Kitabı oku: «Schonen schadet», sayfa 2

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Generation Kartoffelsack. Oder: Bewegungsarmut macht krank.

Kleinkinder sind alleine nicht überlebensfähig. Deshalb gibt es Menschen – zum Beispiel Eltern –, die für sie sorgen. Sie geniessen einen Rundumservice, werden gefüttert, gehätschelt, gepudert. Allerdings: Dass sich das bis fast ins Jugendalter hineinzieht, das war mitnichten die ursprüngliche Idee. Im Gegenteil: Die Fürsorge diente dem Ziel, dass Kinder möglichst schnell einmal auf eigenen Beinen durchs Leben gehen sollten. Buchstäblich.

Und das haben Kinder auch getan. Eine Studie aus Sheffield zeigt eindrücklich, welchen Aktionsradius Kinder früher hatten. Und wie der innerhalb von nur vier Generationen auf ein kümmerliches Refugium zusammengeschrumpft ist. Kinder waren noch vor wenigen Jahrzehnten innerhalb eines grösseren Gebietes alleine unterwegs, allenfalls mit Freunden, aber sicher ohne Eltern. Das war aber keineswegs nur in Sheffield so. Auch hierzulande hatten wir als Kinder einen beträchtlichen «Auslauf». In meiner Jugend sind wir zum Fischen an einen Fluss gegangen – zu Fuss etwa eine Stunde. Wir sind mit dem Fahrrad an einen kleinen See gefahren zum Baden – auch eine knappe Stunde. Zum Schlittschuhlaufen trafen wir uns auf einem grossen Weiher – zu Fuss eine Stunde von zu Hause entfernt. Selbstverständlich waren weder die eigenen Eltern noch andere Erwachsene dabei. Und ebenso selbstverständlich gab es zu jener Zeit keine Handys. Die (fast) einzige Regel lautete: Zum Abendessen musst du zu Hause sein. Das war der normale Alltag eines Heranwachsenden. Neben den üblichen Verpflichtungen in Haus und Garten fand das Leben irgendwo draussen statt. Drinbleiben, das wäre eine Maximalstrafe gewesen. Hausarrest quasi. Entsprechend waren Kinder und Jugendliche in einen bewegungsaktiven Alltag eingebunden, einen Alltag, auf den die Eltern nur wenig Einfluss nahmen. Wir entdeckten auf die Weise die Welt. Wir lernten nicht nur Fische fangen, wir lernten auch vorsichtig zu sein, wir lernten, Regeln und Vereinbarungen auszuhandeln und sie einzuhalten, wir lernten, uns zu beschäftigen.

Quelle: http://www.dailymail.co.uk/news/article-462091/How-children-lost-right-roam-generations.html (1.1.2018).

Wir lernten, uns abzusprechen, um uns zum Fussballspielen zu treffen (es gab ja kein Handy) – und es funktionierte! Wir lernten, uns für jedes Wetter richtig anzuziehen. Wir lernten, vorauszudenken und einen Apfel oder ein Stück Brot mitzunehmen. Und: Wir lernten, uns zu bewegen. Wie heisst es doch: Das Leben ist der beste Lehrmeister. Die Bedingungen waren schwieriger, buchstäblich schonungsloser, dafür umso förderlicher.

Dem Leben Beine machen

Ohne Frage, die Lebensgewohnheiten und mit ihnen das Bewegungsverhalten der Kinder und Jugendlichen haben sich radikal verändert. Die Folgen sind buchstäblich unübersehbar. Sie zeigen sich aber bei weitem nicht nur bei den Kleidergrössen. Die körperliche Gesundheit leidet. Und wie!

Eine österreichische Studie4 mit 65 000 Kindern und Jugendlichen kam schon vor zehn Jahren zum Schluss, dass sich das körperliche Leistungsvermögen der Heranwachsenden «in höchstem Masse besorgniserregend» darstelle. Das betreffe die Rumpfmuskelkraft (Haltungsschäden und Wirbelsäulenerkrankungen), koordinative Fähigkeiten (Beeinträchtigung der Alltagsmotorik bei Anforderungen an das motorische Gleichgewicht), motorische Grundlagenausdauer (Herz-Kreislauf-Erkrankungen). Im Vergleich zu früheren Studien zeigten sich degenerative Prozesse. Das heisst nichts anderes als: Die körperlichen Fähigkeiten bilden sich zurück. Es wird immer bedenklicher. Und zwar keineswegs nur in Österreich.

