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Andrea van Dülmen

Luther-Chronik

Daten zu Leben und Werk

Überarbeitete Neuauflage

mit einem Vorwort von Klaus Berger

500 Jahre Luther und Reformation, Band 6


Patrimonium-Verlag 2017

Impressum

Originalausgabe: September 1983

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

unter dem Titel »Luther-Chronik – Daten zu Leben und Werk«

ISBN 3-423-03253-7


2., überarbeitete Auflage 2017

© Patrimonium-Verlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Erschienen in der Edition »Patrimonium Theologicum«

Patrimonium-Verlag

Abtei Mariawald

52396 Heimbach/Eifel

www.patrimonium-verlag.de

Herstellung und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz GmbH

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Abbildungsnachweis:

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Drucks »Life of Martin Luther« – N.Y.: Published a. printed by H. Schile, 36 Division St. c1874; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Life_of_Martin_Luther.jpg; Auto: Breul, H.

Print:

ISBN-10: 3-86417-083-4

ISBN-13: 978-3-86417-083-6

e-Book:

ISBN-10: 3-86417-164-4

ISBN-13: 978-3-86417-164-2

Einführung

Der Patrimonium-Verlag bringt eine Neuauflage der Luther-Chronologie von Andrea van Dülmen heraus, eines verdienstvollen, ja unentbehrlichen Werkzeugs der Lutherforschung.

Andrea van Dülmen (geb. 1940) ist eine römisch-katholische Paulusforscherin. Damit ist sie auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Luther kompetent. Als ich sie 1964 kennenlernte, war sie gerade mit ihrer Doktorarbeit »Die Theologie des Gesetzes bei Paulus« beschäftigt. Dieses wichtige Buch erschien 1968 im Druck und ist längst vergriffen. Unser gemeinsamer Doktorvater war der Münchener Exeget Otto Kuss (1905–1991), der vor allem durch seinen lange unvollendeten Kommentar zum Römerbrief des Apostels Paulus bekannt geworden ist. Da Andrea van Dülmen mit einem der bekanntesten Historiker der Frühen Neuzeit, Richard van Dülmen († in Erfurt 2004) verheiratet war, stand die Arbeit an einer Luther-Chronik gewissermaßen im Fadenkreuz ihrer Biographie.

Vor allem in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts stand die katholische Paulusforschung insbesondere in Deutschland noch oder wieder vollständig im Banne der Reformation, und in wichtigen Ausläufern findet sich diese spezielle Richtung, sofern sie überhaupt noch vertreten wird, noch immer in derselben Konstellation, die man dann »ökumenisch« zu nennen pflegt. Andrea van Dülmen hat das zu spüren bekommen, denn die Ergebnisse ihrer Paulusforschung, Kritik an den protestantischen Giganten Luther, Käsemann und Bultmann, wurde von der katholischen Fakultät in Tübingen als »peinlich« bezeichnet. Das heißt auf Deutsch: Küng meinte, die katholische Paulusforschung habe sich, wenn sie ernst genommen werden wollte, nach dem protestantischen Mainstream zu richten. Diese Einseitigkeit galt und gilt noch heute für den Neuprotestantismus, zu dessen Urvätern neben dem Exegeten Ernst Käsemann vor allem Karl Barth gehören. Postum wurde 1952 die gründliche Arbeit des Protestanten Karl August Meissinger (geb. 1883) unter dem Titel »Der katholische Luther« herausgegeben, eine vorbildlich unpolemische Darstellung der frühen Jahre Luthers, die ich schon als Schuljunge verschlungen habe.

An dieser Stelle steht auch das Buch der katholischen Forscherin Andrea van Dülmen über Luther. »Martin Luther« als Forschungsgegenstand ist deshalb so brisant, weil das Lutherbild seit Jahrhunderten von konfessioneller Voreingenommenheit bestimmt ist. In Wahrheit geht es um Vorurteile, mangelnde Neugierde und emotionale Besetztheit bis hin zum blanken Hass, der bereit ist, jedes Märchen zu glauben. Und wenn jetzt, seit 2016 europaweit alte Feindschaften wieder aufbrechen, von denen man meinte, sie seien längst zu Grabe getragen, dann ist das kein gutes Vorzeichen auch für den Erfolg des Reformationsjahres 2017. Denn es gibt wieder verstärkt Protestanten, die meinen, der Papst sei der Antichrist und Luther habe das Neue Testament geschaffen (natürlich nicht das angeblich düstere Alte Testament), dazu noch die Menschenrechte, die Zehn Gebote und jegliche Mädchenbildung. Der Zisterzienser-Orden, dem ich seit Jahren als Familiare angehöre, orientiert sich seit dem von Luther überaus geschätzten heiligen Bernhard (12. Jh.) intensiv an Paulus, und so ist es auch mit dem Orden Luthers, den Augustiner-Eremiten. Zisterzienser und Augustiner sind über viele Jahrhunderte hin stets die großen Verfechter paulinischer Theologie gewesen. Deshalb habe ich in diesem Verlag den Kommentar zum Römerbrief, den der Zisterzienser Wilhelm von St. Thierry in der Mitte des 12. Jhd. geschrieben hat, zusammen mit meiner Frau auf Deutsch herausgegeben.

