten Boden, die überaus gefährliche. Und es ging uns beiden so, ohne dass das jemand so gewollt hätte. Ich fand vor lauter Schmetterlingen im Bauch morgens nicht einmal den Weg zum Kindergarten, ich dachte, ich müsse tot umfallen, wenn ich ihn für ein paar Stunden nicht sehen oder wenigstens sprechen konnte. Dieses Gefühl schwächte sich auch nach Monaten nicht einmal um Nuancen ab, im Gegenteil. Nun wusste ich auch noch, dass die Übereinstimmung tatsächlich so absolut war, wie ich es niemals auch in kühnsten Wunschträumen für möglich gehalten hätte. Sie betraf alle, wirklich alle Bereiche. So, als wäre man schon immer zusammen gewesen, als sei dies das einzig Richtige und Beständige, was auf der Welt existierte. Mir kam unwirklich vor, dass es eine Zeit vor Attila auch nur gegeben haben könnte.
Deshalb war auch ganz schnell klar, dass wir unsere Restfamilien zusammenwürfeln mussten und unsere Altangelegenheiten zu regeln hatten. Wir hätten es beide nicht aushalten können, diese Liebe irgendwie nebenbei zu leben. Ich informierte Günther von der Situation, der nach dem ersten Schock meinte, er habe schon immer eine Art unsichtbarer Verbindung zwischen Attila und mir gespürt, wenn wir miteinander sprachen. Vermutlich war das auch so, auch wenn keiner es bewusst wahrnehmen wollte.
Selbstverständlich war mir ebenso klar wie Attila, dass uns unsere Umwelt weder unser neu gefundenes Leben, noch derartige Gefühle gönnen würde. Dass das Zusammenwürfeln von Kindern ein paar Schwierigkeiten mit sich bringen würde, genau wie Attilas laufendes Scheidungsverfahren, das mehr einem Kriegszustand glich. Dass man in den Augen von Bekannten oder Nachbarn als oberflächlich gelten wird, wenn man »schon wieder« den Partner wechselt. Wir nahmen all das in Kauf, hatten gar keine andere Möglichkeit. Machten Pläne für die Zukunft und hatten exakt dieselben Visionen, wie diese aussehen müsste. Verrückt, revoluzzerhaft und auf gar keinen Fall langweilig, vor allem aber voller Harmonie zwischen uns beiden. Mit den Kindern, ob nun viele von den insgesamt Sechsen bei uns wohnen sollten, oder nur wenige davon.
Wäre dies ein Roman, so würde sich der Leser jetzt sicherlich fragen: wenn Sie wusste, dass es schwer wird, wo ist dann jetzt das Problem gewesen? Da hätte sie halt durchgemusst, auch wenn es dicke kommt. Wieso jetzt plötzlich aufgeben? Soweit die Theorie. Liebe Familie, dies war für mich aber keine Theorie, sondern knallharte Praxis. Wir erinnern uns, ich habe immer nur eines gewollt: ein Leben in Harmonie und Frieden, in der ich mit meiner Persönlichkeit als das akzeptiert werde, was ich eben bin. Zum allerersten Mal habe ich mit Attila gespürt, dass man so etwas tatsächlich erreichen kann und habe all meine Hoffnung darauf gesetzt, jetzt endlich glücklich werden zu dürfen. All meine Hoffnung, durchaus auch in dem Wissen, dass ich in diesem Fall ALLES, einschließlich meines Lebens, verlieren werde, sollte ich scheitern.
Zunächst kamen wir mit den widrigen Umständen ganz gut zurecht. Wir teilten alle Belange des Lebens und fanden dazwischen kleine Zeitnischen, in denen wir uns gegenseitig einfach nur genießen konnten. Egal, ob es sich um Gedankenaustausch, Spaziergang oder was auch immer handelte. Gemeinsam haben wir Rücken an Rücken gegen Aggressoren gekämpft, uns Strategien überlegt und an unserer gemeinsamen Zukunft gearbeitet. Wenn einer von uns Frust oder einen kurzen Durchhänger hatte, so hat ihn der andere aufgefangen und wieder aufgerichtet, was das Verhältnis anschließend noch inniger geraten ließ.
