Kitabı oku: «Es war eine berühmte Stadt ...»

Yazı tipi:

Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz

Es war eine berühmte Stadt …

ES WAR EINE BERÜHMTE STADT …

Mainzer mittelalterliche Erzählungen und ihre Deutung

herausgegeben von

Wolfgang Dobras

Mit Beiträgen von

Theofried Baumeister, Wolfgang Dobras, Uta Goerlitz,

Regina Heyder, Helmut Hinkel, Christian Klein,

Andreas Lehnardt, Sabine Mertens,

Andreas Scheidgen, Hans-Peter Schmit,

Joachim Schneider und Winfried Wilhelmy

Publikationen Bistum Mainz

in Kooperation mit dem Echter Verlag

Mainz · Würzburg 2016

Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz

Beiträge zur Zeit- und Kulturgeschichte der Diözese

2016

herausgegeben von Barbara Nichtweiß

Umschlagmotive:

Vorderseite:

König Dagobert übergibt die Stadt Mainz an die Ritter.

Kolorierte Federzeichnung aus der „Chronik von Kaiser Sigmund“

des Eberhard Windeck (ÖNB Wien, Cod. 13975, fol. 450r)

Rückseite:

Abb. wie S. 106, 189, 164, 265, 45 und 326.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte Daten sind im Internet abrufbar unter:

<http://dnb.ddb.de>

ISSN 1432-3389

ISBN Bistum Mainz 978-3-934450-66-0 (print)

ISBN Echter Verlag 978-3-429-04318-6 (print)

ISBN Echter Verlag 978-3-429-04896-9 (ebook-PDF)

ISBN Echter Verlag 978-3-429-06316-0 (ePub)

© Publikationen Bistum Mainz 2016

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.

Ohne ausdrückliche Genehmigung von Verlag und Bischöflichem Ordinariat Mainz

ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem

oder elektronischem Wege zu vervielfältigen oder zu publizieren.

Redaktionsmitarbeit: Gabriela Hart

Bildbearbeitung, Layout, Satz und Umschlag:

Barbara Nichtweiß

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Wolfgang Dobras

Vorwort

I. Erzählungen zu den Anfängen von Mainz

Uta Goerlitz

Mainzer Ursprungssage(n)

Andreas Scheidgen

Pontius Pilatus – ein unehelicher Königssohn aus Mainz

Joachim Schneider

König Dagobert – der angebliche zweite Erbauer der Stadt Mainz

II. Heiligenviten

Winfried Wilhelmy

Von Paulus selbst gesandt?Der heilige Crescenz, der – legendäre – erste Bischofvon Mainz

Theofried Baumeister

Der heilige Ferrutius – römischer Soldat und Märtyrer

Wolfgang Dobras

Der heilige Alban – der Apostel von Mainz

Theofried Baumeister

Bischof Theomastus (Theonestus) –Ortstraditionen und internationale Verknüpfungen

Theofried Baumeister

Bischof Aureus mit dem Diakon Justinus oder seiner Schwester Justina – früher Kult und barocke Wallfahrt

Sabine Mertens

Ein Zwischenstopp in Mainz – Die heilige Ursula auf Pilgerfahrt

Hans-Peter Schmit

Die heilige Bilhildis – Gründerin des ältesten Mainzer Frauenklosters

III. Jüdische Sagen

Andreas Lehnardt

Die Kalonymiden – von Lucca an den Rhein

Andreas Lehnardt

Rabbi Amram – eine christliche Sage in jüdischem Gewand

Andreas Lehnardt

Der jüdische Papst aus Mainz

IV. Sagen von Herrschern und Herrscherinnen

Helmut Hinkel

Nibelungen in Mainz – Heldenepos aus der Badergasse?

Regina Heyder

Die ambivalente Königin –Fastrada in der karolingischen Historiographie und der Ring-Sage

Helmut Hinkel

Päpstin Johanna – ein Mainzer Mädchen auf dem Stuhl Petri?

