Kitabı oku: «Tatort Gemeindebau», sayfa 3
Erwin Riess
Brief an einen Floridsdorfer im Exil
Lieber Freund!
Wundere Dich nicht über diesen Brief, nimm ihn als schicksalhaftes Ereignis. Vor langer Zeit, im Winter und Frühling 1976, waren wir Bettnachbarn in der Neurologie des Alten AKH, diesem düsteren Bau, den einige Patienten überlebten, allerdings mit schweren seelischen Schäden. Du erinnerst Dich an den schmächtigen Jungen mit der Vorliebe für Binnenschiffe und Otis Redding. Mittlerweile bin ich nicht mehr schmächtig und fahre im Rollstuhl. Otis Redding liebe ich nach wie vor. All die Jahre habe ich mich gefragt, was aus Dir geworden ist. Nach den vielen Wochen im Krankenhaus haben wir uns nicht mehr gesehen, Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Niemand wusste, wo Du Dich herumtreibst, ob Du überhaupt noch in Österreich bist. Die Nachbarn aus Eurem Gemeindebau waren ratlos. Deine Mutter war verzweifelt, zumindest schien es so. Ich wohne nun schon viele Jahre in der Nähe Deiner alten Wohnung in Stammersdorf. Sehr selten ist in den Heurigen der Umgebung noch von Dir die Rede.
Neulich habe ich beim Binder-Heurigen einen pensionierten Erdölingenieur kennengelernt, der in seiner Jugend bei einer kanadischen Firma namens van Sickle arbeitete, einer Pionierin der Erdölwirtschaft in Osteuropa und Österreich. Die van Sickles waren die Ersten, die noch vor dem ersten Krieg in Rumänien Öl erbohrten, und auch in Österreich waren sie Anfang der Dreißigerjahre in der Prospektion erfolgreich. Es war der alte Ingenieur, durch den ich auf Deine Spur gekommen bin.
Die van Sickles mussten vor den Nazi nach England flüchten, ihre Fabrik wurde von den Deutschen beschlagnahmt. Die Kampfflieger der deutschen Luftwaffe, die ihre Bomben über dem Zentrum Londons abluden, wo die van Sickles lebten, waren mit Sprit aus dem in Österreich geraubten Erdöl der van Sickles unterwegs. Nach dem Krieg kam die Familie zurück und führte die Firma weiter. Irgendwann in den späten Siebzigerjahren, der Zeit, in der wir beide im Spital lagen, ging die Firma im Konzern der staatlichen ÖMV auf.
Lieber Karl!
Du fragst Dich, was das alles mit Dir zu tun hat. Lies weiter, Du wirst staunen. Der besagte Ingenieur hatte über die van Sickles Kontakte nach Kanada und war auch immer wieder beim kanadischen Teil der Familie in Ontario zu Gast. Eines Tages besuchte er jenseits der Grenze zu den nahen USA ein Autorennen im entlegensten Nest, das je Formel-1-Rennen gesehen hat, in Watkins Glen an den Finger Lakes im gleichnamigen Nationalpark in Upstate New York. Als der Ingenieur die Finger Lakes erwähnte, fiel bei mir der Groschen. An den Finger Lakes, so hattest du in den endlosen Spitalnächten erzählt, wächst nicht nur akzeptabler Wein, es gibt dort auch tiefe Wälder, in denen Du in den Sechziger- und Siebzigerjahren wie ein Indianer wochenlang im Wald unterwegs warst, mit Pfeil und Bogen, einem Bowie-Knife und einem Schlafsack. Du warst ja nach dem Staatsvertrag ausgewandert, die alten und jungen Nazi kriechen wieder aus ihren Löchern, hattest Du gesagt, ich mag diese Bande nicht triumphieren sehen, lieber geh ich nach Amerika. Du warst nur der Operation wegen nach Wien zurückgekehrt, in den Staaten warst Du nicht versichert. Du warst damals Partner in einer Garage in Arlington, dem Heimatort