Schon in ihrer Dissertation wollte Andrea van Dülmen dazu beitragen, die unangemessene Polemik durch einen neuen Blick auf Paulus zu heilen. In dieser Luther-Chronik geschieht dasselbe mit Martin Luther. Denn wo seit Jahrhunderten Polemik und Hass regieren, ist ein Blick auf die schlichten und nüchternen, oft ganz alltäglichen Tatsachen, das Vordringliche. Es geht dabei einfach um das, was historisch gesichert ist und was man datieren kann – in der Regel inklusive schlagender Zitate. Gefordert war dafür nicht irgendein guter Wille, sondern wache Umsicht, gepaart mit der Bereitschaft, auch das scheinbar Nebensächliche ernst zu nehmen und doch die geschichtlich wirksamen Ideen nicht zu verschweigen.

Beispiel: Ende Februar/Anfang März 1522

»26. Februar: In einer für Luther bestimmten Instruktion beklagt der Kurfürst zwar die Zustände und Verwirrung in Wittenberg, rät ihm aber dringend ab, die Wartburg zu verlassen, da er ihm keinen Schutz gegen die verstärkte Bedrohung durch Reichsregiment und Bischöfe bieten könne.

Anfang März (?): Als erster Teil einer großen Postille in deutscher Sprache erscheinen die Predigten zur Weihnachtszeit. Vorangestellt ist ihnen Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und gewarten solle. Die Postille ist vor allem für den Gebrauch von Predigern bestimmt, die in der Verkündigung noch unsicher sind. Luthers Hoffnung richtet sich darauf, dass schließlich das Wort Gottes so klar vor jedem einzelnen Christen stehe, daß menschliche Worte überflüssig werden. ›Es ist ein unendlich Wort und will mit stillem Geist gefasset und betrachtet sein… Darumb, hinein, hinein, lieben Christen, und laßt mein und aller Lehrer Auslegen nur ein Gerust sein zum rechten Bau, daß wir das bloße lauter Gottis Wort selb fassen, schmecken und bleiben‹ (WA 10, II,1 728). In seinem späteren Urteil sieht Luther in der Kirchenpostille sein allerbestes Buch, ›das auch die Papisten gerne haben‹ (WA 23,278).«

Fazit: Andrea van Dülmen erfasst Real- wie Theologiegeschichte gleichermaßen. Sie zeigt umfassende Kenntnis der zum jeweiligen Datum gehörenden Publikationen Luthers. Die historischen Ereignisse kann sie als freie, absichtliche, je und je begründete Taten deuten.

Andrea van Dülmens Buch ist kein Roman, kein Erbauungsbuch und keine Streitschrift, die für das Recht der einen oder der anderen Seite kämpft. Sie ist das, was man von dem Titel erwartet: »Luther-Chronik. Daten zu Leben und Werk«. Wenn es um Bewertungen geht, sprechen daher stets die zeitgenössischen Originaldokumente: So heißt der letzte Satz der Chronik, der Luthers Begräbnis betrifft, in diesem Buch: »Anschließend wird Luthers Sarg in einem Grab beigesetzt, »nicht fern vom Predigtstuhl, da er am Leben mannicher gewaltige christliche Predigten… getan«(WA 54,496).

Für mich ist dieses Buch spannender als mancher Krimi. Denn an die Stelle von Erbaulichkeit oder Schrecklichkeit tritt das erfolgreiche Bemühen, am ersehnten Frieden mitzuwirken durch Einführung einer neuen Optik. Das heißt: Wirklichkeit wird unverklärt, aber eben nicht als von Teufeln besetzt, wahrgenommen. Der Historiker fragt nach dem Nächstliegenden.