Anteil Jugendliche, die sich mehr als eine Stunde pro Tag bewegen (nach Alter)


Vergleichbare Forschungen in der Schweiz und in Deutschland kommen – die Überraschung hält sich in Grenzen – zu ähnlich alarmierenden Ergebnissen. Massstab ist die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation: Kinder sollen sich pro Tag eine Stunde bewegen – nicht Sport treiben, einfach bewegen. Das ist das Minimum. Von den Drei- bis Sechsjährigen erreicht gerade mal die Hälfte dieses nicht sonderlich herausfordernde Ziel.

Noch einmal zur Verdeutlichung: Nur die Hälfte der Vorschulkinder bewegt sich mindestens eine Stunde pro Tag. Mit zunehmendem Alter mutiert die Jugend dann vollends zur Generation Kartoffelsack. Noch ein bisschen mehr als zehn Prozent der älteren Knaben schaffen es, sich im Durchschnitt eine Stunde pro Tag aus einer sitzenden oder liegenden Schlaffheit aufzuraffen. Und bei den Mädchen sieht die ganze Sache noch bedenklicher aus. Ein Blick auf die Grafik macht das Ausmass deutlich: Die gelben Balken zeigen, wie viele Kinder es nicht schaffen, täglich eine Stunde (!) den Hintern zu heben. Da reagiert nicht einmal mehr der Bewegungsmelder. Eigentlich eine traurige Bilanz. Eine himmeltraurige sogar.

Bezogen auf das gesundheitliche Schadenspotenzial ist Sitzen das neue Rauchen. Einen wesentlichen Unterschied gibt es allerdings: Beim Rauchen bot sich die Zigarettenindustrie als unsympathischer Sündenbock geradezu an. Und dankbar prügelten alle auf sie ein. Man deckte sie mit Prozessen ein, man verbot die Werbung, das Rauchen in öffentlichen Räumen, man bedruckte die Zigarettenpackungen mit Horrorszenarien – mit mässigem Erfolg, aber allseits reinerem Gewissen.

Und wer kriegt nun die Arschkarte für die flächendeckende Bewegungsidiotie? Wem könnte man die Verantwortung für das kindliche Herumhängen in die Schuhe schieben? Den Sitz- und Liegemöbel-Herstellern? Kaum! Den Medien? Noch unwahrscheinlicher! Der Schule? Die böte genug Angriffsfläche und könnte einiges in Lot bringen – weit über den Schulsport hinaus. Und wer bleibt noch? Klar, die Eltern und die Kinder selbst. Das heisst: Die Lösung ist das Problem. Denn jede Veränderung ist Selbstveränderung. Deshalb wird es von jetzt an höchst unbequem. In jeder Beziehung. Dem Leben der Kinder Beine zu machen – und das in einer saturierten, trägheitsaffinen Gesellschaft –, das ist nicht einfach. Da nimmt man doch lieber ein paar Folgeschäden in Kauf. Und die werden dann mit kurzfristig bequemen Massnahmen so weit wie möglich abgedämpft. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich dabei natürlich die chemischen Keulen. Die lösen zwar meist nicht das Problem, zum Beispiel jenes der fehlenden Bewegung, aber halten zumindest den Deckel drüber. Es ist so, wie wenn man mit einem neuen Kleinkredit den fälligen ablöst. Es ist eine Lösung auf Pump.


Höhenflug des Ritalins

Die an Schweizer Ärzte und Apotheker gelieferte Menge Methylphenidat ist von 2000 bis 2014 um 810 Prozent gestiegen.


Die 2014 gelieferte Menge entspricht der täglichen Ration von rund 100 000 Ritalin-Tabletten à 10 mg Methylphenidat.

Ein Beispiel: die extreme Zunahme der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. So schnell kann eine Gesellschaft eigentlich gar nicht erkranken. Die Zunahme liegt sicher auch darin begründet, dass man diese und ähnliche Diagnosen schnell zur Hand hat. Denn alle Beteiligten sind irgendwie dankbar dafür. Die Diagnose entbindet auf komfortable Weise von der Verantwortung. Kinder und Eltern sind entlastet, Erstere müssen sich weiterhin nicht bewegen, Letztere müssen sich nicht mit Ersteren darüber streiten. Da nimmt man in Kauf, dass die Kinder schon Medikamenten-Dispenser brauchen, wie sie sonst im Spital oder im Altersheim gebräuchlich sind. Eindrücklich zeigt sich dieser gesellschaftliche Wandel weg von der Bewegung hin zu den Medikamenten im Höhenflug des Ritalins, einer Pille, mit der die Kinder vorübergehend ruhiggestellt werden. Besonders wirksam sind solche Medikamente in Kombination mit digitalen Medien und Computerspielen. So kann man die Kinder der Bewegung komplett entziehen.

