Kitabı oku: «Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37»
Zeitschrift für kritische Theorie
Heft 36–37 / 2013
herausgegeben von
Sven Kramer und
Gerhard Schweppenhäuser
zu Klampen
Zeitschrift für kritische Theorie,
19. Jahrgang (2013), Heft 36–37
Herausgeber: Sven Kramer und Gerhard Schweppenhäuser
Geschäftsführender Herausgeber: Sven Kramer, Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Geschichtswissenschaft und Literarische Kulturen
Redaktion: Roger Behrens (Hamburg), Wolfgang Bock (Rio de Janeiro), Thomas Friedrich (Mannheim), Sven Kramer (Lüneburg), Gerhard Schweppenhäuser (Würzburg)
Korrespondierende Mitarbeiter: Rodrigo Duarte (Belo Horizonte), Jörg Gleiter (Berlin), Christoph Görg (Kassel), Frank Hermenau (Kassel), Fredric Jameson (Durham, NC), Per Jepsen (Kopenhagen), Douglas Kellner (Los Angeles, CA), Claudia Rademacher (Bielefeld), Gunzelin Schmid Noerr (Mönchengladbach), Jeremy Shapiro (New York, NY)
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Zeitschrift für kritische Theorie
Leuphana Universität Lüneburg
z. Hd. Prof. Dr. Sven Kramer
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Erscheinungsweise: Die Zeitschrift für kritische Theorie erscheint einmal jährlich als Doppelheft. Preis des Doppelheftes: 32,– Euro [D]; Jahresabo Inland: 28,– Euro [D]; Bezugspreis Ausland bitte erfragen. Berechnung jährlich bei Auslieferung des Heftes. Das Abonnement verlängert sich automatisch, wenn die Kündigung nicht bis zum 15.11. des jeweiligen Jahres erfolgt. Fragen zum Abonnement bitte an folgende Adresse:
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ›http://dnb.ddb.de‹ abrufbar.
Aufnahme nach 1995, H. 1; ISSN 0945-7313; ISBN 978-3-86674-664-0
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorbemerkung der Redaktion
ABHANDLUNGEN
Andreas Greiert
»Weh spricht: vergeh«. Negative Dialektik und Biopolitik
Hans-Ernst Schiller
In der Spanne eines Augenblicks. Messianische Motive bei Benjamin, Adorno und Horkheimer
Thomas Khurana
Impuls und Reflexion. Aporien der Moralphilosophie und die Moral der Aporien nach Adorno
Sebastian Tränkle
Die materialistische Sehnsucht. Über das Bilderverbot in der Philosophie Theodor W. Adornos
Christian Lotz
Capitalist Schematization. Political Economy, Exchange, and Objecthood in Adorno
Thomas Jung
Bedeutung oder Geltung? Zum Sprachpragmatismus von Jürgen Habermas
Stefan Gandler
Materialismus heute. Alfred Schmidt und Adolfo Sánchez Vázquez
Gunzelin Schmid Noerr
Alfred Schmidt und das Projekt einer Geschichte des Materialismus
EINLASSUNGEN
Hermann Schweppenhäuser
Zum Begriff der Demokratie
Konstantinos Rantis
Gesellschaftstheorie in Griechenland 1974-2012. Psychopedis, Kondylis, Castoriadis, Giannaras
Michael Schwarz
Adorno in der Akademie der Künste. Vorträge und Diskussionen 1957-1967
Gert Sautermeister
Geschichtsphilosophische Dialektik literaturkritisch gewendet. Theodor W. Adornos Essay »Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie«
BESPRECHUNG
Marc Kleine
Adornos Schriften zu Literatur und Ästhetik. Neue literaturwissenschaftliche Studien
Kritische Theorie – Neue Bücher des Jahres 2012 in Auswahl
Autoren
Fußnoten
Vorbemerkung der Redaktion
Darf in Zeiten der Krise an die langen Zyklen der Philologie erinnert werden? Ist es angemessen, den täglichen Meldungen über den Existenzkampf der vom internationalen Finanzkapital enteigneten Bevölkerungen Südeuropas eine Notiz an die Seite zu stellen, die die Fertigstellung der Ausgabe der Werke Siegfried Kracauers im Suhrkamp Verlag anzeigt? Kritische Theorie kann sich mit dem aktuellen Leiden nicht abfinden, aber sie muss sich auch den langen Atem bewahren und auf dem Beharrungsvermögen des widerständigen Geistes bestehen. Deshalb sei den Herausgeberinnen Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke dafür gedankt, dass sie ein Projekt, das vor über vierzig Jahren, 1971, mit der Arbeit an der Herausgabe der Schriften durch Carsten Witte begann, aber in den neunziger Jahren brachlag, in einem zweiten Anlauf 2012 zum Abschluss führten. So sind die ihrerseits in Krisenzeiten entstandenen Werke Kracauers heute wieder allgemein zugänglich und können zur Analyse der aktuellen Situation beitragen. Diesem Ziel ist auch das vorliegende Doppelheft der Zk T verpflichtet, in das wir die folgenden Abhandlungen, Einlassungen und Besprechungen aufgenommen haben.