Christian Klein

Hatto – Rufmord als Kollateralschaden

Wolfgang Dobras

Ein Wagnerssohn als Erzbischof – Willigis und das Mainzer Rad

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsnachweise

Autorinnen und Autoren

vorwort

Auch 200 Jahre nach dem 1816 erschienenen Buch der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm haben Sagen nichts an Anziehungskraft und Popularität verloren. Gerade weil viele dieser „alten Geschichten“ so lebendig sind und das Bewusstsein der Menschen stärker prägen als gelehrte historische Abhandlungen, möchte das vorliegende Buch deren Wirkmächtigkeit einmal an Mainzer Beispielen genauer untersuchen. Dabei werden nicht nur Sagen in den Blick genommen, sondern auch Legenden, handelt es sich doch bei beiden Gattungen um schriftlich tradierte Erzählungen, wobei sich die Legenden nur durch ihre Hauptakteure – die Heiligen – von den Sagen unterscheiden. Neben den Heiligenlegenden zählen dazu Geschichten, die sich um einzelne, mit Mainz auf unterschiedliche Weise verbundene Herrschergestalten und auch Herrscherinnen ranken. Nicht zu vergessen sind die Erzählungen über die Ursprünge und die Gründung der Stadt Mainz. Einer solchen, nämlich der Pilatussage in einer lateinischen Fassung des 12. Jahrhunderts, entstammt im Übrigen das Titelzitat „Es war eine berühmte Stadt“. Einbezogen wurde schließlich auch der bedeutende Mainzer jüdische Sagenkreis. Die ausgewählten Erzählungen spielen alle in der Zeit vor dem Jahr 1100. Bis auf zwei Ausnahmen sind sie im Laufe des Mittelalters entstanden.

Wer jedoch erwartet, in den einzelnen Beiträgen über den „historischen Kern“ dieser Erzählungen aufgeklärt zu werden, muss enttäuscht werden. Denn durch das Entfernen alles „Geheimnisvollen“ lässt sich dieser nicht entdecken. Zwar wird die Historizität der einzelnen Personen, Ereignisse und Monumente, von denen in den Erzählungen die Rede ist, durchaus thematisiert. Das Erkenntnisinteresse wird jedoch nicht von der Frage bestimmt, was an einer Sage oder Legende wahr oder falsch ist. Gezeigt werden soll vielmehr, warum diese Erzählungen im Mittelalter entstanden sind, wie sie im Laufe der Jahrhunderte verändert worden sind und welche Funktionen sie dabei erfüllt haben. Dass sich nicht selten Traditionslinien bis in unsere heutige Zeit ergeben, unterstreicht die Aktualität dieser Erzählungen. So gelesen, erfährt man von ihnen vor allem etwas über die Zeit, in der sie kursierten, und über die Vorstellungen derer, die sie rezipierten und verwendeten. Nach einem vorangestellten zentralen Quellenzitat werden daher in den einzelnen Beiträgen Entstehung, Wandel und Funktion der Sagen und Legenden vom Mittelalter bis in die Gegenwart analysiert.

Für die Idee, sich unter diesem Aspekt mit den Mainzer mittelalterlichen Sagen und Legenden intensiver zu beschäftigen, konnten elf Autorinnen und Autoren gewonnen werden, denen mein großer Dank für ihre Unterstützung und Geduld gilt. In der Mehrzahl handelt es sich um Erstveröffentlichungen; bereits an einem anderen Ort publizierte Beiträge sind für diesen Band entsprechend überarbeitet worden. Dass die Beiträge im „Neuen Jahrbuch für das Bistum Mainz“ einen idealen Erscheinungsort gefunden haben, freut mich ganz besonders. Für die Aufnahme danke ich recht herzlich der Herausgeberin der Reihe, Frau Dr. Barbara Nichtweiß, die zusammen mit Frau Gabriela Hart auch die Arbeit der Endredaktion und des Layouts der Beiträge übernommen hat. Wichtige Unterstützung bei den bibliographischen Korrekturen leistete außerdem Frau Susanne Speth. Last, but not least habe ich den „Rebläusen“ zu danken: In diesem der Mainzer Geschichte verpflichteten Kreis von Theologen, Historikern und Kunstwissenschaftlern, der nun schon seit 75 Jahren existiert, wurde so manches vordiskutiert. Zum Schluss bleibt nur zu wünschen, dass das Buch zum Verständnis von Sagen und Legenden als bedeutendem Phänomen der Mainzer Erinnerungskultur Wesentliches beitragen möge.