Eine Folge davon zeigt sich zum Beispiel ein paar Jahre später bei der Rekrutierung für die Schweizer Armee. Diese jährlich durchgeführte «Aushebung», wie sie früher genannt wurde, liefert, da sie fast alle (männlichen) jungen Erwachsenen betrifft, ein einigermassen aussagekräftiges Bild über den Zustand der heranrückenden Generation.

Und es zeigt sich: Der gesellschaftliche Wandel ist der jugendlichen Fitness alles andere als zuträglich. Sport findet heute am Bildschirm statt und nicht mehr draussen. Als Folge davon werden die Sportresultate bei den Rekrutierungen immer lausiger. Bestimmte körperliche Tests wie zum Beispiel das Stangenklettern mussten sogar abgeschafft werden. 1982 waren 16 Prozent der Stellungspflichtigen untauglich. Zehn Jahre später waren es bereits 22 Prozent. Und seit der Jahrtausendwende müssen konstant zwischen 35 und 39 Prozent aus physischen oder psychischen Gründen vom Militärdienst dispensiert werden. Ist die Schweiz zu einem Land der psychisch Kranken und körperlich Gebrechlichen mutiert? Oder simulieren sie einfach gekonnt, um sich vor dem Militärdienst zu drücken? Es ist anzunehmen, dass die Drückebergerei heute weiter verbreitet ist als vor ein oder zwei Jahrzehnten. Aber unabhängig davon: Die Jugendlichen legten in den letzten zehn Jahren an Körpergewicht deutlich zu – sie machen also sportlich keine sonderlich gute Figur. Bei der Zahl der Arztbesuche sind die 15- bis 24-Jährigen überdurchschnittlich gut vertreten. Und der Umstand, dass sich in den letzten zehn Jahren die Abgabe von Neuroleptika5 an Jugendliche vervierfacht hat, vermag mit Blick auf den Umgang mit (körperlichen) Herausforderungen nicht gerade sehr zuversichtlich zu stimmen. Pillen statt Willen heisst die moderne Lebensphilosophie.

Übergewicht und Adipositas bei 19-jährigen Stellungspflichtigen 2004 bis 2014


Datenquelle: Staub und Rüthli 2014, N=173859.

NATÜRLICH KÖNNEN WIR HIER NICHT ALLE DAS GLEICHE LUSTIG FINDEN. WIR NEHMEN JA NIGHT ALLE DIE GLEICHEN MEDIKAMENTE.

Der Bewegungsmangel mit seinen – auch psychischen – Folgen hat sich gleichsam zu einer zivilisatorischen Gesellschaftsseuche entwickelt. Kinder sind davon besonders betroffen. Sie müssen schliesslich noch viel Zeit in ihrem ungesunden Körper verbringen. Und der ist eben nicht nur da, um den Kopf durch die Gegend zu tragen. Körper und Psyche stehen in einer Wechselwirkung. Psychische Zustände drücken sich im Körper aus (quasi nonverbal als Gestik, Mimik, Körperhaltung), und gleichzeitig zeigen sich auch Wirkungen in umgekehrter Richtung: Körperzustände beeinflussen psychische Zustände. Beispielsweise haben Körperhaltungen, die aus irgendeinem Grund eingenommen werden, Auswirkungen auf Kognition (z. B. Urteile, Einstellungen und Emotionalität). Der Begriff dafür: Embodiment. Der menschliche Körper dient gleichsam als eine Art Interface zur Welt. Wer also sich und der Welt einigermassen klug und aufgeweckt begegnen will, braucht mehr als die Fähigkeit, Würfel im Raum drehen und Muster vervollständigen zu können. Eine vernünftige Beziehung zu sich – und damit zur Lebenswelt – steht immer auch in einer gewissen Abhängigkeit zur körperlichen Befindlichkeit.

Es geht also überhaupt nicht um die Frage, ob die Kinder eine Turnstunde mehr oder weniger zu besuchen haben. Es geht auch nicht darum, dass die Eltern ihren Nachwuchs einmal die Woche zur Ballett- oder zur Tennisstunde bringen. Es geht um den Alltag. Um das Bewegungsverhalten im Alltag. Darum, dass Kinder rausgehen und sich bewegen. Tag für Tag. Und zwar richtig raus. Und richtig bewegen. Bei jedem Wetter.