Franklin und Eleanor Roosevelts, die beiden hatten dort ein Landhaus oberhalb des Hudson River bewohnt. Woody Guthrie wurde von den Roosevelts dorthin eingeladen, er bekam den Auftrag, einen Song zu schreiben, der den Eintritt in den Krieg gegen Nazi-Deutschland populär machen sollte, ein Vorhaben, das damals in den USA auf großen Widerstand nicht nur der Nazi-Anhänger um Walt Disney, Joseph L. Kennedy (Vater von John F. und Robert), des Zeitungsmagnaten Randolph Hearst und des glühenden Antisemiten Henry Ford stieß. Charlie Chaplin setzte sich für den Kriegseintritt ebenso ein wie die gesamte Linke und Teile der Großbourgeoisie. Und der kommunistische Wandersänger Guthrie, der nicht in Konzerthallen, sondern vor den Orangen- und Zitronenpflückern Kaliforniens auftrat, welche unter sklavenartigen Bedingungen unter Wachtürmen und Stacheldraht lebten, sollte den Song für den Kriegseintritt liefern. Ein talentierter Bursche aus Duluth am Oberen See, Sohn jüdisch deutscher Einwanderer, pilgerte 1961 zum kranken Woody in die psychiatrische Klinik. Und der große alte Mann der Folkmusik spielte dem grünen Jungen den Song, den Franklin Delano Roosevelt bei ihm bestellt hatte, vor. Bob Dylan passte gut auf. In »Song for Woody« und dem späteren »Masters of War« findet sich der Song verewigt. Dass Guthries Kriegslied nicht populär wurde, hing damit zusammen, dass man es nicht mehr benötigte. Die Antwort auf die Frage des amerikanischen Kriegseintritts hatten die Japaner mit ihrem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 geliefert.
Du siehst, Deine politischen Schulungsmaßnahmen waren bei mir nicht erfolglos. Bären sind dort oben eine Landplage, pflegtest Du auch zu sagen. Wie die Biber am Marchfeldkanal, könnte ich heute ergänzen. Aber zu Deiner Zeit gab es in Floridsdorf noch keinen Marchfeldkanal und keine Biber. Angeblich hast Du an einem dunklen Tag in den tiefen Wäldern der Finger Lakes zwei Jungbären erschossen, aus Notwehr. Ich glaube, mit einem einzigen Schuss. Die Geschichte war zu gut, um Zweifel aufkommen zu lassen. Diese Leidenschaft hat mich nicht verlassen, alter Freund. Ist eine Story gut, lasse ich mir auch heute noch gern einen Bären aufbinden. Aber den Verstand schalte ich dabei nicht aus. Das ist auch der Grund, warum ich Dir diesen Freundschaftsgruß sende.
Lieber Karl,
Du bist in der Josef-Flandorfer-Straße in Wien-Stammersdorf, dem schönsten Teil von Floridsdorf, aufgewachsen. Eure winzige Wohnung im Gemeindebau aus den Fünfzigerjahren lag neben der Wendestelle des 31ers, der Tramway zu den Heurigen Stammersdorfs. Das Grölen der Betrunkenen und das Quietschen der Straßenbahn wiegten dich in den Schlaf. Von einem Vater hast Du nie erzählt, ich glaube, Deine Mutter war schon sehr früh Alleinerzieherin. Als ich Dich 1976 im AKH kennenlernte, besuchte sie uns jedes Wochenende, werktags arbeitete sie als Putzfrau in Arztpraxen und bei einem Rechtsanwalt, der für die FPÖ im Parlament saß und ehemaliger SS-Flieger der Legion Condor war, die Guernica dem Erdboden gleichgemacht hat. Immer brachte sie Obst und Zeitungen mit, manchmal war eine New York Times dabei, und ich habe mich gefragt, wo man die in Stammersdorf kaufen konnte. Ich erinnere mich an eine kleine, wieselflinke Frau mit sprödem Charme, die ihren Karli abgöttisch liebte.