Und weiter: Was zunächst als Magerkeit erscheint, ist die gesunde Abwesenheit von theologischem Schwall oder von Besser- und Alleswisserei, zu der manche Theologen gerne neigen. Denn Andrea van Dülmen will um fast jeden Preis wissen, wie es denn genau war, auch: was das alles den Menschen getan hat, die sich mit so Gravierendem abgaben. Daher wird auch registriert, wann Luther sich vertreten ließ, da er z.B. von starkem Schwindel befallen war.

Nichts wird gerechtfertigt, aber alles wird so gesagt, dass man für jede weitere Diskussion einfach davon ausgehen muss. Diese »Oberflächenarbeit« ist nicht mit Oberflächlichkeit zu verwechseln.

Die finnischen Lutheraner hatten schon ihre guten Gründe, weshalb sie dieses Buch als eines der ganz wenigen deutschen Luther-Bücher ins Finnische übersetzen ließen. Papst Benedikt XVI. hat in Erfurt die Lutheraner gebeten, sie möchten doch bitte ihren Luther lesen. Und als Zisterzienserfamiliare möchte ich einen Wunsch für Katholiken hinzufügen: Lest einmal, vielleicht erstmalig, Luthers Auslegung des Magnificat, des Lobgesangs der Muttergottes nach Lk 1. Maria ist für ihn durchaus ein Thema, auch wenn er jede Mitwirkung ablehnt, wie er ja auch nicht einmal die Menschwerdung Christi als Instrumentalursache der Erlösung gelten lassen will.

Der Blick auf die Fürsten und ihre hegemonialen Bestrebungen im Umfeld der Reformation bleibt einem bei der Lektüre von Andrea van Dülmens Buch nicht erspart.

Klaus Berger, Heidelberg,

Mariä Verkündigung 25.03.2017

Chronik

1483

10. November: Martin Luther wird in der Langen Gasse zu Eisleben geboren. Die Familie des Vaters Luder, Lüder oder Lui­der ist in dem kleinen Dorf Möhra in Thüringen ansässig. »Ich bin eins Baurn Sohn, mein Vater, Großvater, Ahnherr, sind rechte Baurn gewest.« (T 1, 855) Als älterer Sohn eines Erbzinsbauern musste Hans Luther den Hof verlassen, heiratete Anfang des Jahres Margarete (geb. Ziegler?), die möglicherweise aus einer reicheren Bauernfamilie in Möhra gebürtig war, und zog als Bergmann nach Eisleben. Von Lucas Cranach d. Ä. sind die Bildnisse von Luthers Eltern (1527) in Eisenach erhalten. – Das Geburtsjahr Luthers ist nicht völlig gesichert, es wird auch das Jahr 1482 in Betracht gezogen.

11. November: Luther wird durch Pfarrer Bartholomäus Rennebecker im Turmraum der St. Petrikirche in Eisleben auf den Namen des Tagesheiligen Martin getauft.

1484

Hans Luther zieht mit seiner Familie nach Mansfeld ins Zentrum des mansfeldischen Bergbaugebietes. »Mein Vater ist in seiner Jugend ein armer Häuer gewesen. Die Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken heimgetragen. Also haben sie uns erzogen.« (T 3, 2888 a) Luther ist die anfängliche Armut im Elternhaus in nachhaltiger Erinnerung. Mit der Zeit aber gelangt Hans Luther zu Geld und Ansehen. 1491 unterschreibt er als einer der Viermänner in Mansfeld und tritt einer kleinen Bergwerksgesellschaft bei. 1509 wird er als Hüttenmeister erwähnt, d. h., er ist Miteigentümer von Hüttenbetrieben, später am Gewinn aus acht Schächten und drei Hütten beteiligt, ist also ein erfolgreicher Unternehmer. Bei seinem Tod 1530 hinterlässt er 1250 Goldgulden. Die Berufswelt des Vaters scheint in Luthers Bewusstsein wenig Eindruck hinterlassen zu haben: weder in der Auseinandersetzung mit Wirtschaftsfragen noch in seiner reichen Bildersprache spielt das Bergwerkswesen eine Rolle.

Martin Luther werden zahlreiche Geschwister geboren, zwei oder drei Brüder und eine Schwester sterben frühzeitig, mit Jakob steht er zeitlebens in gutem Einvernehmen, drei Schwestern verheiraten sich mit Mansfelder Bürgern.