In den Einlassungen zeigt Andreas Greiert, dass Adornos Kritik der Metaphysik einen der zentralen Anknüpfungspunkte im aktuellen Diskurs über »Biopolitik« bildet, welcher freilich weniger an Adornos historisch gesättigten als an Foucaults konstruktivistischen Begriff des Individuums anknüpfe. Ausgehend von den objektiv-realistischen und performativen Aspekten des Widerspruchsbegriffs und dem Leib-Motiv wird der Zusammenhang von Natur und Gesellschaft bei Adorno unter dem Aspekt des Zwangs diskutiert. Dabei zeigt Greiert Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Agambens Theorie des Körpers im Lager und Adornos Theorem des Somatischen und benennt das Verhältnis zur Ethik als entscheidenden Differenzpunkt: Während Adorno eine negative Ethik zugrunde lege, um verantwortliche, verändernde Praxis zu begründen, verabschiede Agamben jegliche Normativität und fordere – die äußerliche Arbeitsteilung zwischen Rechtswissenschaft und Ethik verabsolutierend – den Übergang in die biopolitische Dimension. Damit schließe er an Heideggers apologetische Deutung des Geschehens in den Konzentrationslagern an und sitze wie dieser der Hypostasierung des enthistorisierten Seins auf. – Hans-Ernst Schiller untersucht das Verhältnis von religiösen Offenbarungsmotiven und Vernunftbegriffen bei Kant, Benjamin, Adorno und Horkheimer entlang der Kernfrage, welche Topoi des Messianismus sich säkularisieren lassen und welche nicht, bzw. in welchem Maße und mit welchen Folgen sie säkularisiert werden können. Er legt dar, wie der messianische Komplex von Hoffnungen – auf soziale Gerechtigkeit und Frieden einerseits sowie auf den Sieg über den Tod andererseits – in philosophische Begriffe übersetzt werden kann. Dies sind vor allem das Konzept universalistisch-moralischen Handelns bei Kant, die Begriffe des Eingedenkens sowie der Gefahr und der Rettung (bzw. des veralltäglichten Katastrophischen) bei Benjamin und die Begriffe von Anwachsen und Vollendung der Negativität als Anzeichen für das Nahen der Erlösung sowie deren potenziell jederzeitiges Eintreten bei Horkheimer und Adorno. In einer Diskussion des Verhältnisses von religiösen Erlösungsvorstellungen und deren Übersetzung in Theoreme der praktischen Philosophie klärt Schiller den philosophischen Gehalt jener »messianischen Motive« in der Kritischen Theorie, die in der Rezeption häufig nur oberflächlich wahrgenommen werden, und benennt ihre Aporien. – Thomas Khurana vollzieht in einem close reading die Argumentation aus Adornos Vorlesungen über Probleme der Moralphilosophie und Die Lehre von der Geschichte und von der Freiheit nach. Er interpretiert sie als Anstrengung, aus der Darstellung der Widersprüche des Moralischen nicht etwa dessen Unmöglichkeit abzuleiten, sondern vielmehr den dialektischen Charakter des Moralischen zu entfalten. Khurana diskutiert Adornos von Hegel inspirierte Interpretation der kantischen Antinomie von Freiheit und Gesetz. Vernunft wird bei Adorno als frei und als Teil der Natur konzipiert. Khurana setzt dies von der Position Brandoms ab, die immer noch der Vorstellung einer inneren Disziplin verhaftet scheint, während Autonomie bei Adorno vielmehr als Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit verstanden wird, die nicht verworfen, sondern reformuliert und zwischen dem Impuls und seiner Reflexion angesiedelt werden soll. – Sebastian Tränkle beleuchtet die säkularisierende Reformulierung des theologischen Motivs des Bildverbots bei Adorno unter Berücksichtigung des zeitdiagnostischen Kontextes. Seine These lautet, dass das Bildverbot als Chiffre für