Ich spiele lieber drin bei den Steckdosen

Und das würden Kinder eigentlich auch gerne machen. Befragungen fördern immer (noch) dasselbe zutage: «Mit Freunden draussen etwas unternehmen» steht zuoberst auf der Wunschliste. Und «An versteckten Orten sein, wo wir machen können, was wir wollen». Aber das ist pure idealisierte Theorie. Die Realität sieht anders aus: «Ich spiele lieber drin bei den Steckdosen.» «Rausgehen», das klingt für heutige Ohren wie «Straflager» – und erst noch zu den anderen Kindern, dabei sind die doch gar nicht lieb.

Woher kommt diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit? Einer der Gründe heisst: Angst. Zwei Drittel aller Eltern haben Angst, wenn ihr Kind draussen spielt. Diese Angst kommt nicht von ungefähr. «Sie wird bewirtschaftet – von Präventions- und anderen Fachstellen, von Versicherungen und nicht zuletzt von Medien.»6 Gerade sie, die Massenmedien, schaffen mit ihrer Daueralarmierung ein Klima der Verunsicherung. Sie kultivieren das Bild einer bösen, gefährlichen Welt. Obwohl Kinder noch nie so sicher aufwachsen konnten wie heute, glauben 78 Prozent der Mütter und 66 Prozent der Väter, der Alltag ihrer Kinder sei heute gefährlicher als früher.

KINDER-MIKADO: WER SICH BEWEGT, HAT VERLOREN.

Das zieht einen Rattenschwanz von fürsorglichen Belagerungsmassnahmen nach sich. Kinder dürfen auf keinen Baum klettern, nehmen zum Kindergeburtstag die Zahnbürste mit, weil im Kuchen so viel gefährlicher Zucker ist, müssen sich im Schatten aufhalten (oder noch besser im Haus) wegen der krebsverursachenden Sonnenstrahlen, dürfen nirgendwo einen Nagel einschlagen, weil der aus Stahl ist und ganz spitzig. Und hinter jedem Haus liegt ein Kinderschänder auf der Lauer. Eine britische Studie hat hochgerechnet, wie lange ein Kind an einer Ecke stehen müsste, bis ein Verbrecher es zu entführen versuchte: 600 000 Jahre. «Die Angst bringt Geld», so der Beobachter. Und «Prävention lebt immer auch davon, den Teufel an die Wand zu malen». So werden Kinder bis ins Jugendalter hinein wie unter einer Käseglocke gehalten.

Und wenn sie einmal abseits der Steckdosen spielen dürfen, ist immer jemand dabei, der zum Rechten schaut – ein Sozialpädagoge, ein Pfadileiter, ein Mitglied der elterlichen Selbsthilfegruppe. Das beruhigt ungemein. Aber es heisst auch: Kinder lernen nicht mehr, allein mit anderen klarzukommen, Konflikte selber zu regeln, zu streiten und sich zu versöhnen. Rangeleien werden flugs als Gewaltanwendung taxiert und therapeutisch aufgearbeitet. Mädchen, die ihre beste Freundin wechseln, machen sich des Mobbings schuldig und müssen beim Schulsozialarbeiter antraben. Den Kindern und Jugendlichen wird der eigenständige Zugang zu wichtigen Entwicklungsfeldern verwehrt: Kritik aushalten und nach einer Pleite wieder aufstehen. Vom Klettergerüst fallen und es nach dem Abklingen der Schmerzen erneut versuchen. Sich beim Schneiden einer Haselrute für einen Pfeilbogen mit dem Messer am Finger verletzen und mit dem Taschentuch die Wunde notdürftig verbinden. Sie hätten die Chance, physische und psychische Belastbarkeit aufzubauen und Verhaltensmuster zu entwickeln für all jene Situationen, in denen es nicht so läuft, wie man es bequemerweise gerne hätte. Resilienz nennt man das. Und Helikopter-Eltern nennt man jene, die genau das verhindern oder zumindest untergraben.

Helikopter-Eltern

Eigentlich meinen die meisten Eltern es ja gut mit ihren Kindern. Das ist jedenfalls anzunehmen. Sie wollen, dass der Nachwuchs einigermassen sorgenfrei durchs Leben kommt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Nur: «Gut gemeint» ist nicht selten das Gegenteil von «gut». Die Zahl der Kinder ist geschrumpft. Die Aufmerksamkeit muss nicht mehr auf mehrere verteilt werden. Das schafft Zeit und Raum, sich mit Akribie um den kleinen Prinzen oder die kleine Prinzessin zu kümmern. Eben: Es soll ihnen ja gut gehen.