Martin Luther wird mit großer, für seine Zeit jedoch nicht ungewöhnlicher Härte erzogen. »Mein Vater stäupet mich einmal so sehr, daß ich ihn flohe und ward ihm gram, bis er mich wieder zu ihm gewöhnete.« (T 2, 1559) »Meine Eltern haben mich gar hart gehalten, daß ich auch drüber gar schüchtern wurde. Die Mutter stäupte mich ein Mal um einer geringen Nuß willen, daß das Blut hernach floß, und ihr Ernst und gestreng Leben, das sie mit mir führeten, das verursachte mich, daß ich darnach in ein Kloster lief und ein Mönch wurde; aber sie meineten’s herzlich gut.« (T3, 3566 B) Dennoch blieb Luthers Zuneigung und auch Dankbarkeit den Eltern gegenüber beständig.

Das christliche Weltbild der Eltern entspricht dem des Spätmittelalters; sie sind fromme Leute, aber nicht besonders kirchlich, und teilen allen Aberglauben der Zeit, vor allem einen auch bei Luther stark ausgeprägten Teufelsglauben. Eine spezielle Beeinflussung des jungen Luther, die in seinem späteren Leben sichtbar geworden wäre, kann man im Elternhaus nicht ansetzen. Dass Luthers Konflikte mit dem Vater für seine Entwicklung und Theologie maßgeblich gewesen seien, findet in den Quellen kaum eine Grundlage.

1491

12. März: Luther kommt vermutlich zu diesem Zeitpunkt in die Trivialschule in Mansfeld. Die Lateinschule sollte neben Grundkenntnissen in Lesen, Schreiben, Rechnen vor allem Grammatik, etwas Logik und Rhetorik sowie über den kirchlichen Chorgesang auch musiktheoretische Grundlagen vermitteln. Latein war von Anfang an die Unterrichtssprache, und Luther hat sich hier den selbstverständlichen Umgang mit dieser Sprache angeeignet. Der Unterricht war bestimmt durch stures Einpauken, das in Luthers Erinnerung mit großer Grausamkeit der Lehrer verbunden war: »die Hölle und das Fegfeur unser Schulen, da wir innen gemartert sind über den Casualibus und temporalibus, da wir dennoch nichts denn eitel nichts gelernt haben durch so viel Stäupen, Zittern, Angst und Jammer«. (WA 15, 46)

1497

Frühjahr (vielleicht schon 1496): Luther wird nach Magdeburg »zu den Nullbrüdern« (B 2, 563) in die Schule geschickt. Tatsächlich hat er wohl die Magdeburger Domschule besucht und bei den ›Brüdern vom gemeinsamen Leben‹ gewohnt. Hier erlebt er eine Welt tiefer persönlicher Frömmigkeit und Innerlichkeit. Über den Unterricht ist weiter nichts bekannt, doch legte man sicherlich auch hier großen Wert auf den Gesangsunterricht. Entsprechend klagt Luther später, er höre nicht gerne, »wo in einem Responsorio oder Gesang die Noten verruckt, anders gesungen werden bei uns, als ich der in meiner Jugend gewohnet bin«. (WA 35, 480)

1498

Frühjahr (vielleicht schon 1497): Luther kommt nach Eisenach, wo ein Großteil seiner Verwandtschaft lebt, um hier die Schule von St. Georg zu besuchen. Wie bereits in Magdeburg erwirbt er sich – wie damals üblich – zumindest einen Teil seines Lebensunterhaltes durch Singen auf der Straße: »Ich bin auch ein solcher Partekenhengst gewest und hab das Brot für den Häusern genommen, sonderlich zu Eisenach in meiner lieben Stadt.« (WA 30, II, 576) Als seinen Lehrer nennt Luther Wigand Güldenapf, mit dem er länger in Verbindung bleibt. Er findet Aufnahme in den Häusern der Patrizier Heinrich Schalbe und Kunz Cotta, wo ihm eine stark franziskanische Frömmigkeit verbunden mit einer verfeinerten Lebensart begegnet. Besonders freundschaftlich verkehrt Luther mit dem Stiftsvikar Johannes Braun, in dessen Haus ihn heitere Geselligkeit und Freundlichkeit umgeben.

1500

In Eisenach stirbt der Franziskaner Johann Hilten, von dem Luther durch Heinrich Schalbe gehört hat. Später interessiert er sich für Hiltens apokalyptische Prophezeiungen, die u. a. besagen, dass 1516 ein »ander Mann« kommen werde als Gegner Roms und des Mönchtums.

