Kitabı oku: «Hisian - Land der Sehnsucht», sayfa 3
Die Zeit
Amelie saß versonnen unter der Mühle auf einem großen Stein. Mit dem Heft in der Hand schaute sie plötzlich in die grünen Augen von Nachbars Katze. Sie strich so gern um Amelies Beine. Liebevoll schaute sie zu ihr hinab als sie um ihre Beine strich.
Das Heft mit den Bildern war wunderschön. Amelie wollte so gern darin lesen. Wann würde sie darin lesen können? Sie würde ihre Oma fragen.
Amelie rappelte sich auf und lief hinüber zum Stall. Dort fütterte ihre Oma gerade die Kühe. Sie beantwortete Amelies Frage ohne aufzusehen.
„Alle Kinder kommen mit sechs Jahren in die Schule. Du bist erst vier Jahre alt. In zwei Jahren kommst du wie alle anderen Kinder in die Schule. Dort wirst du lesen lernen.“
„Wie lange sind zwei Jahre, Oma?“ Amelie konnte sich nicht vorstellen, wie lang zwei Jahre waren.
Nachdenklich den Kopf wiegend antwortete ihre Oma.
„Ich bin schon älter als du und habe viel erlebt, deshalb sind für mich zwei Jahre nicht viel. Aber du bist gerade am Anfang deines Lebens und für dich sind zwei Jahre noch sehr lang. Also genieße die Zeit in der du mit deinem Bruder und deinen Freundinnen spielen kannst, dann vergeht die Zeit schneller. Sei fröhlich und sehne nicht Zeiten herbei, die noch nicht angebrochen sind. Das Lernen kann manchmal anstrengend und unangenehm sein. Zur Schule zu gehen ist nicht so lustig, wie mit anderen Kindern zu spielen.“
Ihre Oma versprach noch in ihre Arbeit versunken das Märchen vor dem Abendbrot vorzulesen. Amelie ging zufrieden davon. Sie freute sich schon auf die Märchenstunde am Abend.
Als sie davon ging, spürte sie, dass ihr Gefühl nicht mit dem übereinstimmte, was die Oma ihr über die Zeit gesagt hatte. Sie würde ihren Vater bei Gelegenheit noch einmal danach fragen. Vielleicht hatte er etwas anderes zu sagen.
Amelie vergaß nie etwas, deshalb fragte sie ihren Vater am nächsten Tag:
„Vati, wie lang sind zwei Jahre und wann kann ich endlich zur Schule gehen?“
Der Vater erklärte ihr, dass sie erst vier Jahre alt sei und zwei Jahre wären eine lange Zeit für so ein kleines Mädchen wie sie.
Komisch, dachte Amelie nach dieser Erklärung, mit meinem Gefühl passt das wieder einmal überhaupt nicht zusammen. Ich hätte wetten können ich bin schon uralt.
Von diesem Gefühl erzählte sie später Franz. Er war jedoch noch viel zu klein. Darum konnte er mit den Ideen seiner Schwester wenig anfangen.
Beharrlich, wie Amelie war, musste sie noch jemanden fragen. Also beim nächsten Besuch in der Nachbarschaft fragte sie das große Mädchen, das auf sie achtete, wenn die Eltern auf dem Feld arbeiten mussten.
Sie bekam wieder die Antwort, dass für sie sicher zwei Jahre eine lange Zeit seien. Nun akzeptierte Amelie diese Tatsache. Sie hatte sich wieder einmal geirrt. Das war aber auch eigenartig. Wieso irrte sie sich so oft?
Die Frage nach der Zeit ließ ihr trotz der Erklärungen keine Ruhe. Sie hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte und konnte es sich überhaupt nicht erklären. Amelie war überhaupt nicht zufrieden. Das machte sie sehr traurig. Am Abend im Bett kuschelte sie sich, wie immer, tief unter die weiche Bettdecke. Sofort spürte sie etwas Warmes und Weiches an ihrer Wange. Die wohlige Wärme stieg ihr bis zum Herzen hinab.
Herrlich, ihre Traurigkeit war sofort verschwunden. Woran das wohl liegen mochte?
Im Hinüberdämmern wurde ein Ton in ihrem Kopf immer lauter.
Ticktack, ticktack. Amelies ganzer Körper wurde von diesem Geräusch ausgefüllt. Was war denn nun wieder geschehen? Amelies Körper war vollkommen erfüllt von dem Geräusch.