Du hattest in der ÖMV gelernt, Erdöltechniker. Ein schöner, ein großartiger Beruf. Bevor Du Mitte der Sechzigerjahre ins Land der brave and free abtschapiert bist, hast Du noch viel Zeit auf den Förderstätten des Weinviertels zugebracht. Was Du mir in langen Nächten in dem Sechzehn-Betten-Saal erzähltest, als wir beide nicht schlafen konnten, Du wegen der Schmerzen nach der gescheiterten Bandscheibenoperation, ich wegen der Schmerzen nach meiner ersten Operation an einem Rückenmarkstumor, habe ich nicht vergessen. Der Achtunddreißigjährige und der Achtzehnjährige redeten sich die Welt nicht schön, wir redeten sie uns erträglich. Gute Erzählungen habe ich damals schon geschätzt, und Deine waren ebenso gut wie die Kurzgeschichten von Hemingway und Faulkner, die ich damals las.
Du erinnerst Dich an den Weinhauer aus Gösing am Wagram, mit »Ich komme aus Gösing und heiße Kögl, das merkt man sich leicht« hatte er sich vorgestellt. Ein vierschrötiger Mensch, voll Lebenslust und Tatendrang. In ein paar Tagen bin ich wieder im Weingarten, hatte er trotzig hinzugesetzt. Nach der ersten Kopfoperation fehlte ihm der halbe Schädelknochen. Nach der zweiten konnte er nur mehr lallen und lag im Bett. Die dritte hat er nicht überlebt. Am Tag vor der letzten Operation stand seine Familie mit der apfelgesichtigen Frau und den vier vom Donner gerührten Kindern um das Bett des Vaters, dessen weit aufgerissene Augen ein einziger stummer Schrei des Entsetzens waren. Das alles geschah in einem halben Jahr, ich lag ja Monate auf der Neurologie, und bei Dir war es auch nicht viel kürzer. Damals hat man die Kranken der Welt entzogen, mehrmonatige Aufenthalte waren im Alten AKH die Norm. Jetzt wirft man akutkranke Patienten nach ein paar Stunden aus den Spitälern, sie sollen schauen, wie sie allein zurechtkommen. Krankenhäuser sind für Ärzte und Pflegepersonal da, Patienten stören den Betrieb.
Du erinnerst Dich sicher auch noch an den seltsamen Vogel mit Tiroler Dialekt, ein Schiffsingenieur, der auf Riesentankern zwischen dem Persischen Golf und Rotterdam unterwegs war, rund um Afrika, denn für den Suezkanal waren die Pötte zu groß. Er hatte eine verstopfte Halsschlagader und redete manchmal wirr. Als der Tross der Visite einmal bei ihm hielt und der junge Primar Heiss ihn nach seinem Befinden fragte, stand der Tiroler stramm neben seinem Bett und antwortete: »Herr Doktor, ich rate Ihnen zu einem Opel Commodore, der verfügt über ein ausgezeichnetes Hängevermögen. Ich bin im Ötztal einmal mit einem Commodore in einen steilen Wald gestürzt und dort in den Baumwipfeln hängengeblieben, unverletzt. Und das gedenke ich auch zu bleiben!«
Und dann war da noch der Barmixer vom Hilton-Hotel, ein Burgenländer namens Pinter, gutaussehend, er wäre als Zwilling von Alain Delon durchgegangen. Auch er mit einem Tumor im Kopf, auch er nach einem halben Jahr tot. Hier herrscht Krieg, wir sind in einem Frontlazarett, hast Du gesagt. Überleben, Kollege, überleben! Darum geht’s hier. Vergiss alles andere!