1501

April oder Mai: Luther zieht zum Studium nach Erfurt, wo er als »Martinus ludher ex mansfelt« in der Universitätsmatrikel erstmals urkundlich erwähnt wird. Er leistet die Gebühr von 3½ Gulden und wird als vermögend (»in habendo«) eingestuft. »Mein lieber Vater (hat mir) durch seinen sauren Schweiß und Arbeit dahin geholfen.« (WA 30, II, 576) Erfurt, wo Luther immerhin sieben Jahre leben sollte, war mit etwa 20000 Einwohnern eine Großstadt; es besaß dank seiner verkehrsgünstigen Lage und des fruchtbaren Umlandes große wirtschaftliche Bedeutung, hatte bereits 1392 eine eigene Universität gegründet, geriet aber durch machtpolitische Streitigkeiten zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten. Kirchliche Einrichtungen gab es in großer Zahl, über 800 Einwohner gehörten dem geistlichen Stand an. Schulen und Universität standen in besonders hohem Ansehen. Für die Studenten bestand Bursenzwang, d. h. zu gemeinschaftlichem Leben; Luther wohnte in der »Himmelspforte« (oder möglicherweise der Georgenburse); Lebensführung und Studium waren in geradezu klösterlicher Einfachheit und Strenge reglementiert. Nach dem Aufstehen um 4 Uhr morgens folgten Übungen, Vorlesungen und geistliche Übungen bis zum Schlafengehen um 8 Uhr abends. Auch der Ablauf des Studiums war festgelegt. Luther hörte zunächst täglich etwa drei Vorlesungen und nahm an den damit verbundenen Übungen und Disputationen teil.

1502

Ende September: Zum frühest möglichen Zeitpunkt legt Luther die Prüfung zum Baccalaureus der Septem artes liberales ab. Dies ist der Abschluss eines ersten, dreisemestrigen Studienabschnittes, der primär dem Studium der Grammatik unter besonderer Betonung der aristotelischen Logik gewidmet war. Hinzu kam die Beschäftigung mit Rhetorik, der Physik und der Psychologie des Aristoteles sowie der Astronomie. Durch die Prüfung, die er als 30. von 57 besteht, erhält Luther das Recht, die Tracht des Baccalaureus zu tragen und ist zu bestimmten einfachen Lehrveranstaltungen verpflichtet.

18. Oktober: Die Universität Wittenberg wird gegründet.

1503

Bei seinem Philosophiestudium in Erfurt wird Luther besonders stark durch seine Lehrer Jodocus Trutfetter aus Eisenach und Bartholomäus Arnoldi von Usingen beeinflusst. Sie vertreten einen deutlich, wenn auch nicht ausschließlich von Wilhelm von Ockham bestimmten Nominalismus, für den strenge Wissenschaftlichkeit und Logik sowie der kritische Umgang mit Texten kennzeichnend sind. Entsprechend kann die Theologie nicht als Wissenschaft verstanden werden, ihre Grundlegung in Offenbarung und Schrift wird als Glaubensinhalt zur übergeordneten Autorität. So schreibt Luther, er habe von Trutfetter, dem »besten Dialektiker unserer Zeit« (B 1, 150) erstmals gelernt, allein den kanonischen Büchern Glauben zu schenken. Luther, der sich selbst für seine Erfurter Zeit als Ockhamisten bezeichnet, wird durch sein Studium vor allem in der formalen Logik geschult, in der Dialektik, nach der Begriffe und Inhalte unterschieden und definiert werden können. »Die furnehmste Frucht und Nutz der Dialectica ist, ein Ding fein rund, kurz und eigentlich definieren und beschreiben, was es gewiß ist.« (T 1, 2199b) Die Unergiebigkeit dieser Methode für theologische Gegenstände ließ ihn später seine Erfurter Ausbildung heftig kritisieren.

Ostern (oder erst 1504): Luther verletzt sich auf einer Reise nach Mansfeld mit dem eigenen Degen an der Schlagader des Schenkels. In drohender Lebensgefahr ruft er: »O Maria, hilf! Da wär ich … auf Mariam dahin gestorben!« (T 1, 119) Während der Genesungszeit erlernt Luther das Lautenspiel.