Ticktack, ticktack, ticktack… Der ganze Körper pulsierte und trotzdem fühlte sie sich leicht und frei wie noch nie. Sie schwebte über einem Abgrund und fürchtete sich überhaupt nicht. Um sich herum konnte sie viele Uhren entdecken und am Boden des Abgrundes erkannte sie die Kirche ihres Heimatortes. Eine eigenartige Art auf ihr Dorf hinab zu schauen.
„Ist dieser Ort wirklich deine Heimat?“
Diese Frage drang, gerade als sich Amelie in die Betrachtung des Abgrundes vertiefen wollte, an ihr Ohr. Die Duse schwebte neben Amelie. Sie war in Hisian! Im wunderbaren Hisian!
„Wieso bin ich hier?“
Diese Frage konnte Amelie nicht zurückhalten. Sie war ausgefüllt vom Ticken einer Uhr. Das war ein wenig unheimlich. Wo befand sich denn nur diese Uhr, deren Ticken sie vollkommen ausfüllte?
„Schau, dort!“
Die Duse wies auf eine unwahrscheinlich große Erscheinung. Eine Uhr, die vom Boden der Schlucht bis zu Amelie und der Duse hinauf reichte. Sie schien an der Wand festgewachsen zu sein. Amelie hatte sich mit diesem Gedanken gründlich geirrt. Dieses imposante Uhrwesen, löste sich plötzlich von ihrem Platz und schwebte so leicht und locker wie sie selbst in Hisian schweben konnte, zu ihre herüber. Amelie drohte das Herz stehen zu bleiben. Das Ticktack, ticktack in ihr wurde immer lauter und lauter. Ihr ganzer Körper vibrierte. Sie fürchtete, sie würde jeden Moment auseinander gerissen werden, so stark vibrierte ihr Körper. Es machte ihr in Hisian wenig aus. Zu Hause hätte sie dieses Vibrieren mit Sicherheit auseinander gerissen. Hier geschah nichts. Amelie blieb einfach eine stark vibrierende Amelie. Das war schon sehr merkwürdig. Sie schaute hilfesuchend zur Duse hinüber. Nur gut, dass die Duse in ihrer Nähe war. Diese riesenhafte, uhrähnliche Gestalt flößte Amelie einen hohen Respekt ein. Als die Gestalt dann zu sprechen begann, donnerte es in Amelies Kopf. Sie nahm an, dass ihr Kopf zu Hause geplatzt wäre. Amelie wollte sich auf die Worte des Uhrwesens konzentrieren. Sie schaffte es mit Mühe und Not, denn das Vibrieren machte eine Konzentration auf etwas Anderes sehr schwer.
„Ich bin Amoresit, die Hüterin der Zeiten. Zuerst einmal werde ich dich vor den Geräuschen hier schützen müssen. Du siehst schon ziemlich alt aus. Wenn ein Mensch hierher gelangt, wird er mit dem konfrontiert, was in seiner Roo gespeichert ist. Was für eine tolle Einrichtung. Ich kann sofort feststellen woher der Mensch kommt und wohin er geht.“
„Wie? Du kannst sehen, dass ich schon alt bin?“
Amelie begriff in diesem Moment, dass ihr Gefühl sie nicht getäuscht hatte. Sie war wirklich schon sehr alt. Jedenfalls sagte das Amoresit, diese Uhrgestalt, die ihr einen übermenschlichen Respekt einflößte.
Amelie schaute noch einmal hinüber und auch in den Abgrund hinab. Unten entdeckte sie dichten Nebel. Von ihrer Position aus konnte sie nur ihr Dorf erkennen. Alle anderen Orte lagen in einem undurchsichtigen Nebel.
„Das ist gut für dich. Wer den Nebel durchdringen will, braucht viel Roolivu. Du bist einfach noch nicht lange genug an dem Ort deiner Zeit, um die Zeit, die heute noch im Nebel liegen muss, erkennen zu können. Andere Zeiten zu sehen würde dich zerreißen. Du hast doch sicher gespürt, dass diese Welt dich zerreißt, wenn ich dich nicht davor behüte.“
„Oh ja, wenn ich mich daran erinnere, wabert mein ganzer Körper und ich habe überhaupt keine Kontrolle über ihn.“
„Wenn einmal die Zeit kommen sollte, dass du in deinen Ursprung und die Stationen deiner Roo eingeweiht werden darfst, dann werde ich dich begleiten. Du wirst dieses Vibrieren spüren und zu dir selbst geführt werden. Für heute ist dein Besuch bei mir beendet. Ein längerer Aufenthalt würde dir nur schaden.“
Amoresit war sehr kurz angebunden – fast schroff.