Lieber Karl,
kommen wir zur Sache. Ich möchte Dir von einer Mordserie erzählen, die sich Ende der Siebzigerjahre in meinem Gemeindebau mit seinen fünftausend Leuten ereignet hat. Wie Du ja aus eigenem Erleben weißt, sind Gemeindebauten eine Welt für sich, es verwundert also nicht, dass die Mordserie nie aufgeklärt wurde, obwohl damals auch zwei Kriminalbeamte ums Leben kamen, die ebenfalls im Gemeindebau wohnten. Dann erwischte es noch einen Finanzprüfer, den hat eine Giftschlange hinweggerafft, bedenke: eine Giftschlange in Floridsdorf! Und dann war da noch der Mord an einem bekannten Floridsdorfer Spediteur, welcher über eine beeindruckend große Sattelschlepper-Flotte gebot, die er mit illegalen und ausgebeuteten Chauffeuren aus dem Osten betrieb. Der Mann parkte seinen kanarigelben Ferrari vor den Heurigen und sonnte sich in der Aufmerksamkeit der Gäste. Ein eitler und primitiver Charakter.
Wirtschaftskammer, Gewerkschaft und Polizei waren von ihm bestochen; das ging über Spenden für den Verein der Freunde der Wiener Polizei, den Sportverein Handelsministerium und den Stipendienfonds des ÖGB, der aus den Spenden Mini-Stipendien an Studenten ausschüttete. Ich weiß das, denn ich habe damals von besagtem Leopold-Böhm-Fonds fünfhundert Schilling Jahresstipendium bekommen. Mein Heimplatz kostete das Dreifache, aber monatlich. Wahrscheinlich wäre mehr Geld zur Verfügung gestanden, aber Österreichs Spitzengewerkschafter haben ja auch ihre Bedürfnisse, das wissen wir von den Herren Verzetnitsch, der sich ein Penthouse im ersten Bezirk organisierte, und Flöttl junior, der eine Insel auf den Bermudas sein Eigen nannte und den Streikfonds von drei Generationen, die BAWAG-Bank, in den Sand setzte – und bei dem niemand nachfragte, wo die Milliarden geblieben waren. Ich bin sicher, Du hättest nachgefragt und Du hättest Dich nicht mit Ausreden abspeisen lassen.
Eingangs erwähnte ich den Erdölingenieur von van Sickle. Er erzählte mir von einem erbitterten Verdrängungswettbewerb zwischen »unserem« Spediteur und einem aus dem neunten Bezirk. Die beiden ließen nichts unversucht, dem anderen zu schaden, es hagelte Anzeigen und Sabotageakte, einige Zugmaschinen wurden auf entlegenen Parkplätzen abgefackelt.
Du hast schon als Bub immer etwas dazuverdient, auch das hab ich nicht vergessen. Als Kegelaufsteller, Weingartenhelfer, Beerenpflücker. Bei Deiner Mutter und Dir war Schmalhans Küchenmeister.
Das Seltsame an der Mordserie war die angewandte Technik. Ein Pfeil ins Herz, durchschnittene Kehlen bei den beiden Kriminalbeamten, ein vom Schlangengift getöteter Finanzbeamter. Und der Spediteur wurde an einer Plakatwand angenagelt wie Jesus Christus, allerdings dürfte er da schon tot gewesen sein, auch seine Kehle war durchschnitten. Das Plakat, an dem er hing, zeigte einen Truck, er warb für das Speditionsgewerbe. Wir bringen, was Sie täglich brauchen.
In unserem friedlichen Bezirk ereignen sich zwar immer wieder Morde, es gibt dafür aber hinreichende Erklärungen. Die meisten spielen sich im Familienkreis ab und sind Produkte drückenden Geldmangels oder häuslicher Meinungsverschiedenheiten über die Schärfe eines Gulaschs. Manchmal wird auch das Erscheinen neuer Sexualpartner in abgestorbenen Beziehungen durch klassische Eifersuchtsmorde quittiert. Erweiterte Suizide kommen bei uns selten vor, auch die Unterweltler im Bezirk haben Manieren und Herzensbildung.