Mainz, im Juli 2016

Wolfgang Dobras

TEIL I

ERZÄHLUNGEN ZU DEN ANFÄNGEN VON MAINZ

MAINZER URSPRUNGSSAGE(N)

Mittelalterliche Erzählungen über die Gründung von Mainz

Uta Goerlitz

„In Asien gab es einen König […], der hieß Pilis, der hatte einen Sohn, der Treverus genannt wurde. Treverus sprach, er wollte schauen, was jenseits des Meeres wäre. So fuhr er nach Europa, das ist: die Gegend, […] in der Trier liegt, und die Gegend gefiel dem König sehr. Er errichtete da eine Stadt, das war die erste Stadt, die seit der Sintflut jemals in Europa errichtet worden war; denn in Europa gab es niemanden als den König Treverus und sein Volk, das mit ihm gekommen war. Die Stadt, die da von ihm errichtet wurde, das ist das nach dem hochgeborenen König benannte Trier. Wie ich berechnet habe, wurde die Stadt Trier erstmalig 1603 Jahre vor Christi Geburt erbaut […].

560 Jahre später, am dritten Tag nach Sankt Georg, das ist im Monat April, da lebten 12 Gelehrte, darunter vier Rechtsgelehrte, die erbauten mit ihrem Wissen eine Stadt, die Menz genannt wurde. Wer bei ihnen lernen wollte, der konnte sich zur Unterweisung dorthin begeben. Wiederum 608 Jahre später wurde Rom erbaut […]. Da gelangte ein Kaiser an die Macht, der hieß Trusus […].“

Freie Übersetzung aus der Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ (Terminus post quem ca. 1335, um 1443/44?) in der sog. Windeck-Fassung in Eberhard Windecks „Buch von Kaiser Sigismund“.

Im Wortlaut der sog. Windeck-Fassung:

es was ein konig in Asia […], der hieß Pilis und der hette einen son, der was genant Treverus.a der selbe Treverus sprach, er wolte besehen, was über mer were, und für in E<u>ropam, daz ist dis lant, […] do Trier litb, und daz lant dem konige wol behaget. do macht er ein stat, daz was die erst stat, die sider der sinflůt in E<u>ropia ie wart gemacht; und in Europia waz niemant dannec der konig Treverus und sin volg, daz mit ime komen was. die stat, die do von ime wart ufgeleitd, daz ist Trier noch deme edelen konige genant. die stat Trier wart zü dem ersten gebuwen, als ich gerechnet han vor Cristus geburt 16hundert und dri jor […].

darnoch uber 500 jor und in dem 60. jor uf den dritten tag noch sant Gregorien tag, das ist in dem kalender aprilie, do worent 12 meisterf, der worent vier rehtmeisterg und die leitent ein stat ufh noch irer kunste, die hiez nu Menz; und wer von in lernen wolt, der solt dar farn zü schüleni darnoch über sehshundert jor und acht jor wart Rom ufgeleit […]. do wart ein keiser hieß Trusus […].

Zitat nach der Ausgabe von Eberhard Windecks „Buch von Kaiser Sigismund“ von Wilhelm Altmann von 1893 (Anmerkungen von der Verfasserin).

I. Terminologie und Gegenstand

Sagen gelten seit der Romantik als lange tradierte, mündliche Erzählungen von außergewöhnlichen Ereignissen, deren Kern von den Tradierenden für wahr gehalten wird; das unterscheidet sie vom Märchen. Den bekannten Sagensammlungen der Brüder Grimm aus dem frühen 19. Jahrhundert etwa liegt die für die Romantik kennzeichnende Auffassung zugrunde, Sagen verdankten sich der kollektiven Erinnerung des Volkes, seien „Volksdichtung“1. Dabei wurde übersehen, dass Sagen zwar, wie eine einschlägige literaturwissenschaftliche Definition lautet, „Ausdruck kollektiver Mentalitäten“ sind, die „vorgeblich wahre Begebenheiten mit dem Ziel der Orientierung in der Welt“ tradieren und „eine psychologische oder eine soziale“ Funktion haben, wie das prinzipiell auch für Herkunftssagen wie diejenigen von Mainz gilt.2 Doch müssen sie deshalb nicht auch einen mündlichen Ursprung haben – in den „für uns offenkundig sagenhaften Texten in mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Chroniken“ haben sie ihn sogar „in der Regel nicht“.3 Oft verdanken sich Sagen schriftsprachlicher Konstruktion, so dass mit Auftraggebern und Verfassern gerechnet werden muss, die sie mit variierender Zielsetzung in Umlauf brachten.