Was ich jedoch unterschätzt habe, war der Zustand meiner Nerven, die Summe meiner noch tief in mir steckenden Verletzungen aus dem Vorleben sowie die Möglichkeiten unserer Umwelt, uns tatsächlich schaden zu können. Aber auch wenn ich es realisiert hätte, kann man Liebe ausweichen? Nein. Eben. Und mir war auch nicht in vollem Umfang bewusst, welche Rolle die Tatsache noch spielen könnte, dass es sich bei der Fast-Exfrau von Attila ausgerechnet um meine Cousine handelte. Darüber hinaus war ich mir offensichtlich nicht darüber im Klaren, mit welcher Wucht und in welcher Summe immer neue Umstände auftreten können, die ein ständiges Gegensteuern notwendig machen.
Schon diese Aufzählung klingt nicht mehr nach harmonischer Zweierbeziehung, in der an so etwas wie einer neuen Zukunft gearbeitet werden könnte. Trotzdem habe ich genau wie Attila in der Hoffnung gelebt, dass dieser Sturm irgendwann überstanden sein müsste und alle das Interesse daran verlieren würden, uns im Wege zu stehen oder vor lauter Neid und Missgunst auf uns zu schießen. Ich kann nur versuchen, die Ereignisse der letzten Wochen zu rekonstruieren, so wie ich sie aus meiner persönlichen Warte erlebt und verarbeitet habe. Dabei erwarte ich nicht, dass alle sie nachvollziehen oder gar verstehen können. Ich habe eben schon immer eine sehr feinsinnige Struktur gehabt, einen starken Gerechtigkeitssinn sowie die seltene Gabe eines Gewissens besessen. Nicht jedermann konnte die Sensible in mir entdecken, nach außen hin wirkte ich wohl mehr wie ein unzerstörbares Bollwerk, das sich seinen Weg ohne Rücksicht auf Verluste bahnte. Dabei habe ich immer jegliche Handlung vorher genauestens, einschließlich der zu erwartenden Folgen, analysiert und lieber etwas in mich hinein gefressen oder mir selber geschadet, bevor ich einem anderen Menschen wissentlich Schaden zugefügt hätte. Umso tiefer waren dann meine eigenen Verletzungen und meine Enttäuschung. Das gilt auch für das Verlassen von Ehemännern, die ich letztlich irgendwie auch von mir befreit habe, weil wir nicht wirklich zusammen passten und uns den jeweils anderen nur im Wege des Kompromisses passend dachten. Das konnte es ja nicht sein, vor allem dann nicht, wenn Kinder unter der Situation zu leiden hatten. Verdammt, oft habe ich mir gewünscht, jemand könne die Angelegenheit nur kurz durch meine Augen sehen und verstehen, in welchem Zwiespalt ich mich befand.
Ich frage euch: Welchen Grund hätte ich gerade jetzt, in dieser Ausnahmesituation, irgendetwas an meinem oder eurem Verhalten zu beschönigen? Es lohnt sich nun ja wohl nicht mehr, daher erhaltet ihr hier eine genaue Darstellung dessen, was zu meinem finalen Schritt führte. Ich kann so mein Leben noch einmal Revue passieren lassen, und ihr könnt hoffentlich erkennen, dass keiner von euch der Anlass war. Die Summe aus all diesen Ereignissen zeitigte das Ergebnis. Und auch, dass ich nicht etwa psychisch verwirrt oder alkoholisiert war, oder gar einfach nur eine appellative Handlung vorhatte, die eben schief ging.
Nein. Schriebe jemand solche Briefe, der nicht vollständig Herr seiner Sinne ist? So war es eben nun tatsächlich mein Wille, meinen Abgang von dieser »schönen« Erde etwas vorzuziehen. Attila, Du kennst das aus Deiner eigenen Erfahrung und wirst verstehen. Sei mir bitte nicht böse, um ein Haar hättest Du es 2004 noch vor mir geschafft. Glücklicherweise durfte ich noch mit Dir zusammen sein. Der Gedanke an Dich ist neben dem an meine Kinder das Einzige, was ich auf die andere Seite mit hinübernehmen möchte.