den Kulminationspunkt einer Bildkritik in Form der »bestimmten Negation« der Bilder gelesen werden kann, die deren Aufhebung im deutenden, historisierenden »Lesen« der Bilder mit einschließt. Im Anschluss an den Ikonoklasmus der jüdischen theologischen Tradition und an Kants philosophische Adaption jener Denkfigur weise Adorno dem Bildverbot eine Doppelfunktion zu: Als Verbot wendet es sich gegen falsche Bilder (des Absoluten) bzw. den falschen Anspruch auf Abbildlichkeit (der Realität), während es als Maßstab für Bildlichkeit ein anderes Bild sanktioniert. Die Übersteigerung des kritischen Impulses zum Verbot der Abbilder in der Erkenntnis und des konkreten bildlichen Entwurfs der Utopie wird als historische Konsequenz interpretiert, die Adorno vor allem aus dem Zivilisationsbruch der Shoah gezogen habe. – Christian Lotz setzt sich mit der systematischen Stellung Marx’scher Theoreme in der Kritischen Theorie Adornos auseinander. Entgegen der vor allem in den USA weit verbreiteten Rezeption Adornos als Ästhetiker sei daran festzuhalten, dass er stets an der Bestimmung der Gesellschaft als einer Tauschgesellschaft festgehalten habe. Erkenntnistheoretische Relevanz gewinne diese Kategorie im Anschluss an Sohn-Rethels Begriff der Realabstraktion, die Adorno mit dem kantischen Begriff des Schematismus zusammendenke. Im Begriff der Realabstraktion werde der Schematismus mit der Wertkategorie enggeführt. Die Realabstraktion sei einerseits Grundlage für die Vergesellschaftung, andererseits würden der Schematismus und die Realabstraktion aber auch in den sozialen Verhältnissen produziert werden. Ideologie und Wissen seien deshalb keine rein mentalen Erscheinungen, sondern gingen aus den Gesetzen der kapitalistischen Gesellschaft hervor. Die Tauschlogik – und die mit ihr verknüpfte Anschauungsweise – werde zu einer objektiven Ideologie, die sich am Willen der Einzelnen vorbei durchsetzt. Mit diesen und weiteren Überlegungen reetabliert Lotz ein dialektisch-materialistisches Verständnis von Adornos Denken. – Thomas Jung formuliert eine Kritik der Sprachauffassung bei Habermas anhand des Begriffs der Bedeutung. Der Autor will auf einen kritischen Begriff der »Nichtidentität von Bedeutung« hinaus und zeigt anhand von Peirce und Morris, dass bei Habermas eine verengte Rezeption der Semiotik vorliegt. Habermas blende in seiner Fixierung auf rationale Argumentation und sprechakttheoretische Geltung »semantische Inkongruenzen, Kontingenzen und kommunikativ Überschüssiges« aus. Dabei gingen die mimetischen und magischen Spurenelemente sprachlichen Ausdrucks verloren. Die Einwände werden als Ergebnis minutiöser, immanenter Kritik der Habermas’schen Sprachtheorie vorgetragen, die ihren Gegenstand hermeneutisch ernst nimmt. Mit Blick auf die Grenzen der Kommunizierbarkeit von Verfolgungs- und Vernichtungserfahrungen bei Imre Kertész betont Jung gegen Habermas, dass der Geltunsganspruch diskursiver Argumente zerbreche, wenn »die Bedeutungsidentität gewählter Worte oder Sätze nicht mehr gewährleistet sein kann, weil sie durch unterschiedliche Evidenzen subjektiver Erfahrungen semantisiert ist«. – Die beiden folgenden Aufsätze knüpfen an Überlegungen Alfred Schmidts an; sie stehen hier auch als eine Würdigung des Lebenswerks des im letzten Jahr verstorbenen Frankfurter Philosophen. Stefan Gandler vergleicht den westlichen Marxisten Alfred Schmidt und den lateinamerikanischen Marxisten Adolfo Sánchez Vázques mit Bezug auf das Verhältnis von Theorie und Praxis in ihrem Werk. In verschiedenen Hinsichten, unter anderem mit Blick auf die Verbindung