So gibt es auch in Mainz im Mittelalter nicht die eine Mainzer Ursprungssage, sondern mehrere Versionen und innerhalb von diesen demgegenüber weniger stark variierende Fassungen4, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, teilweise miteinander konkurrierten und sich partiell überlagerten. Am Ende des Mittelalters, seit dem 15./16. Jahrhundert, begann man, diese Texte aus dem neuartigen historisch-kulturellen Interesse des Humanismus heraus zu sammeln, sie zu kompilieren und dabei teils auch mit neu gewonnener methodischer Kritik zu bewerten, bevor im 19. Jahrhundert im Gefolge der Romantik systematisch die großen nationalen und regional-heimatkundlichen Sagensammlungen entstanden. Seitdem wurden und werden die alten „Sagen“ vielfach wiedererzählt, was ausschmückende Erweiterungen ebenso beinhaltet wie Kürzungen oder die Neukombination traditioneller Motive.5

An den Anfang dieses Beitrags ist eine Version der Mainzer Ursprungssage gestellt, die drei Besonderheiten aufweist:

Erstens ist sie bereits im Mittelalter in deutscher Sprache überliefert, was keineswegs selbstverständlich ist, stammen etliche heute noch bekannte „Sagen“ doch aus der gelehrten lateinischen (chronikalischen) Überlieferung. Die Wahl der Volkssprache für die in Rede stehende Prosaerzählung über den Ursprung von Mainz impliziert dabei literaturgeschichtlich von vornherein eine vergleichsweise späte Überlieferung. Im konkreten Fall liegt das frühestmögliche Entstehungsdatum nach ca. 1335, ohne dass mit diesem Terminus post quem, der sich aus bestimmten politischen Anspielungen ergibt, auch schon etwas über das tatsächliche Abfassungsdatum gesagt wäre, das später liegen kann – im vorliegenden Fall ist zumindest eine spätere Bearbeitung sehr wahrscheinlich.6

Zweitens war die vorangestellte Version der Mainzer Stadtgründungssage nachweislich in Spätmittelalter und Früher Neuzeit verbreitet und soll angeblich sogar beim Kaiser auf Interesse gestoßen sein: Der keiser Sigismund (König 1410–1437, Kaiser seit 1433) habe wissen wollen, warumbe die stat Trier dreizenhundert jor elter wer wann7 Rom. Mit diesen Worten ist sie in das zeitgeschichtlich-politische „Buch von Kaiser Sigismund“ (Des keiser Sigesmundus buch) eingefügt, das von dem zum königlich-kaiserlichen Hof gehörenden Mainzer Bürger Eberhard Windeck (gest. 1440/41) abgefasst wurde.8 Die zitierte Frage nach den Anfängen von Trier führt darin unmittelbar zum Ursprung von Mainz hin, der in dieser Version der Mainzer Ursprungssage eng mit der Geschichte von Trier verbunden ist – wie es aus dem Textausschnitt zu Beginn dieses Beitrags hervorgeht.


Abb. 1: Der Anfang der Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ in der illustrierten Windeck-Handschrift V1 aus der Werkstatt des Diebold Lauber (Österreichische Nationalbibliothek Wien, cod. 13975, fol. 447r).

Die dritte Besonderheit dieser Version aber, die im Folgenden mit der neueren literaturgeschichtlichen Forschung mit „Ursprung der Stadt Mainz“9 betitelt sei (in Abgrenzung von anderen mittelalterlichen Erzählungen vom Ursprung von Mainz, denen kein Titel zugewiesen ist), liegt in ihrer guten Zugänglichkeit in älteren Drucken (und neuerdings auch online)10. Dadurch konnte sie schon früh den Weg in die regionalen Sagensammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts finden, auch wenn die Quellen in solchen, dem „Volkspoesie“-Begriff verpflichteten Sammlungen oftmals nicht nachgewiesen sind.