Vor den geschilderten Gewalttaten verzeichneten wir Morde im Milieu von Berufsspielern, illegalen Waffenhändlern aus dem Kaukasus und dem ehemaligen Jugoslawien sowie der florierenden Geheimprostitution. So erwischte den »schönen Rudolf«, einen Stoßspieler und Peitscherlbub von Rang, auf dem Nachhauseweg in den Gemeindebau ein Messer. Ein Beziehungsstreit zwischen einer älteren Prostituierten und ihrem Zuhälter fand in der Brünner Straße sein Ende, als der Mann vor einer Ampel anhielt, eine Pumpgun aus dem Kofferraum des Fünfhunderter Mercedes holte und seine Mitarbeiterin durch das Seitenfenster erschoss. Dann setzte der Mann sich auf den Fahrersitz und schoss sich den Kopf vom Rumpf. All das waren bedauerliche Zwischenfälle, das soziale Leben im Grätzel vermochten sie aber nicht zu stören. Man wusste vom jeweiligen Hintergrund der Bluttaten und fühlte sich, da nicht betroffen, in Sicherheit. Einzig der Mord an einem Tankwart hatte in den Neunzigerjahren für Beunruhigung in den Gemeindebauten gesorgt. Es war damals die Zeit nach dem Kollaps der sozialistischen Staaten und man vermutete, dass ein Durchreisender seinen Geldbedarf auf diese Weise gedeckt hatte.
Caro mio!
Im Falle eines Mordes ist grundsätzlich das Motiv entscheidend. Wenn man das Motiv kennt, verliert ein Mord seinen Schrecken und wird Teil des Alltags – wie ein manipulierter Durchlauferhitzer, eine Massenschlägerei bei den Proben der Faschingsgilde, ein ausgelaufener Kühlschrank oder ein Behördenbrief, der zum Antritt einer Haftstrafe auffordert.
Zurück zur Mordserie: Man vermutet, dass die beiden Kriminalbeamten und der Finanzprüfer mit dem Floridsdorfer Spediteur gemeinsame Sache machten, das würde auch die zeitliche und technische Seite ihres Hinscheidens erklären.
Als die Morde geschahen, lag ich noch im Krankenhaus, Du warst ein paar Wochen vor mir entlassen worden und musstest mit einer hohen Honorarforderung rechnen. Ich kenne Dein Faible für abgekürzte Wege in Lebenskrisen und Behördenverfahren, schon als Dreizehnjähriger hast Du einen brutalen und aufsässigen Fußballtrainer in einen Weinkeller voller Gärgase gesperrt, man nannte das damals einen Unfall. Wir beide wissen es besser, lieber Karl.
Wie gesagt, Motive sind bei Morden entscheidend. Lass mich daher die folgende Schlussfolgerung formulieren. Ich denke, dass Du Dich mit dem Spediteurskonkurrenten im neunten Bezirk in Verbindung gesetzt hast und ihm bei der Lösung des Geschäftsstreits zur Hand gegangen bist, mit Deinen eigenwilligen Methoden. Die drei Mithelfer musstest Du auch behandeln, anders ging es nicht. Mit dem Honorar wirst Du wohl Deiner Mutter geholfen haben, und Deine Garage in Upstate New York konnte auch eine Renovierung gebrauchen. Ich zweifle aber, dass Du die Spitalskosten nachgezahlt hast. Das würde mich doch sehr wundern.