„Bring sie zurück Duse. Sie ist doch noch viel zu jung für diesen Besuch in Wakako, der Zeitenschlucht. Wie konnte das denn überhaupt geschehen?“
„Ich weiß es nicht. Als bei mir der Alarm schrillte, eilte ich hierher, um dem Kind beizustehen. Hast du sie denn nicht gerufen?“
Amoresit entgleisten die Gesichtszüge.
„Sie hat Zutritt zu meinem Reich? Wie kann das sein? Wir müssen unbedingt etwas zu ihrem Schutz unternehmen. Sie ist doch viel zu jung für einen Besuch bei mir.“
„Ich dachte, du hättest sie hierher gezogen. Ich habe ihre Gedanken wegen des Alters empfangen. Du hast sie also nicht nach Wakako gebracht?“
Die Duse schüttelte nachdenklich den Kopf. Sollte hier eine mächtige Kraft am Werke sein, die sie nicht kontrollieren konnten? Sie mussten sofort etwas unternehmen.
Das Kind musste geschützt werden, unbedingt!
„Was können wir tun Amoresit? Wir müssen sie schützen, damit sie sich in Ruhe entwickeln kann. Es kann nicht sein, dass sie jetzt schon mit all dem konfrontiert wird.“ Die Duse wies bei diesen Worten hinab in den Abgrund.
„Bevor sie hierher kam, hätte ich das Tor schließen können. Jetzt kann ich nur für sie selbst einen Zeitenwächter einsetzen. Er wird darüber wachen, dass sie genau zur richtigen Zeit wieder hierher zurückkehrt. Das ist das Einzige was ich tun kann!“
Amoresit schaute sich nervös um. Sie schüttelte ihren Uhrenkopf und schwebte hinunter in den Abgrund. Dieses Kind hatte einen Weg hierher gefunden. Nun würden auch andere Menschen Mittel und Wege finden ihr Reich zu finden. Warum war das denn geschehen? Amoresit war einen Moment lang ratlos.
Als sie aus der Tiefe zurückkehrte, wirkte sie schon sehr viel beruhigter als zuvor. Sie lächelte sogar, wenn auf dem Gesicht einer Uhr ein Lächeln überhaupt auszumachen war, dann lächelte Amoresit.
„Die Zeitenwende ist da! Ich sehe es am Grund des Tales. Der Abgrund ist zu einem Grund geworden. Eine Grundlage für etwas Neues. Wie lange warten wir schon darauf, dass sich unsere Welt auf einen festen Grund stellt. Wunderbar, wir haben den Menschen gefunden, der Wakako verwandeln kann. Gerade deshalb muss sie nun Zeitenwächter an ihre Seite gestellt bekommen. Unsere Welt zu erkunden, kann einen Menschen vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen. So einen unvermittelten Zugang wie Amelie hat noch nie ein Mensch gehabt. Einfach wunderbar, jetzt werden alle Welten auf den Frieden zusteuern. Ich habe es am Grund dieser Schlucht gesehen.“
„Heißt das für mich, dass ich noch mehr aufpassen muss als bisher. Ich habe noch andere Kinder zu betreuen.“ Die Duse schaute verzweifelt zu Amoresit hinüber.
„Wir sperren diese Schlucht und du bekommst den Schlüssel dafür. Du bist Amelies Hüterin und fest in Hisian beheimatet. Für dich ist der Zugang zu Wakako der Zeitenschlucht überhaupt kein Problem. Du kannst ab heute bestimmen, wann ein Besuch für Amelie in ihrem Teil von Wakako, also ihrem Korongo gut ist. Sie wird sich entwickeln und du wirst mit ihr gehen. Wir werden sehen wann wir ihren Korongo öffnen.
Das größere Problem sind die Korongos der Anderen. Ich muss mich sofort an die Arbeit machen. Wir werden nicht alle Korongos vor dem Einfall der Neugierigen schützen können. Es kommt eine Menge Arbeit auf mich und meine Helfer zu. Ich muss alle mobilisieren.“ Amoresit schwebte über Amelies Korongo und drehte eine Runde mit dem großen Zeiger auf ihrem Zifferblatt.
Das überlaute Ticktack erfüllte die Luft über den Frauen. Über Amelies Korongo konnten sie nun viele kleine Uhrenwesen entdecken. Amoresit hob ihre Hand zur Schlucht hinab und eine undurchdringliche Nebelschicht legte sich über die Ränder des Korongos.