Der Text des „Ursprungs der Stadt Mainz“ ist in leichter Fassungsvariation auch außerhalb der Windeck-Abschriften überliefert. Zu nennen ist hier insbesondere eine Sammelhandschrift des frühen 16. Jahrhunderts von dem Benediktiner Christian Gheverdis11, in der die Mainzer Ursprungsgeschichte noch etwas detailfreudiger erzählt ist („Gheverdis-Fassung“) als bei Windeck („Windeck-Fassung“)12. Bekannt war die Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ zu dieser Zeit aber namentlich auch dem benediktinischen Humanisten Hermannus Piscator aus dem Kloster St. Jakob bei Mainz, der sie ins Lateinische übertrug, mit seinem Korrespondenten Petrus Sorbillo aus dem Kloster Johannisberg im Rheingau diskutierte und mit älteren Mainzer Ursprungserzählungen verglich13, was im 17. Jahrhundert partiell in der vielrezipierten Geschichte des Mainzer Erzstifts von Nicolaus Serarius aufgegriffen wurde und zur Bewahrung der mittelalterlichen Überlieferung beitrug14.

Die Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ bildet daher einen prädestinierten Ausgangspunkt, um von da aus, sukzessive ins Hochmittelalter zurückgehend, anschließend auch ältere Stadtgründungserzählungen von Mainz zu betrachten, wodurch die ältesten vorgeblichen Gründungs‚daten‘ der Stadt zuerst in den Blick rücken.15 Teilweise knüpfen die älteren Erzähltraditionen ebenfalls, aber in anderer Weise als der „Ursprung der Stadt Mainz“, an die Trierer Herkunftssage an, teils arbeiten sie aber auch mit ganz anderen aitiologischen Erklärungsmustern. So kann sich die Frage nach der Herkunft von Mainz mit der Suche nach dem Ursprung uralter Monumente verbinden wie namentlich des „Eichel-“ oder „Drusussteins“ im heutigen Gebiet der Mainzer „Zitadelle“.16 Im Verlauf des Mittelalters bildete sich auf diese Weise ein Erzählkomplex über die Anfänge von Mainz heraus, in dem lateinische und volkssprachige Versionen nebeneinander stehen, in denen sich unterschiedliche Wahrnehmungsschemata und Aussageinteressen manifestieren, so dass die dem neuzeitlichen Leser gewohnte Grenze zwischen factum und fictum als verschoben erscheint.17 Das unterschiedliche Erzählinteresse verweist ebenso auf die Trägergruppen wie auf den jeweiligen situativen Kontext, aus dem die einzelnen Versionen hervorgingen, was deutlich wird, wenn die Texte im Folgenden, ausgehend vom „Ursprung der Stadt Mainz“, näher analysiert werden und nach ihren Funktionen gefragt wird.18

II. Gelehrte meister aus Trier in Europas Frühzeit: der volkssprachige „Ursprung der Stadt Mainz“ aus dem 14. /15 .Jahrhundert

Die eingangs zitierte, volkssprachige Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ setzt mit den Anfängen von Trier gemäß der seit dem Hochmittelalter verbreiteten Sage ein, mit der anschließend die Gründungsgeschichte von Mainz verbunden wird. Demzufolge lebte in Asien ein Königssohn namens Treverus oder Trebeta19, der in der Windeck-Fassung als Sohn des Königs Belus (Pilis)20 eingeführt wird, in der Gheverdis-Fassung dagegen in Übereinstimmung mit der vorherrschenden mittelalterlichen Überlieferung als Sohn des Königs Ninus in Babylon und damit implizit als Belus’ Enkel21. Eines Tages verkündete Treverus, er wolle zur See fahren, um zu sehen, was über mer were. Er gelangte nach Europa und kam dort schließlich an jenen Ort, an dem in der mittelalterlichen Gegenwart Trier lag. Dort gefiel es ihm so gut, dass er Trier gründete und damit, wie hervorgehoben wird, die erste Stadt in Europa nach der Sintflut, die seinen Namen tragen sollte (lat. Treveris).