Also, warum eigentlich ging es nicht mehr anders? Ich möchte euch nicht länger auf die Folter spannen und denke, ich muss nicht detailliert bei Adam und Eva anfangen, daher schreibe ich über einige Teile meines Lebens nur in Stichpunkten. Den meisten von euch wird mein Leben bis auf die letzten Monate ja bekannt sein.
Kapitel II
Warum immer ich?
Ich war schon immer anders. Anders, als ich hätte sein sollen, als es Menschen in meiner Umgebung sich gewünscht hätten. Als Kind konnte ich wohl zu meinem Vater, nicht aber zu meiner Mutter ein wirklich herzliches Verhältnis aufbauen. Das ist bis heute so geblieben, wenn sich auch manche Wogen mittlerweile geglättet haben. Sie hat eine gänzlich andere Struktur mit einem vollkommen verschiedenen Wertesystem als ich, das Ganze hat sich nie wirklich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. So wurde mir schon früh in sehr vielen Situationen erklärt, dass meine Ansichten nicht in Ordnung sind, dass man darauf hören müsse, was die Leute sagen, materiell orientiert sein und immer nachgeben. Nur nirgends auffallen, nur nirgends herausragen. Strenge und Strafe hat meine Mutter immer groß geschrieben, wenn etwas nicht nach ihrer eigenen Lebensphilosophie gehandhabt wurde. Sie sah sich selbst als eine Art Maßstab, an dem ich mich jedoch so gar nicht messen lassen wollte. Ich war als Reaktion auf diesen Zwiespalt eher introvertiert, interessierte mich für das Lesen, die Natur und Menschen, die nicht intrigieren wollten und die friedfertig waren.
1981 – Führerschein, hart erkämpft
Ich liebe Rockkonzerte. Genau wie meine Kumpels, die ich in der Freizeit treffe. Es sind wirklich illustre Typen, alle hoch intelligent, doch von nicht alltäglichem Aussehen. Da ist zum Beispiel M.W. Der wird der Einfachheit halber so genannt, weil er in Wirklichkeit Martin-Wolfgang heißt, was nicht wirklich zu seiner Optik passt. Bei ihm muss man buchstäblich suchen, wo vorne und hinten ist, da die Länge seines Vollbartes ständig mit der Länge seines Haupthaares konkurriert, dazwischen eigentlich nur eine Brille als Anhaltspunkt dient. Damit man weiß, mit welcher Seite man sprechen muss. M.W. ist ein Diplomphysiker, der noch bei seiner Mutter wohnt. Die nennt er liebevoll »Schwester Annemarie«, weil sie als Krankenschwester arbeitet und er sie immer dafür bemitleidet.
Oder Fischi. Sein Name ist ebenfalls stark vereinfacht worden, er heißt eigentlich Norman Fischbiereck. Daher musste er in der Kneipe auch immer an der Ecke des Tisches sitzen, keine Chance auf ein anderes Plätzchen. Abgesehen von einer Haarpracht, die sich ebenfalls sehen lassen kann, ist Fischi für seine Unkompliziertheit bekannt. Er wohnt in einem Gartenhäuschen, das er eines fernen Tages ausbauen will. In seinem Kopf sind schon sämtliche Pläne fertig, hier einmal eine Traktorhalle anzubauen und einen Bauernhof daraus zu machen. Die Pläne in seinem Kopf sind schon seit Jahren detailliert fertiggestellt, doch sitzt er lieber stundenlang im Garten und guckt den Schnecken beim Schleichen zu. Er hat die Ruhe weg, und dafür bewundere ich ihn. In ein paar Jahren wird er vermutlich den Grundstein für die Traktorhalle legen, welchen er dann weitere Jahre erst einmal stolz jeden Tag gleich nach den Schnecken besichtigen wird. Braucht Fischi zwischendurch einmal Geld zum Leben, dann fährt er eben ein wenig aushilfsweise Taxi. Aber nicht zuviel, das bringt einen aus dem Takt. Übrigens ist auch er ein Diplomphysiker und von erlesener Intelligenz.