Amelie wurde nach oben gerissen, so dass sie hoch über ihrem Korongo schwebte und zusehen konnte, wie er verschlossen wurde. Ein scheinbar aus Nebel bestehender Schlüssel schwebte darüber und drehte sich.
Das wirkte auf Amelie. Ihr Körper wurde von den Erschütterungen, die sie immer noch gespürt hatte, befreit und gleichzeitig erfasste eine überirdische Ruhe ihren Körper. Sie schloss die Augen und spürte tief in sich einen Frieden, den sie festhalten wollte. Leider war die Sekunde des Friedens so schnell entschwunden wie die Uhrenwesen, die Amelie gerade noch gesehen hatte. Was war denn nun wieder geschehen?
Amelie sah zu, wie Amoresit der Duse den Schlüssel reichte und staunte nicht schlecht als dieser in der Duse verschwand. Was für ein Ereignis! Schade, dass sie die Erlebnisse hier immer wieder vergessen musste. Diese Szene war es wert tief in ihrem Inneren eingeschlossen zu werden. Die Duse hatte den Schlüssel zu ihrem Korongo! Amelie würde sich zu gegebener Zeit daran erinnern …
Der Kanal zum Mithören wurde für Amelie in dem Moment gekappt, in dem Amoresit sich an die Duse wandte. Dieses Gespräch war nicht für Amelies Ohren bestimmt. Die Duse und Amoresit bemerkten während ihres Gespräches nicht, dass sich Amelie in der Zwischenzeit in ihrem Korongo umsah. Sie war in Gedanken versunken in den Korongo hinabgeschwebt. Was die beiden wohl besprachen? So viel hatte Amelie schon gelernt. Sie sah an den Gesten, dass sich Amoresit und die Duse unterhielten. Leider durfte sie nicht hören, was die beiden sich zu sagen hatten.
In Hisian war es für Amelie jedoch nicht schwer anzunehmen, dass sie noch zu klein war, um Dinge zu erfahren, die noch nicht offenbar werden sollten. In ihrem Korongo gab es so viel zu entdecken, dass sie sich über die gewonnene Freiheit für eigene Erkundungen freute.
Also schwebte sie, unbemerkt von den beiden debattierenden Frauen ein wenig näher an den Nebel heran. Er zog sie magisch an. Was wohl in diesem Nebel verborgen war? Ihre Neugier ließ sie unvorsichtig werden. Als sie ein Stück neben ihrem Dorf im Nebel schwebte, überfielen sie Gefühle, die sie kaum beschreiben konnte. Gerade noch hatte sie ihr Dorf in der Schlucht gesehen und nun war sie unwahrscheinlich traurig geworden. Sie sah vor ihrem inneren Auge einen jungen Mann, der tot auf einem breiten Bett lag. Er hielt eine Pistole in der Hand. Oh mein Gott, das war grausig. Sie schwebte schnell aus dem Nebel an den Rand des Korongos zurück.
Was sollte sie tun? Sollte sie der Duse von ihrem Übermut erzählen? Wie wurde sie nur diese fürchterliche Erfahrung los? Gerade als sie innerlich verzweifelt nach Hilfe rief, erschien aus dem Nebel eine kleine durchscheinende Uhr, hüllte sie kurz in einen Nebel ein und in diesem Moment hatte Amelie alles vergessen, was sie gesehen und gespürt hatte.
Sie schaute zu Amoresit und der Duse hinüber und war froh, dass deren Gespräch nun ein Ende gefunden hatte. Das kleine Uhrenwesen hatte ihr die Erinnerung an den Moment des Eintauchens in den Nebel geraubt, so dass sie kein schlechtes Gewissen haben musste.
Amelie schaute interessiert zu, als ihr Korongo verschlossen wurde. Nach einer kurzen Verabschiedung von Amoresit wurde sie von einer nachdenklichen Duse zu ihrer Blumenwiese geleitet. Maike wartete schon auf sie. Amelie umarmte das Reh, denn sie fühlte sich plötzlich elend. Mein Gott was für eine schrecklich neblige Schlucht ihr Korongo war. Was hatte sie dort eigentlich gewollt?
„Du wolltest wissen, wie alt du bist. Das war wirklich keine gute Idee von dir. Dein Leichtsinn hat Amoresit eine Menge Arbeit beschert.“
Insgeheim wusste die Duse jedoch, dass im Lande Hisian nichts geschah, das nicht auch ein Ziel verfolgte.
Wozu war der Besuch in Wakako also gut?