Mittlerweile ist über die Sache längst Gras gewachsen, Präriegras, wie ich meine. Ich hoffe sehr, dass es Dir in Deiner neuen Heimat gut geht. Bei uns entwickeln sich gerade die Vorboten einer neuen großen Zeit, wie Karl Kraus die Kriegszeit nannte, aber davon seid Ihr in den USA ja auch nicht gefeit, wenn ich mir Eure Präsidentschaftskandidaten anschaue. Ich glaube nicht, dass ich je nach Upstate New York komme, aber jedes Jahr besuche ich meinen Freund Mister Giordano in New York. Seine »Mulberry Street Bar« in Little Italy führt jetzt sein Sohn Larry, ein patenter Kerl. Für mich ist dort immer ein Platz reserviert, vis-à-vis vom Eingang, der Tisch unter dem Wandgemälde. Dort könnten wir uns treffen. Du brauchst nur meinen Namen zu sagen, die Leute dort wissen, wann ich komme. Einundzwanzig Uhr würde gut passen. Aber nimm Dir nachher nichts vor. Wir haben einander viel zu erzählen.
Mit den besten Grüßen aus dem friedlichen Floridsdorf!
Dein alter Freund aus dem Gemeindebau
Groll
Reinhardt Badegruber
Nackt und rasiert
Von todbringenden Kellerkratzern, Mannlichern und Mauerpeckern im Karl-Marx-Hof
Seit zwei Wochen lebte Gruppeninspektor Frank Karl im Karl-Marx-Hof in Döbling, und zwar »undercover«. Der Polizeipräsident hatte ihm persönlich eine Legende auf den Leib geschrieben: Der Schellhammer-Ferdl wäre auf Urlaub. Einen Monat Malediven. Und er, der Frank Karl, solle nun in die Zimmer-Kabinett-Gang-Wohnung ziehen, um die Blumen zu gießen. »Du bist ein Unpolitischer«, hatte ihn der Polizeipräsident gepflanzt, »und der Karl-Marx-Hof ist so etwas wie der Vatikan der Sozialdemokratie. Als ideologisch unbeschriebenes Blatt (was aus dem Mund des Polizeipräsidenten eine boshafte Umschreibung für »unbedarften Trottel« war) bist du also der Richtige, um jene Rowdies zu stellen, die seit Monaten im Keller des Gemeindebaus ihren Vandalismus ausleben.« Frank Karl hatte von diesen »Kellerkratzern« gehört. Das waren Mauerpecker, die aus einer unverständlichen Motivation heraus Löcher in den Verputz der Gemeindebauten schlugen. Soll sich doch das Bezirkskommissariat um die Gruftieszene kümmern und ihn aus dem Kraut lassen. Aber nein, der Big Boss persönlich bestand darauf, dass er dem Schellhammer-Ferdl seine Blumen gösse. Er brauche bloß undercover einzuziehen und die Augen offenzuhalten.
***
Das sogenannte »Schellhammer-Appartement« im Karl-Marx-Hof hatte den Komfort eines Besenkammerls, weil das »Arbeiterversailles« zwischen 1926 bis 1930 errichtet worden war. Zwar verfügte jede der tausend Wohnungen über Fließwasser, was in der Ersten Republik eine Sensation gewesen war, aber an ein eigenes Badezimmer wagte damals noch niemand zu denken. Also hatten die Eltern des Schellhammer-Ferdls nachträglich eine Duschkabine installiert, was zur Folge hatte, dass fünfunddreißig Jahre später der Wohlstandsbauch des Gruppeninspektors Frank Karl in der Glasschiebetür des besagten Heimwerkertröpferlbads stecken blieb. Um sich aus der Klemme zu quetschen, gab sich der Frank Karl einen Ruck, weshalb seine Füße auf dem Duschschüsselboden ins Schlittern kamen. Er ruderte mit den Armen, umklammerte die Glaswand, bis sie knirschte. Plötzlich der Knall. Die Scheibe splitterte und der Gruppeninspektor hatte einen Glaszacken in der Bauchdecke stecken. Wie eine Sau blutend stürzte er hinaus auf den Gang und quietschte: »Hilfe, i verbliat!«1 Die Nachbarin, die die Wohnung unter ihm hatte, kam über die Stiege gekeucht, klatschte sich die Hände an die Stirn und schrie: »Jessas, a nackter Mann!« Dann zog sie den Verwundeten in ihre Wohnung, warf den Gruppeninspektor wie ein Vergewaltigungsopfer auf die Couch, zog den Glassplitter aus dem Bauch und tupfte mit einem Küchentuch Jod an die Wunde. Frank Karl wimmerte. »Na, na, an so einem Kratzer stirbt man nicht gleich«, gurrte sie und schaute besorgt auf den Bauchnabel, wobei es Frank Karl schien, dass es ihre Augen mehr auf seinen Schwanz als auf sonst was abgesehen hatten. Jetzt zog die Frau ihre Hand zurück und streifte rein zufällig die Spitze seiner Eichel. Die Augenbrauen des Gruppeninspektors zuckten in die Höhe. Er seufzte. Die Frau jagte ihm Angst ein.