Treverus war demnach der erste König in Europa, der betontermaßen lange vor der Gründung Roms lebte. In der Gheverdis-Fassung wird deshalb zur Beglaubigung eigens auf das bůch von den tryrschen geschichten22 verwiesen. Gemeint ist der bis in das 11. Jahrhundert zurückzuverfolgende, bekannte Überlieferungskomplex der „Gesta Treverorum“23, der mit der Gründerfigur des Trebeta den „während des späteren Mittelalters wohl bedeutendste[n] heros eponymos im Gebiet nördlich der Alpen“24 hervorbrachte. Dementsprechend groß war die Ausstrahlung, die die Herkunftssage von Trier auf andere mittelalterliche Städte hatte, die an sie anknüpften: Trebeta stammt aus Babylon, dem Prototyp der von profanem Machtwillen geprägten, hybriden Stadt; als Sohn des assyrischen Königs Ninus – mittelalterlicher Geschichtstheologie zufolge dem Begründer der ersten der vier Weltmonarchien vor dem Jüngsten Tag, während dessen Regierungszeit Abraham geboren wurde, – hat der Gründerheros von Trier und erste König in Europa Anteil am providentiellen Gang der Weltgeschichte. Machtgier und Herrschsucht prägen so das pagan-vorzeitliche, ursprüngliche Umfeld Trebetas. Gleichzeitig wird der junge Königssohn durch das für den Trierer Erzählkomplex konstitutive Motiv des Inzestbegehrens seiner Stiefmutter Semiramis, dem Trebeta sich tugendhaft durch die Flucht nach Europa entzieht, von diesem Umfeld abgerückt. Trier erscheint damit bereits in vorchristlicher Zeit als metropolis, und die pagane Frühzeit von Trier steht solchermaßen aus kirchenpolitischer Perspektive programmatisch in Kontrast zu dem glanzvollen Aufstieg des Bischofssitzes in christlicher Zeit.

Im Gefolge der spätmittelalterlichen Auseinandersetzungen zwischen Erzbischof und Bürgerschaft konnten sich die Akzente allerdings verschieben, im Besonderen durch die Betonung der ersten Komponente – der Bedeutung der Stadt als ältester Siedlung Europas. Auf diese Weise ließ sich die „literarische Ausprägung eines missionshagiographischen Topos: ‚metropolis‘ auch in vorchristlicher Zeit“, wie sie in der Sage vom Ursprung von Trier vorliegt, aus dem „zunächst zugeordneten Zusammenhang“ weitgehend lösen.25 Nicht zufällig fehlt daher auch in der spätmittelalterlichen Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ gerade das in dem Trierer Erzählkomplex so wichtige Inzestmotiv. Wie gesehen, bricht Trebeta/Treverus in ihr nicht als von der Stiefmutter bedrängter Flüchtling – Semiramis wird nicht genannt – zu seiner Seefahrt nach Europa auf, sondern aus Wissbegier. Entsprechend wird dem hohen Alter von Trier und in Verbindung damit der zeitlichen und räumlichen Verknüpfung mit Belus, dem sagenhaften Gründer von Babylon, bzw. mit dessen Sohn Ninus besonderes Gewicht beigemessen. Zugleich wird durch die Einfügung genauer Daten der große Abstand zur späteren Gründung von Rom hervorgehoben.

In Ansätzen zeichnet sich hier ein bürgerlich-antiepiskopaler Wahrnehmungshorizont ab. In den folgenden Abschnitten des „Ursprungs der Stadt Mainz“ wird er noch deutlicher greifbar, wenn sich der Blick von Trier auf die Treverer-Gründung Mainz wendet, die in das Zentrum rückt: 560 Jahre nach der Erbauung von Trier hätten 12 meister, laut Windeck-Fassung darunter vier Rechtsgelehrte, jene Stadt errichtet, die nů Menz heiße. In der Gheverdis-Fassung erfährt man dagegen in einer Variante, dass man diese zwölf Gelehrten, die aus Trier stammten, damals Magos genannt habe, dan sie waren grosz Astronomj vnd auch magici, vnd waren jn allen Natu rlichen ku nsten gar wol erfaren; der selbigen iglicher hatte xij andere meyster vnder Jme.26 Und auch der weit über Mainz hinausreichende Ruhm dieser meister oder magi, der prinzipiell in beiden Fassungen erwähnt ist, wird in der Gheverdis-Fassung unterstrichen: Die Gründer von Mainz hätten in der fernen, ursprünglichen Heimat des Königs Trebeta vber mer wie auch andernorts verkůnden lassen: Wer da wolte leren Jn Naturlichen, Jn Astronomia, Auch in magica, der solte sich da hin gen meincz fůgen, da fůnde er sollich lere nach synem beger.27