Sie jedenfalls hatte dadurch nur noch eine Sorge mehr aufgebürdet bekommen. Wie sollte sie den richtigen Zeitpunkt finden an dem sie für Amelie deren Korongo zugänglich machen musste. Die Duse schaute hinüber zu dem Kind. Unfassbar, was dieses Kind vermochte. Amelie und Maike wirkten so unschuldvoll und friedlich. Es schien als sei nichts geschehen.
Der Duse jedoch war klar:
In wenigen Augenblicken war eine große Veränderung eingetreten, deren Auswirkungen in allen Welten zu spüren sein sollten. Die Duse war nach dieser Reise vollkommen erschlagen. Was für ein Schlamassel. Sie hatte in kurzer Zeit eine Aufgabe bekommen, die ihr allen Wagemut, den sie aufbringen konnte, abverlangte. Das Kind musste wieder in ein gutes Gleichgewicht gebracht werden. Das schaffte Maike in diesen Minuten. Die Duse spürte, dass die Unbeschwertheit Amelies zurückkehrte, so dass sie zum Aufbruch bereit zu sein schien. Die Duse nahm die Hand des Kindes und brachte sie nachdenklich in ihr Zimmer zurück. Sie strich ihr über den Kopf. Ein Ausdruck ihrer eigenen Unsicherheit. Die Duse wusste, sie musste noch nicht handeln. Amoresit hatte ihr kostbare Zeit verschafft. Als sie davonschwebte schaute sie noch einmal zurück.
Amelie schlief friedlich ein. Am nächsten Tag begann für sie die lange Zeit des Wartens bis sie endlich zur Schule gehen und lesen lernen konnte. Diese Zeit musste sie, wie es ihr ihre Oma geraten hatte, mit Spiel und brav sein, vertreiben. Kleine Mädchen, wie sie, konnten nicht bestimmen, wann sie zur Schule gehen wollten.
So hatte sie sich fest vorgenommen, in dieser Zeit noch mehr Bilderbücher anzuschauen und immer wieder jemanden zu suchen, der ihr vorlas.
Amelie konnte sich auf veränderte Umstände einstellen. Wenn sie etwas akzeptiert hatte, dann stand es fest. Wieso sie die Dinge, die sie nicht ändern konnte einfach annahm, konnte sie sich nicht erklären. Aber sie konnte es, so klein sie auch war.
So spielte Amelie mit den Kindern und natürlich auch mit Franz und wartete darauf, dass sie endlich lesen lernen durfte.
Die Zeit würde wie im Flug vergehen, denn es war eine sehr kurze Spanne. Woher diese Gedanken kamen konnte sich Amelie nicht erklären. Sie zitterte ein wenig und ihr Herz machte einen Hüpfer.
Der Urgroßvater
Amelies Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft. Sie mussten viel auf ihren Feldern arbeiten. So hatten sie wenig Zeit für ihre Kinder Franz und Amelie. Eines Tages mussten Amelies Oma und Mutter im Nachbardorf Heu wenden und Amelie hatte noch keinen Mittagsschlaf gehalten. So nahmen sie das Kind mit in das Nachbardorf in dem ihr Urgroßvater wohnte.
Amelie sollte dort in seinem großen, alten Haus Mittagsschlaf halten. Vor dem Urgroßvater hatte Amelie große Angst. Er sah so Furcht erregend aus mit seinem strubbeligen Bart, der Brille und der Knollennase. Das Schlimmste jedoch für Amelie war: Er hatte vorn nur noch zwei Zähne! Das sah so erschreckend aus, dass sie sich so sehr fürchtete, dass sie lieber auf der Wiese geschlafen hätte als beim Urgroßvater im Haus. Die Furcht wurde noch größer als Amelie bemerkte, dass sie zum Schlafen ganz allein in eine dämmrige Kammer eingesperrt wurde. In der Kammer stand ein großes Bett, viel zu groß für das kleine Mädchen. Das Bettzeug fühlte sich kratzig und unangenehm an.
Sie würde trotzdem in diesem düsteren Zimmer aushalten müssen. Die Mutter war in ihrer Nähe. Das beruhigte sie etwas. Außerdem hatte Amelie ihre Lieblingspuppe Heike mitgebracht. Heike war in diesem düsteren, einsamen Gefängnis ihr einziger Trost. An ihr konnte sie sich festhalten, wenn die Angst zu groß wurde.
An der Wand gegenüber dem Bett stand ein Schrank. Von dessen Tür blickten Amelie eigenartige Tiere an. War das nicht ein Drache? Schrecklich, gerade wollte Amelie nach der Mutter rufen. Da hörte sie vor der Zimmertür die Stimmen des Urgroßvaters und der Mutter.