1504

Luther hört neben seinem Pflichtstudium eine Vorlesung des Humanisten Hieronymus Emser über Johannes Reuchlins Komödie Sergius. Neben der Erwähnung der Lektüre des zeitgenössischen Dichters Baptista Mantuanus ist dies einer der geringen Hinweise auf Luthers Berührung mit dem langsam in Erfurt Fuß fassenden Humanismus. Mit den humanistischen Kreisen um Nikolaus Marschalk, Matern Pistoris und Mutianus Rufus hat er keine Verbindung; Mutian lernt er erst 1515 kennen. Befreundet ist er mit dem jungen Humanisten Johann Lang, der kurz nach ihm in dasselbe Kloster eintritt. Der spätere Hauptverfasser der Dunkelmännerbriefe, Crotus Rubeanus, lebt in der gleichen Burse mit Luther, den er als Musiker und gelehrten Philosophen dieser Gemeinschaft erinnert. Luthers ausgedehnte Kenntnisse der Klassiker bleiben durchaus im Rahmen des Erfurter Philosophiestudiums, auch sein Latein passt sich dem humanistischen Ideal wenig an. »Die Sache aber habe ich.« (T 4, 4967) Insgesamt dürfte der Einfluss des Erfurter Humanismus auf Luther gering zu veranschlagen sein.

1505

Anfang Januar: Luther besteht die Prüfung zum Magister der Artes liberales als 2. von 17 Kandidaten. Er schließt damit sein philosophisches Studium ab, das neben etwas Mathematik, Musiktheorie usw. fast ausschließlich der Topik, Naturphilosophie, Ethik, Politik, Ökonomik und Metaphysik des Aristoteles gewidmet war. Luther erhält das braunrote Barett und den Ring des Magisters und muss eine Antrittsvorlesung halten. Für zwei Jahre ist er verpflichtet, Vorlesungen an der philosophischen Fakultät zu übernehmen, während er sich gleichzeitig einem weiteren eigenen Studium widmen kann. Die Magisterfeier wurde in Erfurt allgemein mit großem »Gepränge« abgehalten. »Wie war es eine so große Majestät und Herrlichkeit, wenn man Magistros promovierte und ihnen Fackeln fürtrug, und sie verehrte; ich halte, daß keine zeitliche, weltliche Freude dergleichen gewesen sei.« (T 2, 2788b)

24. April: Luther nimmt seine Vorlesungen an der artistischen Fakultät auf.

19. Mai: Luther beginnt das Studium der Rechtswissenschaften »darzu ihme sein Vater viel Bucher kauft«. (Scheel Dok 536) Zweifellos entspricht er damit den Wünschen seines Vaters, der auch die Absicht hat, den Sohn »durch eine ehrenhafte und reiche Ehe zu binden«. (WA 8, 573 Ü Br) In Hinblick auf eine weltliche Laufbahn hat Luther wahrscheinlich mit dem Zivilrecht begonnen.

2. Juli: Auf der Rückreise von Mansfeld gerät Luther in der Nähe des Dorfes Stotternheim in ein Gewitter. Ein sehr naher Blitzschlag versetzt ihn in Todesangst. Im Zwang dieser Not gelobt er »Hilf du, S. Anna, ich will ein Monch werden.« (T 4, 4707) Luther hat dieses Gelübde später (vielleicht auch sofort) als unfreiwillig, durch den Schrecken erzwungen empfunden, ist ihm aber trotz heftigen Abratens der Freunde nachgekommen. »Ich bin nicht gern ein Munch worden.« (T 2, 2286) – Es lässt sich nicht entscheiden, wie weit der Klostereintritt in der vorangegangenen Zeit bereits durch äußere Ereignisse wie die eigene Todesgefahr, die 1505 grassierende Pest, den plötzlichen Tod befreundeter Personen oder auch die innere Erfahrung religiöser Traurigkeit (T 3, 3593) und Heilsungewissheit vorbereitet war. Jedenfalls sah Luther im Klosterleben die Möglichkeit zur vollen Abkehr von der Welt und zum »großen Gehorsam« Gott gegenüber (WA 44, 782), um so das Heil zu erlangen. »Darauf bin ich auch ins Kloster gangen.« (WA 47, 575) Luther dachte zunächst, »Ich will der Höllen entlaufen mit meiner Muncherei« (WA 47, 90), deutete dies später aber als »des Teufels Dienst«. (WA 49, 637)

16. Juli: Luther gibt seinen Freunden zum Abschied ein Abendessen; er lud »sie zu Gaste, sich mit ihnen zu letzen, und hielte seiner Gewohnheit nach eine Musicam, denn er ein guter Musicus war und bat sie, daß sie mit ihme itzo wollten fröhlich sein, sie wurden ihn in solcher Gestalt nicht lange umb sich haben«. (Scheel Dok 536)