Dann ist da Sandi. Ein langer, schlaksiger Typ, der mit mir in
derselben Schule war. Dessen Passion ist seine Bassgitarre, er will dereinst Rockmusiker werden. Hierfür setzt er seine ganze Energie ein, wenn er nicht gerade philosophiert. Denn ein Philosoph ist er schon jetzt. »Alles effektiv trivial«, so sein für alle Belange des Lebens passender Spruch, den er bei jeder Gelegenheit zum Besten gibt, worauf wir alle andächtig nicken. Ob nun angehende Beamtin oder Diplomphysiker, die einfachen Wahrheiten des Lebens sprechen eben alle an.
Wir haben dann noch Siegbert, der genauso aussieht, wie eine berühmte, ausgesprochen beleibte Gottheit. Im Gegensatz zu dem berühmten Gegenstück jedoch leidet er unter seiner Körperfülle, die ihm gutes Essen und wenig Bewegung beschert haben, sowie eine unselige Veranlagung. Sigi ist eine Seele von Mensch, man kann prima mit ihm reden. Er ist gerade mit dem Abi fertig geworden und verteilt gerne mal einen Seitenhieb an meine Adresse, wie man denn nur Beamter werden kann. Das sei so ziemlich das Letzte, was er selber anstrebe. Selbstverständlich nur, um meine Seele zu retten. Denn Andrea als Beamtin, das konnten sich die Herren alle nicht so recht vorstellen.
Auch nicht Stephan. Mit diesem Herrn kann ich am wenigsten anfangen, er hat etwas Arrogantes, Besserwisserisches an sich. Er verwendet seinen zweifellos brillanten Verstand gerne als Waffe. In punkto Figur ist er noch dicker als Sigi. Fasziniert beobachte ich immer, dass es für seinen wirklich unförmigen Körper noch nicht einmal mehr passende Jeans gibt. Setzt er sich hin, so quillt der obere Körperteil derart aus der Hose, dass man sich schon fragt, wie das Material so etwas überhaupt aushalten kann. Er hat für alles und jeden sarkastische Kommentare auf Lager, sieht sich selbst als Chef der Truppe. Allerdings nur er selbst, wir anderen nehmen das mehr mit Humor. Nun ja, er muss schließlich dringend irgendetwas für sein Selbstbewusstsein tun. Zu seiner unübersehbaren Fettleibigkeit ist er mit einem hässlichen Boxergesicht und filzigen Haaren gestraft, die er sich auch noch als eine Art Afro-Look stehen lässt, der sein Gesicht gleich noch runder und teigiger machte. Aber Ahnung von Musik hat er, das muss man ihm lassen. Er kann auch immer die seltensten »Bootlegs« besorgen, hat Kontakte nach Amerika. Daher ist er für uns hauptsächlich ein Dealer von LP-Schwarzpressungen, und die muss man einfach haben.
Einmal habe ich seine Mutter gesehen, als wir ihn abholten. Von da an wunderte mich gar nichts mehr. Eine ebenso fettleibige, hässliche Frau öffnete uns die Tür, die mittags noch mit einem wattierten schweinchenrosa Morgenrock angetan war und Schläppchen mit Federpuscheln in brutalpink dazu trug. Dem total verquollenen Gesicht war mühelos anzusehen, dass sie wohl zuviel Alkohol erwischt hatte, und das garantiert nicht zum ersten Mal. Da konnten auch die zu Dutzenden im struppigen Haar verteilten Lockenwickler nichts verbessern, die zu allem Überfluss mit einem Haarnetz nebst rosa Schleife verziert waren. Zu alledem besaß sie die Grazie eines Nilpferdes, als sie sich mit einem Seufzer auf die aufgeplatzten Kunstledersessel fallen ließ. Gegen seine Mutter ist Stephan glatt noch eine Schönheit. Sein Vater muss wohl unter akutem Notstand gelitten haben, wenn er es über sich gebracht hat, diese Frau auch nur anzufassen. Anders ist Stephans Existenz nicht zu erklären.