„Amelie wird nun zwei Stunden schlafen. Ich gehe jetzt auf das Feld.“
Oh Schreck, die Mutter ging zum Feld und ließ sie mit diesem schrecklichen Alten ganz allein. Was sollte Amelie tun? Sie war mit Heike ganz allein gefangen in dem dunklen Zimmer mit diesem schrecklichen Urgroßvater draußen vor der Tür. Diese Gedanken schienen ihr schier das Herz zusammenzudrücken. Meine Güte, wie furchtbar. Nach wem sollte sie rufen, wenn sie unbedingt einmal musste? Wer würde dann kommen?
Mit Sicherheit der Urgroßvater!
Schrecklich! An Schlaf war nun überhaupt nicht mehr zu denken. Die Gegenstände in der düsteren Kammer wurden allesamt zu Schreckgespenstern. In der Ecke entdeckte sie einen Ständer mit einer Schüssel oben drin. So einen Ständer hatte Amelie noch nie gesehen. So etwas Unheimliches. Wozu die Schüssel wohl gebraucht wurde? Amelie schaute hinüber und die Schatten an der Wand ängstigten sie noch mehr. Sie drückte Heike fest an sich. Die raue Bettwäsche trug dazu bei, dass sie sich immer unwohler und bedrohter fühlte. Sie schien immer kratziger zu werden. Amelie konnte es kaum noch in dem alten, breiten Bett aushalten. Auf der Kommode gegenüber stand eine großbauchige Flasche, die wie ein Ungeheuer auf das Mädchen wirkte. Im Spiegel an der Wand sah Amelie zu allem Überfluss auch noch einen Schatten.
Schaurig. Amelie ängstigte sich so sehr, dass sie schließlich unter dem Bett Schutz suchte. Dort in der hintersten, dunkelsten Ecke fühlte sie sich mit Heike im Arm noch am sichersten. Der Staub unter ihrem kurzen Unterhemd und an ihren Knien war nicht so schrecklich, wie diese Ungetüme in der düsteren Kammer.
Das Gefühl von Sicherheit, das sie urplötzlich verspürte, kam wohl von dieser wohligen, weichen Berührung an ihrer Wange. War das ihre Lieblingspuppe? Ihr schien, das Gefühl kam von ganz tief innen. Wo sie in diesem Moment überhaupt dieses Sicherheitsgefühl her nahm, konnte Amelie sich nicht erklären. Sie genoss jedenfalls den Eindruck, unter dem Bett ein wenig sicherer zu sein und wartete ab. Hier huschten zwar auch Schatten über den Boden, aber Amelie war sich sicher, alle diese Ungetüme in der Kammer und vor allen Dingen der Urgroßvater würden sie hier unter dem schützenden Bett nicht erreichen. Sie würden ihr nichts anhaben können.
Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür zum der dunklen Kammer. Ganz leise betrat jemand den Raum.
Amelie kroch noch weiter unter das Bett, damit sie niemand finden konnte. Wirklich niemand!
Der Urgroßvater hatte die Kammer betreten, er wollte nach ihr schauen. Er hatte, mit der Verantwortung für das Kind, in seiner Küche keine Ruhe gefunden.
Als er das Bett in der Kammer leer vorfand, erschrak er. Wo konnte die Kleine nur sein?
Er suchte im Schrank, unter der Kommode und zuletzt, Amelie hielt die Luft an, unter dem Bett. Als er sie entdeckte, schrie sie laut auf.
In ihrer Angst kroch sie noch weiter nach hinten in die Ecke, wenn das überhaupt noch möglich war. Ganz eng zusammengerollt, verharrte sie dort. Sie hatte es geschafft. Der Urgroßvater konnte sie nicht erreichen. Sie war unerreichbar für ihn in Sicherheit.
In der Eile des Rückzugs jedoch war ihr ein Malheur passiert. Heike blieb ein Stück von ihr entfernt auf dem Boden liegen. Die arme Heike, sie würde sich erkälten. Dieser Gedanke verursachte einen bohrenden Schmerz in Amelies Brust. Aber sie brachte nicht den Mut auf, Heike zu sich heran zu ziehen. Vielleicht hätte sie der Urgroßvater mit der schrecklichen Knollennase dann packen können.
Der Urgroßvater versuchte indessen Amelie zu überreden unter dem Bett hervor zu kommen. Er brachte sogar ein Stück Schokolade aus der Küche herüber. Amelie hätte die Schokolade sehr gern gegessen, doch der Urgroßvater war auch da.