Menschen, die sich vornehmen, «heute lassen wir es uns gut gehen», die essen und trinken meist zu viel und bewegen sich zu wenig. Das heisst: Eigentlich tun sie sich keinen Gefallen. «Gut» ist also immer auch gekoppelt an die Frage: jetzt oder später? Und so ähnlich verhält es sich auch in der Erziehung. Wer will, dass es seinen Kindern gut geht, sorgt sich um sie. Das ist richtig und wichtig. Die Frage ist nur: Was heisst «gut»? Ist damit gemeint, Nachsicht zu üben, hier eine Ausnahme zu machen und da eine andere? Geht es darum, den Kindern möglichst alle Steine aus dem Weg zu räumen? Oder geht es noch weiter, geht es darum, das Leben des Kindes zum eigenen zu machen? Die Grenze zwischen elterlicher Fürsorge und entwicklungshemmender Verwöhnung ist fliessend. Und ein Übermass an Verwöhnung kommt einer subtilen Form von Kindesmisshandlung gleich. Subtil deshalb, weil sich die möglichen Folgen erst später einstellen – wie bei denen, die es sich zu oft «gut gehen lassen». Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hält die Schäden durch Überbehütung sogar für schlimmer als die Folgen von Verwahrlosung, Ignoranz und Desinteresse der Eltern. Der Hintergrund von Überbehütung sei ein Narzissmus der Eltern: Sie wollten glückliche und erfolgreiche Kinder haben, um sich selbst als kompetent erleben zu können.


DO NOT HANDICAP YOUR CHILDREN BY MAKING THEIR LIVES EASY.

ROBERT A. HENLEIN


Das ist an sich nicht neu. Die Helikopter-Metapher wurde bereits 1969 vom israelischen Psychologen Haim G. Ginott in seinem Werk «Between Parent and Teenager» verwendet. Er zitiert einen Heranwachsenden mit den Worten: «Mother hovers over me like a helicopter.»

Mit dem Ende der Sechzigerjahre hat der radikale gesellschaftliche Wandel eine zusätzliche Dynamik erfahren. Der zunehmende Wohlstand hat die Lebensgewohnheiten verändert und zu einer Verlagerung der Interessen geführt. Breiten Bevölkerungsschichten haben sich neue materielle Möglichkeiten eröffnet. Familienstrukturen und ebenso Erziehungsvorstellungen sind in fundamentaler Weise zur Disposition gestellt worden.

Das zeigt sich auch darin, dass, was vor knapp vier Jahrzehnten als Begriff entstanden ist, sich zu einem flächendeckenden Phänomen entwickelt hat. Eben: Helikopter-Eltern.

In Wikipedia werden sie so charakterisiert: «Unter Helikopter-Eltern, auch Hubschrauber-Eltern oder als Fremdwort Helicopter Parents (engl. helicopter parents oder paranoid parents), versteht man populärsprachlich überfürsorgliche Eltern, die sich (wie ein Beobachtungs-Hubschrauber) ständig in der Nähe ihrer Kinder aufhalten, um diese zu überwachen und zu behüten. Ihr Erziehungsstil ist geprägt von (zum Teil zwanghafter oder paranoider) Überbehütung und exzessiver Einmischung in die Angelegenheiten des Kindes oder des Heranwachsenden.

Die Begriffe Überbehütung und Überfürsorglichkeit bezeichnen allgemein Verhaltensweisen von Eltern, bei denen das Bedürfnis, ihr Kind zu beschützen und zu versorgen, übermässig ausgeprägt ist. Der Begriff Helikopter-Eltern ist eine populäre Bezeichnung für eine moderne Form der Überbehütung, bei der die ständige Überwachung des Kindes im Vordergrund steht. Helikopter-Eltern üben ihre Elternrolle in übertriebenem Mass aus. Das heranwachsende Kind hat dadurch zu wenig äussere und innere Freiräume. Eine andere Art von Überbehütung ist die Verwöhnung. Sie äussert sich darin, dem Kind Belastungen und Anstrengungen zu ersparen und ihm möglichst viele Wünsche zu erfüllen.»7

Also im Grunde genommen ein widersprüchlicher, ein irgendwie schizophren anmutender Erziehungsstil. Einerseits ist er geprägt von der Devise «Fleiss vor Spass». Das führt zu zwanghaftem Kontrollverhalten – beispielsweise durch Handys, die permanent den Standort des Kindes angeben. Es führt aber zu einem für alle Beteiligten höchst ungesunden Förderwahn. Da werden die Kinder vom Mandarin-Unterricht in die Meditation für Hochsensible gekarrt, in die Astronomie für angehende Astronauten, die rhythmische Sportgymnastik, den Förderkurs für technisch Hochbegabte und was es noch alles gibt. Helikopter-Eltern widmen sich mit verbissener Konzentration der optimalen Brutpflege.