Mainz wurde der spätmittelalterlichen volkssprachigen Gründungserzählung der Stadt zufolge mithin in der Frühzeit Europas von einer Gruppe von teils rechtskundigen Magiern aus Trier errichtet, von gesellschaftlichen Funktionsträgern, die sich gemäß mittelalterlicher Magietheorie „religiöser Praktiken […] bzw. operativer Eingriffe“28 zur Aktivierung der Kräfte der Natur bedienten und deren Kenntnisse wie in der Gheverdis-Fassung näherhin im Sinne der Naturmetaphysik ausgedeutet werden konnten. Selbst im Orient mit seinem frühen Machtzentrum Babylon sollen die Mainzer magi der Gheverdis-Fassung zufolge Bekanntheit erlangt haben, und bei näherer Betrachtung sind bezeichnende strukturelle Parallelen des „Ursprungs der Stadt Mainz“ zur Gründungssage von Trier festzustellen. Der Trebeta-Sage zufolge verlässt der vom Begründer der ersten Weltmonarchie abstammende Königssohn Trebeta mit seinen Anhängern Babylon, um auf der Flucht vor Semiramis in Europa Neuland zu suchen; er siedelt sich in fruchtbarer Landschaft an der Mosel an und gründet dort die nach ihm benannte Stadt der Treverer, Trier. Analog dazu verlassen die aus Trier und damit aus der erst[en] stat […] in E<u>ropia nach der Sintflut stammenden, gelehrten Gründer von Mainz mit ihren Gefährten Trier und ziehen in die noch unbewohnten Lande aufwärts des Rheins; dort gründen sie die nach ihren Fähigkeiten benannte Stadt Mainz, lateinisch Maguntia, quasi Magicae […] scientia, wie eine explizite entsprechende etymologische Namendeutung lautete.29

Wie Trier tritt damit auch Mainz bereits in paganer Vorzeit als eine Stadt ersten Ranges in Erscheinung, und durch ihr besonders hervorgehobenes, hohes Alter stellen beide Gründungen Rom weit in den Schatten. Angesichts des politischen Aufstrebens der Mainzer Bürgerschaft im Spätmittelalter erscheint es dabei als bezeichnend, wenn der Ursprung von Mainz hier – anders als die Anfänge von Trier in der aus dem Hochmittelalter datierenden Trebeta-Sage – nicht auf einen Monarchen, sondern auf eine im Kern zwölfköpfige Personengruppe aus der städtischen Oberschicht hergeleitet wird: Seit die patrizischen Geschlechter 1244 von Erzbischof Siegfried III. weitreichende städtische Freiheitsrechte erhalten und einen politisch unabhängigen Stadtrat gebildet hatten, war Mainz de facto Freie Stadt. Damit war ein Anspruch begründet, den es in den folgenden zwei Jahrhunderten bis zum Verlust der Stadtfreiheit (1462) zu bewahren, gegebenenfalls konkret nachzuweisen galt. Die Emanzipation vom bischöflichen Stadtherrn musste verteidigt werden, die Beziehungen zum Königtum waren jeweils im Einzelnen zu gestalten, „und ständig mußten mögliche Neuerungen, die dem eigenen Anspruch abträglich sein konnten, bekämpft werden“.30 Hinzu kamen Konflikte zwischen Geschlechtern und Zünften: 1332 zogen die Zünfte in den Rat ein – ein Ereignis, auf das die fiktive Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ an anderer Stelle unmittelbar anspielt –, 1444 schließlich wurden die Geschlechter völlig aus der städtischen Selbstverwaltungskörperschaft verdrängt.31 Der doppelte Charakter des spätmittelalterlichen Gemeinwesens „Mainz“ als Erzbischofsmetropole und freie Bürgerstadt, das durch ein „kompliziertes und dynamisches Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander“32 der politischen Kräfte mit ihren vielfältigen Verflechtungen nach innen wie nach außen gekennzeichnet war, ist deshalb bezeichnend. Vor diesem Hintergrund kann auch der Prestige- und Machtanspruch gesehen werden, der sich in dem nach ca. 1335 abgefassten volkssprachigen Text manifestiert, wenn die für ihre magischen Künste berühmten Gründer von Mainz ihr Wissen und ihre Fertigkeiten an lernbegierige Schüler aus Orient und Okzident weitergeben. Dadurch wird das Gewicht der Stadt nicht nur im urzeitlich-heidnischen Europa, sondern in der gesamten vorchristlichen Welt unterstrichen.