»Sie brauchen sich nicht zu fürchten. I hab Praxis im Umgang mit verwundeten Männern. Mein Mann, der Christian, war zuerst ein Raafer2 im Prater und dann Aussischmeißer3 in einer Bar am Gürtel. Er hat sozusagen sein Hobby zum Beruf gmacht. Also bin i a perfekte Krankenschwester wordn. Des hat bei uns in der Familie Tradition. Meine Mutter ist Ärztin und meine Großmutter hat die Verwundeten des Vierunddreißigerjahres4 verbunden.«
Zwanzig Minuten später war die Mutter der jungen Nachbarin da. Sie stellte sich auch artig vor: »Doktor Apsdor«. Und ohne Übergang: »Hat Ihnen meine Tochter einen Feitl in den Bauch gejagt? Habts einen Joint zu viel geraucht? Sind Sie der neue Lover von der Monika?« Nach einem abschätzigen Blick auf seinen Penis gab sie sich selbst die Antwort: »Na ja, könnte durchaus der Fall sein. Zuletzt soll sie sich ja sogar mit einem Kieberer eingelassen haben.« Die Ärztin schaute Frank Karl scharf ins Gesicht: »Sie sind aber kein Kieberer?« Frank Karl errötete. Dann haute sie ihm ein Jaukerl5 in die Bauchdecke. Der Gruppeninspektor schrie: »Au!« »Der Christian«, fuhr die Ärztin ungerührt fort, »der Mann meiner Tochter, ist eine verkrachte Existenz, ein Nichtsnutz aus Oberdöbling6. Schon meine Mutter hat gesagt, Kind, lass die Finger von so einem Filou aus der Cottage7. Von dort kommt nämlich nichts Guats. Sie musste es wissen, weil ja auch mein Vater so ein versnobter Bonvivant war, der zuerst meine Mutter geschwängert und sich dann aus dem Staub gemacht hat.« Frank Karl schrie auf, als die Ärztin die Nähnadel ansetzte. »Pscht!«, zischte sie. Und an die Tochter gewandt: »Sag deinem Burschi, er soll net so schreien, weil wir sind ja net beim Vögeln.« Dann setzte sie ungerührt ihre Familiengeschichte fort: »Die Gspritzten aus den Herrschaftsvillen haben seit jeher auf uns herabgeblickt. Aber dann haben s’ gschaut, im Sechsundzwanzigerjahr. Weil wir was aufbaut haben. Einen Karl-Marx-Hof mit tausend Wohnungen. Mehr Einwohner als Eisenstadt. Da waren die dreihundertsieben Zimmer in Schönbrunn a Schaß dagegen. ›Eine Trutzburg‹, haben s’ gsagt. Die haben sich direkt gfiacht8. I glaub, ein bisserl Sexualneid war bei de Bürgerlichen a dabei. Die waren ja durch und durch verklemmt. Bis sich so a Tussi auszogen hat, mit ihre fünf Schichten Bluserl, Rüscherl, Rockerl und Negligé, is dem Buderanten9 schon wieder alles vergangen. Diese gspritzten Weiber haben selbstbewusste Frauen wie meine Mutter gehasst, … bis zum Gehtnimmer. Weil die haben ganz genau gewusst, dass ihre Mauna (Männer) die Nudistinnen vom Gemeindebau gerne budert hätten. De san so richtig geil gwen auf knackige Proletenhintern und meiner Mutter dauernd nachgstiegen. Mit lauter