Andrerseits werden die Kinder emporgehätschelt, wird ihnen jeder materielle Wunsch erfüllt und jede mögliche Unbill erspart. Hat der Kleine sein Buch vergessen, reicht eine knappe Whatsapp-Nachricht und schon ist die Mutter unterwegs, um ihm möglichen Ärger zu ersparen. Die Eltern dienen sich an als Hinterhertragservice, als Bespassungsdienst, als Wunscherfüllungsagentur. Das nehmen die Sprösslinge natürlich gerne in Anspruch. Logisch. Ihre Aufgabe ist es ja nicht, die längerfristigen Wirkungen zu bedenken.

Noch nie haben sich Eltern so sehr um die Zukunft ihres Nachwuchses gesorgt, und noch nie waren die Praxen der Therapeuten so voll mit verhaltensauffälligen Kindern.

Schulweg als Hochrisikozone

Es ist noch nicht allzu lange her, da gingen Kinder einfach zur Schule. Unterwegs trafen sie andere. Hatten sie genug Zeit, stromerten sie noch ein bisschen herum. Sie schrieben sich die Aufgaben ab, tauschten Sportresultate oder Geheimnisse aus, fanden ein tote Maus oder eine Münze und überlegten, wem sie gehören und was man damit machen könnte (also mit der Münze natürlich, nicht mit Maus), passten aufeinander auf – die Älteren auf die Jüngeren – oder unterstützten den Freund, der noch eine Rechnung offen hatte mit einem von der anderen Schule. Man traf sich hinter der Schule auf oder bei der Kletterstange (die mittlerweile aus Sicherheitsgründen überall demontiert wurde) oder rannte auf dem Pausenplatz irgendeinem Ball nach. Der Rückweg verlief ähnlich, das Abschreiben der Aufgaben fiel weg, dafür war mehr Zeit, diesen oder jenen Umweg zu machen, um irgendetwas anzuschauen, was irgendjemand gesehen hatte. Und mit zunehmendem Alter führte der Weg dann «zufälligerweise» immer auch wieder am Haus des Schulschwarms vorbei. Man konnte sich dann auch ein bisschen nützlich machen – die Tasche tragen oder bei schlechtem Wetter den Schirm halten. Apropos schlechtes Wetter: Das hatte nur insofern Einfluss auf den Schulweg, als man sich einfach anders anzog und sich ein bisschen mehr beeilte. Eltern waren weit und breit keine zu erkennen. Man war unter sich, nutzte und genoss den Autonomiespielraum.


Kinderfalle Elterntaxi

Anteil verunglückter Kinder …


Quelle: Auto Club Europa

Tempi passati. Heute gelten Kinder als dauergefährdet. Deshalb lauert hinter jedem Busch die Pädagogik und der Schulweg wurde zur Hochrisikozone deklariert.

Wer als Kind noch zu Fuss zur Schule geht, wird in geschlossener Marschkolonne von leuchtbewesteten Elternsoldaten über den Fussgängerstreifen gelotst und entlang gesicherten Routen mit allen Mitteln der Technik überwacht.

Aber die Zahl der Kinder, die den Schulweg per pedes zurücklegt, wird ohnehin immer kleiner. Auch das Fahrrad ist für diesen Zweck aus der Mode gekommen, da man während dieser Zeit das Handy nicht nutzen kann. Das ist statistisch interessant: Die Zahl der Stürze und Blessuren ist gesunken. Sie waren zwar schon vorher nicht allzu zahlreich. Aber immerhin: ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein Riesenschritt für die Verkehrssicherheit auf dem Schulweg. Aber dabei wollte man es natürlich nicht bewenden lassen. Deshalb werden heutzutage immer mehr Kinder und Jugendliche auf vier Rädern zur Schule gekarrt. Entweder nehmen sie den Schulbus oder das Elterntaxi. Das ist natürlich wesentlich bequemer – wobei das Elterntaxi im Rennen um den Komfortpreis deutlich vorne liegt. Das macht es für Kinder so beliebt. Und den Eltern vermittelt es im Hamsterrad der ewigen Sorge über das mögliche Kataströphchen das Gefühl, wichtig und wertvoll zu sein.