Variabel erscheinen dabei im Vergleich von Windeck- und Gheverdis-Fassung der zeitliche Abstand der Gründung von Mainz einerseits zur vorangehenden Erbauung von Trier und andererseits zu der nachfolgenden von Rom und daneben in Grenzen auch die Abkunft des Heros eponymos der Mutterstadt von Mainz von Belus oder Ninus. Die zentralen Elemente sind hingegen konstant: Mainz wird von Trier aus gegründet, und die Gründer der Stadt sind weithin bekannte Gelehrte beziehungsweise Magier. Die für den heutigen Leser befremdliche, im Mittelalter aber einem verbreiteten, vorwissenschaftlichen etymologischen Verfahren entsprechende, erwähnte Herleitung des Namens von Mainz aus magiae scientia beziehungsweise magicae scientia bezieht sich dabei erkennbar nicht auf die volkssprachige Namensform Menz, sondern auf die lateinische, Maguntia.33 Sie verweist deshalb auf einen lateinischen Entstehungsrahmen zurück, was Rückschlüsse auf das politisch-soziale Bezugsfeld ermöglicht.

III. Meister der Schwarzkunst auf der Flucht: eine lateinische Version vom Ursprung von Mainz in der Hagiographie um 1300

Der zuletzt erwähnte Befund, mit dem zugleich die funktionale Differenz von lateinischem und volkssprachigem Diskurs angesprochen ist, weist auf eine ältere, lateinischklerikal geformte Schicht der Sage von der Gründung von Mainz durch Magier aus Trier hin, wie sie sich in der „Passio, inventio et translatio sanctorum Aurei et Justinae“ des sogenannten Sigehard von St. Alban aus dem späten 13. Jahrhundert findet.34 Diese Version der auf Magier aus Trier bezogenen Gründungsgeschichte erlangte besondere Verbreitung. Von Interesse ist sie aber auch, weil sie die Variabilität der Figurengestaltung der Erbauer von Mainz verdeutlicht und überdies gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen auf das komplexe Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Überlieferung und deren spezifischen Status verweist.

Wie dargelegt, hatte die volkssprachige Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ unter Betonung des Alters der Stadt, durch das Mainz Rom übertrifft, den Charakter der Mainzer Magier als einer Gruppe hochrangiger Gelehrter aus Trierer Führungskreisen hervorgehoben, die von überallher Schüler anzogen. Der Gheverdis-Fassung zufolge waren es, modern ausgedrückt, naturwissenschaftlich bewanderte Astronomen. „Magie“ beinhaltete im Mittelalter neben einer magisch-naturphilosophischen, ihrem Wesen nach den mittelalterlichen Naturwissenschaften zuzurechnenden Komponente eine zauberisch-dämonologische. Dementsprechend stand weiße Magie neben schwarzer, wobei „die Grenzen zwischen beiden Bereichen […] stets umstritten [waren] und […] häufig ebenso subjektiven wie gesellschaftspolitisch umsetzbaren Ansprüchen“35 unterlagen. Die volkssprachige Version der Mainzer Ursprungssage zumal in der Gheverdis-Fassung gibt daher mit ihrer überaus positiven Zeichnung der Mainzer meyster beziehungsweise magici betont eine Deutungsperspektive vor, mit der sie sich von der lateinisch-klerikalen Überlieferung tendenziell abgrenzt. Diese nämlich hebt dezidiert und ausschließlich auf die dunklen Seiten der Magie ab.