aus Mechanik und Idealismus, arbeitet Gandler die kritische Stellung der beiden gegenüber dogmatischen und reformistischen Positionen des Marxismus heraus. Dabei spielt insbesondere der jeweilige Bezug auf die marxschen Frühschriften und auf den reifen Marx eine Rolle. – Gunzelin Schmid Noerr geht der Frage nach, wie eine Geschichte des Materialismus geschrieben werden könnte und welche systematischen Gründe diesem Unterfangen entgegenstehen. Anknüpfend an die materialistischen Theoretiker seit Marx und Engels gelangt er über Ernst Bloch und die ältere Kritische Theorie zu den Arbeiten Alfred Schmidts. Schmid Noerrs ins Grundsätzliche reichende Vergewisserung über den Begriff der Materialismus enthält auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Poststrukturalismus, dem ein klares gesellschaftstheoretisches Profil fehle, weil er die materiell-ökonomischen Elemente in letzter Instanz als eine Sinnstruktur auffasse und sie damit kulturalistisch auflöse.
In den Einlassungen entfaltet Hermann Schweppenhäuser mit Aristoteles, Hegel und Hannah Arendt den klassischen Begriff des Politischen und skizziert das neuzeitliche Konzept politischer Freiheit und Souveränität. An Rousseau, Kant und Marx wird der Grundwiderspruch des modernen Projekts der Demokratie erörtert: Freiheit, Gleichheit und Humanität stehen auf der einen Seite, Eigentum und Macht auf der anderen. Weil beide Seiten einander bedingen, verwirkliche sich die notwendige Universalität des politischen Ganzen paradox als Partikularismus der Mehrheit, welche die Minorität unterwirft. Daher sei der demokratische Staat kein »Friedensstaat«, sondern, bis auf Weiteres, die Fortsetzung »des Kampfes von Mächten, Parteien, Interessen miteinander und gegeneinander«. – Konstantinos Rantis plädiert für eine Erneuerung der griechischen Gesellschaftstheorie im Zeichen der Kritischen Theorie. Sein Ausgangspunkt sind die Werke von Psychopedis und dessen Kritik an den Positionen von Castoriadis, Kondylis und Giannaras, denen er unterschiedliche Spielarten von Irrationalismus vorwirft. Gerade in der aktuellen ökonomischen und gesellschaftlichen Krise Griechenlands seien die Zurückweisung des Irrationalismus und die Weiterentwicklung des kritischen Denkens entscheidend. – Michael Schwarz verdeutlicht an Adornos öffentlichen Vorträgen im Berlin der 1960er Jahre, in welchem Maße dieser als öffentlicher Intellektueller gewirkt hat. Schwarz, der bei seiner Rekonstruktion auf bislang unpubliziertes Archivmaterial zurückgreift, macht deutlich, dass das Bild der Schreibtischeinsamkeit des kritischen Intellektuellen gründlich zu revidieren ist. – Gert Sautermeister konfrontiert Adornos berühmten Aufsatz über Goethes Iphigenie mit einer genauen Relektüre des Dramas. Dabei unterstreicht er die Gültigkeit der Grundausrichtung von Adornos Lesart, also der Diagnose einer schuldhaften Verstrickung der Zivilisation in jene mythische Schicht, von der sie glaubt, sie überwunden zu haben; doch er akzentuiert einzelne Textbefunde, etwa die Figur des Thoas oder den Status von Orests Wahnsinnsmonolog, anders als Adorno. – Marc Kleine, selbst Autor einer Monographie über Adornos Schreibweise,*stellt im Rahmen der Besprechungen neue literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu dessen Schriften über Literatur und Ästhetik vor und ordnet sie kritisch ein.
Aus der Redaktion gibt es zu vermelden, dass Wolfgang Bocks Berufung auf eine Professur in Rio de Janeiro eine organisatorische Umstrukturierung mit sich gebracht hat: Er ist 2012 vom Herausgeberteam in die Redaktion gewechselt.