Was sollte sie tun? Wenn sie jetzt nach vorn rutschte, dann könnte sie vielleicht die Schokolade bekommen. Was würde der Urgroßvater dann aber mit ihr tun?
Amelie hörte eine Stimme ganz tief in sich, die ihr sagte:
Geh zum Urgroßvater. Du musst deine Angst überwinden.
Was war denn das? Sie sollte diesem Furcht erregenden Mann vertrauen und aus ihrem Versteck hervor kommen. Nicht auszudenken, zu schrecklich war diese Idee!
Aber, wenn sie nun in ihrer Ecke blieb, fror sie nur noch mehr als jetzt schon. Schlimmer noch, der Urgroßvater könnte Heike einfach mit sich nehmen.
Was sollte sie nur tun? Sie konnte Heike überhaupt nicht mehr beschützen, wenn sie in der Gewalt des Urgroßvaters war.
Amelie fühlte ganz tief in ihrem Herzen, dass sie Heike im Stich ließ. Sie sogar schnöde auf dem kalten Fußboden frieren ließ. Das schlechte Gewissen schüttelte sie ordentlich.
Also nahm sie allen Mut zusammen und sah sich den Urgroßvater ganz genau an. Plötzlich konnte sie sehen, dass seine Augen freundlich schauten und gerade hatte sich ein Lächeln in sein Gesicht geschlichen. Seltsam, so ein Lächeln war ihr noch nie an ihm aufgefallen. Vielleicht hatte die Stimme in ihr Recht. Jemand, der ihr Schokolade anbot und auch noch lächelte, konnte nicht so fürchterlich sein, wie in ihrer wilden Phantasie.
Ob die Phantasie sie täuschte? Phantasie kam nicht aus dem Bauch. Warum sie gerade hier und jetzt an ihren Bauch denken musste, hätte Amelie nicht sagen können. Dieser Gedanke war spontan tief aus ihr heraus gekommen und was tief aus ihr heraus kam, war meistens richtig. Woher wusste sie jetzt eigentlich was richtig war? Die Eltern hatten ihr dazu nichts gesagt. Sie brachten ihr eher bei, was nicht richtig war.
Sollte sie es probieren? Riskieren hervor zu kriechen und mit dem Urgroßvater zu gehen?
Heike lag verloren einen halben Meter vor Amelies Augen. Ob sie auch so eine Angst hatte wie Amelie? Die arme Heike, Amelie hätte sie so gern beschützt. Oder beschützte Heike Amelie? Puppen waren auf ihre Besitzerinnen angewiesen. Heike konnte sich ohne Amelie nicht bewegen. Diese Gedanken bewegten Amelie an ihrem Platz ganz hinten unter dem großen Bett in der schrecklichen, dunklen Kammer beim Urgroßvater. Nach einigen abwägenden Gedanken fasste sie sich ein Herz. Sie war für Heike verantwortlich. Ein Mädchen musste mutig seine Puppe beschützen.
Amelie kroch so durch ihre Gedanken ermutigt langsam und tastend vorwärts. Erst einen Fuß nach vorn. Nach oben schauen. Was macht der Urgroßvater?
Oh, er lächelte immer noch.
Das zweite Bein nach vorn. Sie konnte die Puppe erreichen, packte sie blitzschnell und klemmte sie unter ihren Arm.
Das war geschafft; Heike war in Sicherheit. Was für ein wunderbares Gefühl, die Puppe wieder im Arm zu halten.
Amelie spürte, dass ihre beherzte Tat in ihrem Inneren Ruhe erzeugte. Die größte Angst vor dem schrecklichen Alten war von ihr gewichen. Er hatte gelächelt und wirkte nun nett und freundlich auf sie. Vor so einem Urgroßvater mussten Amelie und Heike keine Angst haben. Amelie redete sich und Heike in Gedanken gut zu. Sie schaute nach vorn. Sollte sie es wagen? Sollte sie sich unter dem Bett hervor wagen? Sie schaute beherzt nach vorn.
Der Urgroßvater lächelte immer noch.
Er wurde überhaupt nicht ungeduldig, wie die Mutter, die oft wenig Zeit für das Kind hatte.
Amelie traute sich noch ein Stück nach vorn zu krabbeln.
Sie schaute erneut nach vorn. - Er lächelte immer noch.
Sie kroch weiter. - Er lächelte noch.
Ob sie auch das letzte Stück noch wagen konnte?
Sie schaute noch einmal vorsichtig in sein Gesicht. In diesem Augenblick lächelte der Urgroßvater breit und hielt ihr die Schokolade hin.