Ich habe keine Ahnung mehr, auf welche Weise das Kuli-Muli zu uns gestoßen ist. Im Gegensatz zu mir, welche von der Truppe voll als gleichwertig akzeptiert wurde, war sie eine Art Bedienung für die Herren. Daher rührte auch der phantasievolle Name, in Wirklichkeit hieß das Mädel Silli, sie fuhr einen badewannenblauen Fiat 127. »Das« Kuli-Muli wurde für Tätigkeiten gebraucht, für die Stephan und Konsorten zu faul waren. Bier holen, Joint drehen, als Wärmekissen im Winter (man zerrte sie dann einfach auf seinen Schoß und schmiegte sich an) oder Taschen tragen. Benötigte man ihre Dienste, so schnippte man einfach mit den Fingern, und sie war da. Natürlich nehme ich diese »Dienste« nicht in Anspruch, ich finde das etwas entwürdigend, sowohl für »das Kuli-Muli«, als auch für mich.
Erstaunlich ist nur, dass Silli nicht nur keinen Anstoß an dieser Form der Behandlung nimmt, sondern es hochzufrieden damit ist. Erfreut springt sie auf, wenn sie gebraucht, pardon, benutzt werden soll. Es gibt scheinbar mehrere Wege zur Zufriedenheit, und sie hat den ihren gefunden. Mich hingegen hat man neulich zum »Ehrenmann« ernannt, weil ich abgesehen von der äußeren Form fast wie ein solcher funktioniere, haben sie gesagt. Ich hätte erstaunlicherweise ein logisch denkendes Gehirn und wisse es zu benutzen. Da war ich schon ein wenig stolz.
Dann gibt es noch eine dritte Frau in der Truppe. Meine Freundin Gisa, die etwas schüchtern ist und auch nur über ein rudimentäres Selbstbewusstsein verfügt, das ich ihr ständig ein wenig aufpolieren helfe. Es wird langsam, manchmal spreche sie sogar in der Runde an. Aber man merkt ihr nach wie vor an, dass sie sich ein wenig minderwertig fühlt. Ein Opfer ihrer Erziehung. Gisa ist hübsch, weiß es aber nicht. Dafür bemerkten es andere, zum Beispiel der dicke Stephan. Eines Tages waren wir bei Stephan zu Hause in dessen Zimmer und dealten mal wieder mit LPSchwarzpressungen von Led Zeppelin. Ich hatte soeben ein seltenes Exemplar erworben und war darüber hocherfreut, auch wenn mich das Teil wieder einen beträchtlichen Teil meines BeamtenanwärterGehalts gekostet hatte. Als ich meine Augen vom kopierten Cover der LP nahm, dachte ich, rückwärts vom Stuhl fallen zu müssen. Vor meinen Augen spielte sich eine Szene ab, mit der ich nicht einmal in einem Alptraum gerechnet hätte. Und Gisa vermutlich auch nicht. Es war eigentlich immer so gewesen, dass wir alle eine KumpelBeziehung untereinander hatten. Romanzen gab es nicht. Wir hatten Spaß in der Kneipe, auf Ausflügen oder vor allem bei Rockkonzerten. Es spielten fast alle auch selber Instrumente, ich hierbei genau wie Sandi einen Elektrobass. Aber nun war plötzlich alles anders. Was erblickten also meine entsetzten Augen?
Der fette Stephan griff mit seinen unsäglichen Wurstfingern nach Gisa, packte sie unsanft und zog sie auf seinen Schoß. Die ließ es willenlos geschehen, traute sich nicht, etwas entgegenzusetzen. Hierdurch ermuntert fing Stephan unverzüglich damit an, die arme Gisa überall zu befingern. Doch Gisa tat immer noch nichts, guckte nur einerseits verängstigt, andererseits sagte ihr Blick: »Hurra, ich hab doch einen abgekriegt!«.
Was Stephan anging, so bezweifelte ich, dass er zu romantischen Gefühlen überhaupt fähig war. Vermutlich hatte er einfach beschlossen, dass er nun endlich mal ein Weib haben wolle, und Gisa war eindeutig das wehrloseste Opfer. Damit hatte er allerdings Recht, denn bei mir hätte er deftige Prügel kassiert, das Kuli-Muli hätte ihn auch abgewiesen. Auf den Schoß setzen, ja. Alles andere, nein.
Die anderen Freunde, die mit mir in Stephans Zimmer saßen, guckten ebenso überrascht und entsetzt wie ich, ihnen hatte es schlicht und einfach die Sprache verschlagen. Als wir dann von Stephan recht unhöflich aufgefordert wurden, uns jetzt langsam einmal zu verdrücken, wussten wir Bescheid. Der wollte die Gisa wohl noch ganz woanders befummeln, und da konnte er uns nicht brauchen. Wir gingen, und ich warf Gisa noch einen bedeutungsvollen Blick zu. So nach dem Motto, komm, hau mit ab, wenn Du das hier nicht willst.