ABHANDLUNGEN
Andreas Greiert
»Weh spricht: vergeh«
Negative Dialektik und Biopolitik
Mit der Negativen Dialektik präsentiert Theodor W. Adorno einen Alternativentwurf zur »semantischen These« des deutschen Idealismus, nach der die Einheit des Begriffs mit der Einheit des Subjekts gleichzusetzen ist.1 Diese Einsicht ist in der Forschung unumstritten. Durchaus strittig erscheint hingegen, inwieweit und mit welcher Konsequenz Adorno eine tragfähige materialistische Gegenposition zum Idealismus vorgelegt hat.
Mit dieser Frage setzt die vorliegende Untersuchung an: Die vorgelegte Skizze von Adornos negativer Dialektik besitzt ihr erkenntnisleitendes Interesse darin, das materielle Moment am »Nichtidentischen« und am »Vorrang des Objekts« einmal so buchstäblich wie überhaupt nur möglich zu nehmen (Abschnitt I). Einen entsprechenden Anspruch hat Adorno selbst verkündet mit dem Eingeständnis, keine wie immer auch veränderte Philosophie könne »die Einzeldinge in die Texte kleben«2. Die Markierung dieser unüberschreitbaren Grenze als eines Defizits verdeutlicht nicht nur eine unumgängliche Beschränktheit der begrifflichen Erkenntnis. Vielmehr wird zugleich anstelle des Abstrakt-Semantischen das Dinghaft-Somatische zur eigentlichen Widerspruchsinstanz gegen die idealistische Identitätsbehauptung.
Bei dieser entschieden materialistischen Lesart rückt die negative Dialektik in eine überraschende thematische Nähe zum aktuellen Diskursraum der Biopolitik, in dem schließlich generell Einigkeit darüber besteht, den Menschen weniger als Vernunftwesen denn als leibliche Entität zu fassen (Abschnitt II). Zugleich existieren unterschiedliche und durchaus widersprüchliche Lesarten des Begriffs Biopolitik, die von einer kritisch intendierten Beschreibung bestehender Herrschaftspraktiken bis zu dem Anspruch auf einen emanzipatorischen Perspektivenwechsel reichen.3 Vor diesem Hintergrund provoziert eine Auseinandersetzung mit Adornos Akzentuierung des somatischen Elements in der Negativen Dialektik die Frage nach dem Verhältnis zu aktuellen Positionen im Projekt der Biopolitik. Diese Frage wird abschließend anhand von sowohl von Adorno als auch von Giorgio Agamben vorgelegten Skizzen zu einer neuen Ethik nach Auschwitz erörtert (Abschnitt III).
I.
Nach Auschwitz, so Adorno in der Negativen Dialektik, ist durch die geschichtliche Objektivität »die Konstruktion eines Sinns der Immanenz, der von affirmativ gesetzter Transzendenz ausstrahlt, zum Hohn« verurteilt (ND, 354). Die negative Dialektik impliziert somit nicht nur eine Konstellation von Immanenz und Transzendenz, die, ebenso denknotwendig wie undenkbar, auf eine ganz andere Verfassung der Welt verweist.4 Vielmehr wird das metaphysische Potential zugleich auch entwertet, nämlich, und das ist entscheidend, säkularisiert zum Projekt einer »Rettung des Nichtidentischen« in dem »Blick, der deutend am Phänomen mehr gewahrt, als es bloß ist, und einzig dadurch, was es ist« (ND, 38 f.). Wenn Adorno das »Eingedenken des Nichtidentischen« als »Scharnier negativer Dialektik« (ND, 24) bezeichnet, dann kommt in dieser Metonymie ein dezidiert anti-idealistischer und metaphysikkritischer Vorbehalt zum Ausdruck: »Der Begriff des Nichtidentischen dient als Platzhalter für den Rest, der in einem notwendigen Vorrang des Positiven nicht aufgeht und sich durch keine erkenntnistheoretische Aufklärung wegargumentieren lässt«5.