17. Juli: Luther bittet im Kloster der Augustinereremiten zu Erfurt um Aufnahme. Das Erfurter Kloster gehört zu den observanten (reformierten) Klöstern, d. h., die mönchischen Ideale werden sehr ernst genommen; neben der städtischen Seelsorge sieht man die Hauptaufgabe in der Pflege des Generalstudiums. Bei Luthers Eintritt hat das Kloster etwa 50 Insassen, Prior ist Winand von Diedenhofen. Luthers Vater reagiert mit höchstem Unwillen auf den Klostereintritt des Sohnes. »Da ich noch ein Münch ward, wollt mein Vater toll und töricht, schrieb mir ein bösen Brief und hieß mich ›Du‹, prius ›vos‹. Et sagt mir väterlich Treue ab.« (WA 49, 322) Nur halben Herzens gibt er schließlich seine Einwilligung.

Herbst(?): Luther wird nach einer Generalbeichte und dem Hinweis auf die Härte des Ordenslebens feierlich als Novize in die Klostergemeinschaft aufgenommen. Zu seinem Novizenmeister Johann Greffenstein, einem »gelehrten und frommen Mann« (WA 6, 591), hat er ein gutes Verhältnis. Er erinnert sich, wie ihn der alte Mann in seinen Schwierigkeiten auf die göttliche Güte verwies.

1506

3. April: Der Ordensgeneralvikar Johann von Staupitz kommt zu Besuch ins Erfurter Kloster und wird möglicherweise erstmals auf Luther aufmerksam.

Herbst(?): Nach Ablauf des Noviziatsjahres legt Luther die Ordensgelübde über Gehorsam, Armut und Keuschheit ab und wird endgültig ins Kloster aufgenommen. Er erhält das Ordensgewand, jedoch nicht – wie oft üblich – einen neuen Namen. Die Kleidung besteht aus einer weißen langen Cappa mit Schulterkragen, dem Skapulier und darüber einer schwarzen Kutte mit Kapuze und Ledergürtel. Luther, der geträumt hatte, »meine Mönchskappen sollte Gott gefallen und wäre der Weg gen Himmel« (WA 21, 519), legt die Ordenstracht erst 1523 ab. Sein Leben als Augustiner ist streng geregelt: Stundengebete, Messe, Schweigezeiten und religiöse Übungen erfüllen und gliedern den Tag. »Ich war der Welt reine abgestorben.« (T4, 4707) Mit strengem Fasten, Frieren und anderen Bußwerken sucht Luther sich seines Seelenheils zu vergewissern. Doch gerade die Bemühung um skrupelhafteste Erfüllung der religiösen Pflichten und der vielfältigen, den klösterlichen Alltag regelnden Gebote führt zu immer größeren Gewissensschwierigkeiten, zur Verzweiflung über das eigene Ungenügen und zu Angst vor dem göttlichen Gericht: »das Herz zitterte und zappelte, wie Gott mir gnädig wurde«. (WA 47, 589) Das häufige Beichten und die damit verbundene Konzentration auf die eigenen Sünden verschärft diese Krise. Staupitz, häufig sein Beichtvater, versucht Luthers skrupelhafte Gewissenserforschung zurechtzurücken: »Mußt nicht mit solchem Humpelwerk und Puppensünden umgehen und aus einem jeglichen Bombart eine Sünde machen.« (T 4, 6669) Für die echten Zweifel und Qualen Luthers hatte er aber nicht allzu viel Verständnis. Bei aller späteren Verurteilung der Beichtpraxis wollte Luther sich doch »die heimliche Beichte niemand lassen nehmen … denn ich weiß, was Stärk und Trost sie mir geben hat«. (WA 10, III, 61)

19. September (oder Dezember): Luther wird zum Subdiakon geweiht. Zur Vorbereitung auf die Priesterweihe muss er die Auslegung des Meßkanons des Nominalisten Gabriel Biel erarbeiten. Das umfangreiche Werk vermittelte einen Zugang zu allen praktischen, religiösen und theologischen Problemen der Messe. Luther hielt das Buch für das beste seiner Zeit, doch »wenn ich darinnen las, da blutete mein Herz«. (T 3, 3722) Trotz seines gemäßigten und ausgewogenen Standpunktes scheint Biels Buch Luthers Schwierigkeiten mit der Messe, seine Angst vor der eigenen Unwürdigkeit und seine Skrupel beim äußeren Ablauf, nur genährt zu haben.