Doch Gisa blieb tapfer lächelnd auf Stephan sitzen, auch wenn das Lächeln mehr einen gequälten Charakter annahm. Ich durfte gar nicht daran denken, dass Stephan jetzt seine 160 Kilo wohl auf Gisa wälzen würde. Die anderen äußerten sich ähnlich. Von diesem Tag an war Gisa auch eine Art Kuli-Muli, sie hieß nun
»das Gisalein«. DAS. Gut, sie war so alt wie ich. Wenn sie sich nicht wehrte, konnte man ihr nicht helfen. Prompt fing Stephan auch an, sie nach seinen Wünschen zurechtzubiegen. Die riesige Brille wurde durch Kontaktlinsen ersetzt, und Gisa durfte ihre Lieblingsgruppe ABBA nicht mehr hören. Sie wurde gewissermaßen zwangsmetallisiert, denn seine Freundin hatte gefälligst Heavy Metal zu hören.
So kam es, dass wir nun mit Stephans orangefarbenen Citroën zu einem Konzert nach Erlangen fahren. Er kennt den Konzertveranstalter, somit dürfen wir wieder zum Bühneneingang hinein. Das ist auch gut so, denn am Haupteingang der Erlangener Stadthalle hatten wir zuvor schon mal ein negatives Erlebnis, als die Glastüren des Einganges der herandrängenden Masse nicht standhielten, zerbrachen und ein Blutbad anrichteten. Wir hatten zum Glück einen Meter weiter hinten gestanden, fielen somit auf die bedauernswerten Leute, die vor uns ihrerseits auf den Glassplittern landeten. So etwas drohte bestimmt heute erneut. Im Citroën sitzen vorne Stephan und Gisa, hinten ich, M.W. und Sigi. Wir freuen uns auf die Show, denn jemand hatte erzählt, der Sänger würde regelmäßig den nackten Hintern in die Menge halten. Das verspricht neben der guten Musik witzig zu werden. Der Wintertag ist klirrend kalt, doch da wir ja dank Bühneneingang nicht lange draußen sein werden, haben wir alle nur eine dünne Jeansjacke angezogen. Kommt auch nicht gut, wenn man zu einem Rockkonzert mit dicker, wattierter Winterjacke anrollt. Wir genießen das Konzert, und tatsächlich bekamen wir den behaarten Hintern von Djangozu sehen. Wie immer ist es viel zu schnell vorbei, verschwitzt bahnen wir uns den Weg zum Ausgang. Wir beschließen, auf der Heimfahrt noch an einer Autobahnraststätte Station zu machen, um das Erlebnis Revue passieren zu lassen.
Doch es kommt ganz anders. Hände reibend sitzen wir zur Abfahrt bereit im Auto, denn selbst der kurze Fußweg zum Fahrzeug, das am Straßenrand in der Nähe der Halle geparkt ist, lässt uns bei minus 21 Grad vor Kälte zittern. Stephan prahlt mal wieder damit, dass sein Fahrzeug mit einer Hydraulik ausgestattet ist, wodurch Schneehäufchen kein Problem bei Ausparken sein werden. Er dreht den Zündschlüssel, und es passiert – nichts. Der Anlasser orgelt vor sich hin, doch das Fahrzeug denkt gar nicht daran, anzuspringen. So lange nicht, bis die Batterie nahezu leer ist. Anfangs witzeln wir noch über das tolle Auto, das zwar eine Hydraulik hat, aber scheinbar keinen Motor. Doch das vergeht uns schnell.
Stephan wird sichtlich sauer. Er haut seinem ansonsten geliebten Auto auf das Armaturenbrett und ergeht sich in übelsten Flüchen, die Gisa auf der Stelle rot werden lassen. Sie handeln davon, dass das Auto wohl bei einer amourösen Beziehung seiner Mutter mit einem Hund entstanden sein müsse. Aber auch das veranlasst das Fahrzeug nicht dazu, sich in Gang zu setzen.