Das Problem ist: Es wird zum Problem. Einerseits kommen die Schulen mit diesem Pendlerverkehr nicht mehr klar. Schulen haben ihren Standort normalerweise nicht an den verkehrsgünstigsten Punkten. Deshalb kämpfen dann unmittelbar vor Unterrichtsbeginn die Eltern um die beste Anhaltemöglichkeit möglichst direkt unter dem Vordach des Eingangs. Und wenn die Eingänge etwas breiter gebaut wären, würde man die Sprösslinge direkt vor das Klassenzimmer karren. Der Schulweg ist zum Objekt elterlicher Unentbehrlichkeit deklariert worden. Da werden Mütter zu Hyänen. Wenn es nicht zum Weinen wäre, wäre es zum Lachen.

Freundliche Briefe der Schulbehörden an die Eltern, sie möchten doch diese zum Teil gesetzeswidrige Unsitte sein lassen, gehen denen am Allerwertesten vorbei. Vielleicht fühlen sie sich durch das Quängeln und Drängeln ihrer Sprösslinge («Alle anderen müssen auch nicht zu Fuss gehen …») unter Druck gesetzt. Wie auch immer: Wer einen Ort sehen will, an dem der gesunde Menschenverstand vollständig ausser Kraft gesetzt worden ist, der stelle sich morgens vor eine Schule und schaue dem irren Treiben zu. Da die Appelle an die Eltern wirkungslos verpuffen, fühlten sich mancherorts die Gegner des Elterntaxiunwesens bemüssigt, Kampfmassnahmen zu ergreifen. Sie errichteten Sperrkordons, verteilten Warnungen oder denunzierten die aus ihrer Sicht fehlbaren Eltern mit Fotos bei der Polizei. Und wohlverstanden: Es geht eigentlich nur um den Schulweg der Kinder. Den haben sich die Eltern – und in deren Gefolge die Behörden – zur Beute gemacht.

Drive Through Parenting

Ein Ziel der Erziehung bestünde ja eigentlich darin, Kinder von der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit zu führen. Das bezieht sich logischerweise nicht nur auf den Schulweg. Aber er ist zu einem anschaulichen Beispiel für das genaue Gegenteil geworden. Und zu einem Beispiel, wie die Welt und ihre Realitäten den Kindern vorenthalten werden. Zur Illustration: In einem Interview wird eine Mutter gefragt, weshalb sie denn ihren (halbwüchsigen) Sohn mit dem Auto zu Schule bringe. Ihre Antwort: «Aber es regnet doch!» Nein so was, es regnet. JA UND!?

Da werden also Kinder unter Missachtung von Vorschriften und unter Ausschaltung von Vernunft und Verantwortung aus der heimischen Garage direkt zum Schuleingang gefahren. Dort hüpfen sie nach noch zwei, drei Schritten ins Gebäude hinein.

Die wissen nicht einmal, wie das Wetter ist. Und: Die Notwendigkeit, sich zu bewegen, beschränkt sich auf das Ein- und Aussteigen. Aber da wird es für die weichgespülte Jugend sicher bald technische Hilfen geben, damit auch das nicht mehr so verdammt anstrengend ist. Die Drive-through-Schule vielleicht, man kann ja schliesslich auch sein Auto waschen, Fastfood holen oder heiraten, ohne aus dem Auto aussteigen zu müssen. Wie heisst es doch so schön: Rausgehen ist wie Fenster aufmachen, nur krasser.

Immerhin: Die Pupillen bewegen sich

Zu keiner Zeit haben so viele Menschen so viel Zeit vor Bildschirmen verbracht. Wäre auch nicht so einfach möglich, denn das Phänomen ist relativ neu. Handys kennen wir in der heutigen Verbreitung erst seit einem Jahrzehnt. Innerhalb dieser kurzen Zeitspanne hat die Digitalisierung das Leben von vielen Menschen kolossal umgekrempelt. Und wie bei so vielem gilt: Die Dosis macht das Gift.


Siebeneinhalb Stunden verbringt ein Jugendlicher täglich vor dem Bildschirm.8 Siebeneinhalb Stunden! Pro Tag! Das heisst: Das Einzige, was sich während dieser Zeit bewegt, sind die Pupillen und der Klickfinger.