1507

27. Februar(?): Luther wird zum Diakon geweiht.

3. April(?): Luther erhält durch Weihbischof Johann Bonemilch von Lasphe die Priesterweihe.

2. Mai: Luther begeht seine Primiz, d. h. die Feier seiner ersten Messe, als großes Fest. Sein Vater kommt mit zwanzig Leuten geritten und spendet zwanzig Gulden für die Küche. Luther hatte u. a. seinen Eisenacher Lehrer Wigand Güldenapf, den Verwandten Konrad Hutter aus Eisenach und seinen Freund Johannes Braun geladen. »Da ich zu Erfurt meine erste Messe hielt, wäre ich schier gestorben … daß ich je nicht ein Sünder wäre, und nichts außen ließe in der Messe.« (T4, 4174) Luthers Angst scheint so groß gewesen zu sein, dass er überredet werden musste, am Altar zu bleiben. Weitere Verstörung bringt eine nochmalige Auseinandersetzung mit dem Vater über den Klostereintritt. Die Bedenken des Vaters, Luthers Berufung möchte »Wahn und Blendwerk« sein, treffen ihn zutiefst. »Dies Wort schlug durch, als wenn Gott selbst es durch deinen Mund gesprochen hätte, und setzte sich fest, tief drinnen in mir.« (WA 8, 574 Ü Br)

Sommer: Luther nimmt in Erfurt das Studium der Theologie auf. Leiter des Ordensstudiums ist Johann Nathin, ein in Tübingen ausgebildeter Nominalist, der auf Luther ohne sonderlichen Einfluss bleibt, wie auch der weit bekanntere Johann Jenser von Paltz. Hauptgegenstand des Theologiestudiums sind die Sentenzen des Petrus Lombardus, eine Erklärung der Aussprüche der Kirchenväter, seit dem 12. Jahrhundert das wichtigste dogmatische Lehrbuch. Daneben liest Luther auch Duns Scotus und Thomas von Aquin, von dessen »Geschwätzigkeit« er aber nie viel hält: »Thomas ist nicht einer Laus wert … Im ganzen Thoma ist nicht ein Wort, das einem mocht ein Zuversicht zu Christi machen.« (T 2, 1721) Duns Scotus schätzt er höher, sein eigentliches Interesse aber gilt spätestens seit seinem Klostereintritt der Bibel. »Da ich jung war, gewöhnet ich mich zur Biblia, lase dieselbe oftmals, und machete mir den Text gemein; da ward ich darinnen also bekannt, daß ich wußte, wo ein jeglicher Spruch stünde und zu finden war, wenn davon geredet ward.« (T 4, 4691) Dieses Lesen der Schrift verbindet Luther mit einer Meditation des Textes, einem »Wiederkäuen«, ausgerichtet auf das »Hören« des Wortes Gottes. Bereits damals meint Luther viele Irrtümer im Papsttum gesehen zu haben, war jedoch noch zu sehr von der Autorität der Kirche überzeugt, um diesen Überlegungen nachzugeben: »solltest du allein klug sein? Ei, du mochtest irren.« (T 3, 3593) Besonderes Gewicht hat die Bibellektüre für Luther bei seinen Anfechtungen; hier sucht er Trost und Befreiung von Gewissensängsten. Verzweifelt ist deshalb auch sein Bemühen um das rechte Verständnis. »Was hätte ich selbst darumb gegeben in meiner Finsternis, daß mich jemand erlöset hätte von dem ängstlichen Messhalten und andern Greueln, item von der Marter und Angst meines Gewissens … oder hätte mich unterrichtet, daß ich einen Psalmen recht verstanden hätte, wollt ich doch gerne auf der Erden gekrochen sein bis ans Ende der Welt.« (WA 41, 582) Er fand wenig Unterstützung, denn eine derartige Begeisterung für die Bibel war zur damaligen Zeit ungewöhnlich. Das Bibelstudium war fast völlig überlagert von philosophisch-dogmatischen Interessen. Luther selbst will erst mit zwanzig Jahren eine Bibel gesehen und als einziger Mönch in Erfurt sie gelesen haben. Als große Ausnahme rühmt er Staupitz, der das Theologiestudium neu auf die Bibelauslegung hin orientieren wollte. Wesentliche Voraussetzungen für Luthers Bibelstudium hatten die Humanisten durch ihre Editionen und die Neubelebung der alten Sprachen geschaffen.

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