Als Amelie fast schon unter dem Bett hervor schauen konnte, reichte er ihr die Hand. Amelie nahm all ihren Mut zusammen und klemmte Heike noch fester unter ihren Arm. Sie musste die Puppe unbedingt beschützen. War sie nicht schon ein großes Mädchen?
Warum hatte sie vor dem Urgroßvater nur so eine Angst gehabt?
Er wirkte nun, aus der Nähe betrachtet, nicht mehr so schrecklich. Freundliche Augen und ein total runzeliges Gesicht waren doch nicht gefährlich. Komisch, das hatte Amelie bis jetzt überhaupt nicht bemerkt.
Die Schokolade bekam sie, obwohl sie eigentlich nicht artig war. Die Mutter hatte ihr gesagt, sie solle im Bett bleiben. Oh, das würde Schelte geben. Sie war nicht brav im Bett liegen geblieben. Au weiha!
Amelie war normalerweise ein verständiges und artiges Mädchen. Sie wusste, die Eltern hatten viel Arbeit und wenig Zeit für sie und Franz. Unter diesen Umständen war Folgsamkeit ein guter Weg, um gemocht zu werden und keine Scherereien zu bekommen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, unter das Bett zu kriechen. Nicht auszudenken, wenn die Mutter früher zurückgekommen wäre. Amelie war überhaupt nicht artig gewesen. Diese Gedanken verursachten wieder einmal ein mulmiges Gefühl in ihrem Bauch. Was würde nun geschehen? Der Urgroßvater war bestimmt nicht gut auf sie zu sprechen. Amelie konnte nicht weiter denken, denn die Furcht vor der Mutter ersetzte nun die Furcht vor dem Urgroßvater. Sie schaute zu ihm hoch. Er hielt ihre Hand und nahm sie behutsam auf den Arm. Das war auch ganz und gar nicht so schrecklich, wie Amelie es sich vorgestellt hatte. Seine Arme waren zwar etwas knochig und piekten ihr in den Po, aber es war unerwartet angenehm auf seinem Arm und sie hatte von seinem Arm aus eine gute Übersicht über die schreckliche, dunkle Kammer.
Von hier oben konnte sie den Raum gut überblicken. Sie konnte nun erkennen, dass es überhaupt nicht so düster in der Kammer war, wie sie es in ihrer Angst gemeint hatte. Die Sonne schien durch das Fenster. In der Ecke neben dem Fenster stand ein uralter Puppenwagen, in dem eine Puppe lag. Diese Puppe sah völlig anders aus als Heike. Wie eine Dame aus längst vergangener Zeit. Sie hatte lange Haare und trug ein geblümtes Kleid, das ihr bis auf die Schuhe reichte und von Rüschen geziert war. Ihre Schuhe waren aus echtem Leder gefertigt. So eine Puppe hatte Amelie noch nie gesehen. Heikes Schuhe waren aus Plastik und weiß wie die Schuhe der Puppen der anderen Mädchen im Dorf.
Meine Güte, diese Puppe besaß einen Sonnenschirm aus dem gleichen Stoff wie das Rüschenkleid. So etwas Schönes hatte Amelie noch nie gesehen.
Sie vergaß ihre Angst, die Neugier hatte gesiegt. Sie fragte ohne viel nachzudenken: „Wem gehört denn diese wunderschöne Puppe? Darf ich sie anfassen?“
Der Urgroßvater, froh das Kind unter dem Bett hervor gelockt zu haben, freute sich über die Frage.
„Die Puppe gehörte der Schwester deiner Oma, die schon vor langer Zeit gestorben ist.“
„Was ist denn mit ihr geschehen?“, fragte Amelie. Nun waren alle Ängste von ihr gewichen. Es war überhaupt nicht mehr unheimlich in dieser grausigen Kammer. Wie konnte sie nur so etwas denken. Vom Arm des Urgroßvaters aus schien die Welt nicht mehr so kalt und gefährlich zu sein. Amelies Neugier war geweckt. Sie hielt Heike fest im Arm, schaute auf die unwahrscheinlich interessante Puppe und hing an den Lippen des Urgroßvaters, der von der unbekannten Schwester von Amelies Oma erzählte.
„Deine Großtante hatte eine schwere Krankheit und ist mit neun Jahren daran gestorben. Deine Oma war gerade erst geboren.“
Amelie hörte dem Urgroßvater gespannt zu. Sie lauschte für ihr Leben gern Geschichten. Ob nun aus einem Märchenbuch oder von der Familie.