Innerhalb von nicht einmal einer Generation hat sich der Tagesrhythmus der (jungen) Menschen in radikaler Weise verändert. Denn der Tag hat ja nach wie vor nur vierundzwanzig Stunden. Die Zeit, die vor dem Bildschirm verbracht wird, kommt also nicht dazu – sie geht von etwas anderem weg. Und von was geht sie weg? Meist vom Schlaf. Und von der Bewegung. Das heisst: Bildschirme sind absolute Bewegungskiller. Sie verändern die Menschen psychisch und physisch. Und der Bezug zur realen Welt geht erst recht verloren. Denn der Mensch ist ein «Bewegungstier». Sein Körper ist konstruiert, um sich auf zwei Beinen zu bewegen. Aufrecht. Dem steht die Bildschirmnutzung aber im Wege. Oder vielleicht besser: Sie liegt. Oder noch besser: Sie lümmelt. Das ist nämlich die bevorzugte Position bei längerem Mediengebrauch: eine sonderbare Mischung aus Liegen und Sitzen, in Kombination mit einer ebenso sonderbaren Mischung aus Angespanntheit und Dösen. Es hat so etwas in sich Zusammengefallenes. Und das über Stunden. Mit einem Körper, der eigentlich für etwas komplett Anderes gebaut ist. Kein Wunder, verkümmern die motorischen Fähigkeiten beim Surfen und Chatten zusehends. Da nützt es auch nichts, vor dem Bildschirm die Sportschuhe anzuziehen oder ein Shirt von Manchester United überzustreifen.

Die ungesunde Ablagerung des Körpers vor dem Bildschirm wird noch zusätzlich belastet durch die ebenso ungesunde, aber dafür bildschirmkompatible Ernährung. Folge: epidemische Adipositas. Das heisst: Kinder werden immer dicker. Es ist eine gesellschaftliche Entwicklung, die buchstäblich in die Breite geht. Aber die querschlanken Jugendlichen dominieren nicht nur das Strassenbild, sie bevölkern auch die Arztpraxen. Mit einer Krankheit, von der bis vor einigen Jahren vornehmlich ältere Menschen betroffen waren: Diabetes. Die «Zuckerkrankheit», wie sie auch genannt wird, ist mittlerweile die häufigste Stoffwechselerkrankung bei Kindern. Rund 30 000 Heranwachsende leiden in Deutschland darunter. Die Neuerkrankungen steigen jährlich je nach Quelle um zwei bis vier Prozent. Will heissen: Das dicke Ende kommt also noch. Den Körper hat der Bildschirm also bereits gebodigt. Aber er setzt auch zunehmend den Geist matt.

Das Suchtpotenzial ist nämlich enorm hoch. Vor gut sieben Jahren präsentierte der mittlerweile verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs der Welt das iPad. Es sei die faszinierendste Möglichkeit, Fotos und Filme anzuschauen, Musik zu hören, auf Facebook zu surfen und Spiele zu spielen, pries er seine neue Erfindung. Jeder Mensch, so Jobs, sollte ein solches Gerät besitzen. Seine eigenen Kinder allerdings mussten darauf verzichten. Und er war nicht der einzige Medienmogul, der seine eigene Familie weitgehend von der berauschenden Welt der neuen Devices abschirmte. Warum? Der amerikanische Psychologieprofessor Adam Alter9 hat sich mit solchen und ähnlichen Fragen rund um den Medienkonsum auseinandergesetzt und einen Bestseller lanciert. Die Gründer, Designer und Entwickler gehen kritisch mit dem um, womit sie ihr vieles Geld verdienen. Als Produzenten neuer Technologien orientierten sie sich an der alten Drogendealerregel «never get high on your own supply» – also berausche dich niemals an deiner eigenen Ware. Das müssen sie auch nicht, es gibt zwischenzeitlich genug andere Abhängige. Adam Alter spricht von einer Verhaltenssucht (behavioral addiction), die sich nicht mehr mit den klassischen stoffgebundenen Abhängigkeiten vergleichen lasse. Der enorme Zeitanteil, den die Menschen in virtuellen Welten verbringen, entfernt sie unweigerlich von dem, worauf es eigentlich ankäme: Wie entsteht Lebenssinn und wie lässt er sich durch Krisen hindurch aufrechterhalten? Wie lernen Kinder, mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen? Wie bauen sie Widerstandskräfte auf, Kohärenzgefühl und Resilienz? Kurz: Wie werden sie fit für ihr Leben? Das lernt man ebenso wenig in virtuellen Welten, wie man dort schwimmen lernt.

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