Dass das Nichtidentische notwendig aporetisch ist und bleiben muss, hat Adorno selbst schon offen eingeräumt, indem er bündig festhält, dass es als »Sache selbst« keineswegs Idee ist, sondern »Zugehängtes«, in dem unterzugehen die Wahrheit des Subjekts wäre (ND, 189 f.).6 Diese Aporie aber hat sich für Adorno in die Metaphysik selbst hinein verlängert; diese steht und fällt mit der Veränderbarkeit der Wirklichkeit: »Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles« (ND, 391). Mit ihrer programmatischen Amalgamierung geschichtsphilosophischer und erkenntnistheoretischer Motive verlässt die negative Dialektik die überlieferten Bahnen akademischer Philosophie und nimmt stattdessen die Spur von Nietzsches »radikaler Genealogie« auf.7 Adornos Methode eines »Lesen des Seienden als Text seines Werdens« (ND, 62) sieht alles Gegebene stets und ausnahmslos als Gewordenes an, das, so die Pointe, auch anders werden kann. Die Einsicht, dass alles Seiende »nicht einfach so und nicht anders ist, sondern unter Bedingungen wurde«, entkräftet den Bann des Fetischs von der »Irrevokabilität des Seienden« (ND, 62).
Adornos berühmte Metapher vom »Sturz der Metaphysik« verortet diese in den höchst banalen Niederungen geschichtsphilosophischer Spekulation: »Sie traut die Möglichkeit eines richtigen Bewußtseins auch von jenen letzten Dingen erst einer Zukunft ohne Lebensnot zu« (ND, 390). Auf die Frage nach der von Natur emanzipierten Gesellschaft kann gar nicht begrifflich geantwortet werden: »Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll«8. Im unwiderruflichen Prozess ihrer Säkularisierung hat die einst »reine metaphysische Erfahrung« sich an das geheftet, von dem sie als dem Unreinen und Materiellen ehedem weg wollte: »Sie hält sich negativ in jenem Ist das denn alles?, das am ehesten im vergeblichen Warten sich aktualisiert« (ND, 368).
Versagung und Verfall als Grundkonstanten körperlichen Daseins: Die Erkenntnis der Armseligkeit der physischen Existenz »zündet« ins oberste Interesse, ins »Was ist das und Wohin geht es« (ND, 359). Die im Materiellen schmerzlich präsente Gewissheit der Endlichkeit ist Ausgangspunkt für das metaphysische Fragen; sie weckt die Begehrlichkeit, über die bestehenden Widersprüche hinauszugehen zu einem ganz anderen Ganzen, das jedoch nicht begrifflich rein, als im idealen System sich verwirklichendes Absolutes vorgestellt werden darf. Eine Versöhnung der bestehenden Widersprüche im Denken weist Adorno schließlich kategorisch barsch zurück: »Unversöhnlich verwehrt die Idee von Versöhnung deren Affirmation im Begriff« (ND, 163). Entsprechend wird von Adorno die Aufgabe von Philosophie begriffen als aporetisches Unterfangen, mit den Mitteln des Denkens über das Denken hinauszugelangen: »An Philosophie ist es, das vom Gedanken Verschiedene zu denken, das allein ihn zum Gedanken macht, während sein Dämon ihm einredet, daß es nicht sein soll« (ND, 193).
Wenn Adorno sich also »im Augenblick ihres Sturzes« mit der Metaphysik solidarisch bekennt (ND, 400), dann gilt seine Solidarität fraglos dem Wahrheitsanspruch der Metaphysik, »ihrem alles Bestehende auf ein Absolutes hin transzendierenden Impuls«.9 Dieser Wahrheitsanspruch aber wird für Adorno gleichsam freigesetzt, und so auch erst fassbar, im Augenblick ihres Sturzes, in dem vor der hehren Frage nach den letzten Dingen unversehens ganz ungewohnt handfeste Gegenstände auftauchen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit« (ND, 29). Mit dieser so typisch apodiktischen Feststellung zerrt Adorno die Idee der Wahrheit grob aus dem Elfenbeinturm heraus und mutet ihr zu, sich im Dunstkreis eines schieren Materialismus zu bewähren.10
Diese Veränderung des Wahrheitsanspruchs hat Adorno in der Philosophischen Terminologie auf die grundlegende Einsicht zurückgeführt, »daß der Mensch als ein empfindendes, erlebendes, erkennendes Wesen selber auch wesentlich Leib ist«11, und zur Kompensation eines so notorischen wie systematischen Reflexionsdefizits aller klassisch idealistischen Metaphysik auf ein »Aroma des Materialismus« verwiesen, das den Erfahrungsraum zwischen der »Organlust« und dem Tod prägt.12 Zugleich postuliert Adorno aber auch, dass dem Materialismus schon von sich aus ein ursprünglicher metaphysischer Erfahrungsgehalt zukommt. In spezifisch materialistischer Perspektive ist schließlich die Beziehung zum Leib identisch mit der Beziehung zum Tod »als dem Niedrigen, Widerlichen und Naturverfallenen, dem wir alle bis heute unterworfen sind«13.
Die metaphysische Wahrheitsfrage gründet dann für Adorno keineswegs auf einem abstrakten, gar im engeren Sinne philosophischen Interesse, sondern entspringt dem konkreten physischen Leiden der Menschen: Maß aller Erkenntnis ist, »was den Subjekten objektiv als ihr Leiden widerfährt« (ND, 172). Eben diese Inversion der klassischen Metaphysik liefert erst den systematischen Begründungszusammenhang für Adornos spezifisch negative Dialektik − und sorgt für ihren unversöhnlichen Bruch mit jedem traditionellen Verständnis. Die Wahrnehmung einer »dualistischen Reflexionsphilosophie«14 etwa übersieht, dass für Adorno Dialektik gar keine Frage formaler Logik, also der Nicht-Übereinstimmung von Subjekt-Aussagen darstellt, sondern das Resultat einer objektiven Widersprüchlichkeit der Sachen selbst, die der identifizierende Begriff stets zu Unrecht schlichtet.15 Der Widerspruch verliert seinen abstrakt-theoretischen Charakter und verschmilzt mit der Dialektik zu einer performativen Struktur, wie Adorno sie mit dem Muster »Dialektik als Verfahren« zu beschreiben versucht hat: »Widerspruch in der Realität, ist sie Widerspruch gegen diese« (ND, 148).
Wenn der Widerspruch enthüllt, was an der Sache selbst unversöhnt ist, und nicht etwa formale Logik, sondern die Sache selbst zum Widerspruch führt,16 dann steht der Widerspruch für Adorno nicht nur materiell, als nicht-identischer Rest dem Denken per se unversöhnlich gegenüber. Der Widerspruch ist für ihn vielmehr das physische Leiden der Menschen, das ganz praktisch-somatisch alle überhaupt möglichen abstrakten Sinnstiftungsverfahren und -versprechen de-legitimiert:17 »Die kleinste Spur sinnlosen Leidens in der erfahrenen Welt straft die gesamte Identitätsphilosophie Lügen, die es der Erfahrung ausreden möchte« (ND 203).
Die apodiktische Gewissheit, mit der Adorno fast schon trotzig immer wieder die Unwahrheit aller begrifflich erzeugten Identität behauptet, besitzt ihre Grundlage in dem begrifflich nicht aufzuhebenden Zusammenhang zwischen physischem Leiden und Nicht-Identität: Ein leidender Leib ist nicht identisch. Diese Einsicht, in der, so Adorno, das »somatische Moment« erkenntnistheoretisch »nachzittert« (ND, 202 f.), initiiert das Projekt einer negativen Dialektik, die der Theorie nicht wiederum Theorie entgegensetzt, sondern das konkrete Phänomen des einzelnen Menschen, der gegen sich selbst denkt, ohne sich preiszugeben. So lautet schließlich die von Adorno im Bewusstsein ihrer Unmöglichkeit vorgeschlagene »Definition von Dialektik« (ND, 144). Das »Denken gegen sich selbst, ohne sich preiszugeben«, dem Adorno an anderer Stelle einen »handgreiflichen« (ND, 358) Charakter zuschreibt, reagiert auf den Sturz der Metaphysik, indem es unmittelbar auf die buchstäbliche Bedeutung des Materialismus führt, auf Trieb, Natur und Körper, die materiellen Vorgänge des Lebens als Grundlagen und objektive Bedingungen für das Denken. Die brutale Gewalt der Selbsterhaltung, Sexualität, Tod und Verwesung sind dem Denken in Gestalt der Affekte Lust und Leiden präsent und führen notwendig zur Infragestellung eines Sinns des Lebens, nach dem ein Leben, das Sinn hätte, gar nicht fragte (ND, 369).
Indem der Mensch gegen sich als Denkenden denkt, als sinnstiftendes Subjekt, gibt er sich eben nicht preis, sondern denkt zugleich für sich als Seienden, als Nichtidentischen, als leidendes Objekt. Mit diesem eminent subjektivitätskritischen Gehalt führt das Denken gegen sich selbst auf den »Vorrang des Objekts« (ND, 184 ff.), der aber nicht etwa bloß die idealistische Überzeugung von einem Primat des Subjekts ersetzt, sondern gerade auf ein »Mehr« an Subjekt hin errichtet ist, denn er verlangt nach einem empirischen Subjekt, das ihm korrespondiert.18
Mit seinem Beharren auf dem empirischen Subjekt als Einspruchsinstanz gegen die abstrakte Identität eines transzendentalen Subjekts hat Adorno zugleich die Perspektive auf Geschichte und Gesellschaft verschoben, erkennt er doch nicht abstrakten Wahrheitsansprüchen, sondern ökonomischen Produktivkräften den Primat bei Identitäts-Herstellungs-Prozessen zu: »Gesellschaft ist vor dem Subjekt. Daß es sich verkennt als vor der Gesellschaft Seiendes, ist seine notwendige Täuschung und sagt bloß Negatives über die Gesellschaft« (ND, 132). Erst wenn keinem Menschen mehr ein lebendiger Teil seiner Arbeit vorenthalten würde, erst dann wäre rationale Identität erreicht und die Gesellschaft über bloß identifizierendes Denken hinausgelangt (vgl. ND, 150).
In diesen Passagen der Negativen Dialektik klingt ein frühes Motiv Adornos nach, hatte dieser doch schon Mitte der 1930er Jahre Walter Benjamin darin zugestimmt, dass in der Nützlichkeit der Dinge ihr Fluch und im Warenfetisch die praktisch gewordene Gestalt begrifflicher Identität zu sehen ist.19 In dieser Traditionslinie hält Adorno dreißig Jahre später fest, dass der Tausch falsches Bewusstsein schafft (ND, 190), denn zum einen funktioniert der Tausch als höchst reales gesellschaftliches Modell des abstrakten Identifikationsprinzips, so dass die Welt tatsächlich identisch ist (ND, 149). Weil zum anderen aber über den Tausch auf dem Markt das natürliche Recht des Stärkeren im Konkurrenzprinzip vergesellschaftet wird, kumuliert zugleich im Warencharakter nichts anderes als »vermittelte Herrschaft von Menschen über Menschen« (ND, 101).
Dem Eindruck, Adorno habe sich hier ganz ohne Not ein vulgärmaterialistisches sacrificium intellectus zu Schulden kommen lassen, indem er zentrale Gehalte der okzidentalen Philosophiegeschichte an die kontingente historische Wirklichkeit ausliefert, lässt sich entgegenhalten, dass Adorno der idealistischen Tradition mit einer Gefahrenwarnung begegnet ist. Davon zeugt in der Negativen Dialektik ein eindrucksvolles Bild, das der Metaphysik die Rolle einer strengen Kerkermeisterin zuweist: »Das Subjekt – selber nur beschränktes Moment – ward von ihr für alle Ewigkeit in sein Selbst eingesperrt, zur Strafe seiner Vergottung. Wie durch die Scharten eines Turms blickt es auf einen schwarzen Himmel, an dem der Stern der Idee oder des Seins aufgehe« (ND, 143).20 Wenn die Philosophiegeschichte eine Sackgasse darstellt, an deren Ende unweigerlich das Gefängnis des Selbst wartet, dann besteht zugleich die Notwendigkeit eines Ausbruchs, dessen Möglichkeit allerdings abhängig ist von einer Erweiterung der Perspektive über das mit den Mitteln des identifizierenden Begriffs in sich eingeschlossene Selbst hinaus auf die materielle Welt da draußen. In diesem Zusammenhang entfaltet Adornos negativ dialektische Einsicht in die Nicht-Identität des leidenden Leibs ihre wohl entscheidende Wirkung, denn sie verdeutlicht die von vorneherein bestehende, traditionell jedoch idealistisch ausgeblendete, faktische Zugehörigkeit der Menschen zu eben dieser materiellen Welt.