Schmäh. Wollen S’ net bei uns a bisserl im Haushalt aushelfen? Fürs Putzen zahl i gut. Aber nix da, revolutionäre Sozialistinnen waren viel zu stolz, um sich mit so an parfümierten Affen einzulassen. Bis so a blasierter Trottel meiner Mutter einmal gsagt hat: Sexualität ist das Kino des kleinen Mannes. Leider war das Arschloch ein echter Feschi10. Er hat meiner Mutter gefallen. Sie hat daher meinem nachmaligen Vater ihren Busen gezeigt, … unter einem Gebüsch auf dem Überschwemmungsgebiet. Ihre Bauchdecke war stramm, die Wade hart, ihr Körper durch Arbeit gestählt. Das sind die Lichtspiele des kleinen Mannes, hat sie gesagt. Für sie war das ein Sieg über die Finsternis, denn die Bürgerlichen haben es ja nur unter der Tuchent getrieben. Wie dann meine Mutter schwanger gwesen ist, hat der reiche Gimpel von ihr nichts mehr wissen wollen. Lang hat er aber eh nimmer gelebt, weil mit dem Hitler ist der Krieg gekommen. Der feine Herr war Reserveoffizier und musste sein Leben für Führer, Volk und Vaterland lassen, … in Russland.« »Fertig! Steh auf!«, herrschte die Ärztin den Gruppeninspektor an. »Lass dich anschauen!« Dann patschte sie ihre Hand auf seinen Arsch, dass es nur so klatschte. »Mach meiner Tochter nur ja kein Kind!«
***
»Was machst denn du da?«, stieß ihn eine Stimme von hinten an. »Hast di verirrt?« Frank Karl wirbelte herum. »Ah du bist’s«, lachte er, als er seinen Kollegen, den Armin Schubert, erkannte. »Oida11, hast du mich aber erschreckt.« »Weil ich dich erwischt hab …« »Erwischt bei was?« »Wie du in Nußdorf12 heraußt nach einem Heurigen suchst, und das in der Dienstzeit.« »Ich bin auf Recherche, und zwar undercover.« »Ha, ha, ha! Na dann«, zerstrudelte sich der Armin Schubert, »setzen wir unsere geheime Mission halt bei einem Viertel fort.« Die Kellnerin hatte die Karaffe Gemischten Satz13 noch nicht auf den Tisch des Gastgartens geknallt, als der Armin Schubert schon im verschwörerischen Ton flüsterte: »Du wohnst jetzt also im Karl-Marx-Hof?« Hoppala!, jetzt war der Karl Frank aber wirklich überrascht. Woher wusste der Armin Schubert das? »Ja«, antwortete er, »die Arschlöcher haben mich ins Rote Wien verbannt … Die Gegend muss dich doch interessieren, hat mich der Oberst Schellhammer g’häkelt. Du hast doch irgendwann einmal in deinem Leben auch ein bisserl Zeitgeschichte studiert. Stimmt, habe ich ihm geantwortet, ich bin durch sämtliche Prüfungen geflogen, und seitdem erfüllt mich alles mit Ekel, was mit Marx und Wien zu tun hat. Da hat der Oberst herzhaft glacht: Ja, i waß. In St. Marx14 haben s’ Ochsen und im Karl-Marx-Hof Arbeiter geschlachtet. Diese Geschmacklosigkeit war dann selbst dem Polizeipräsidenten zu viel. Herr Kollege, wollte er beschwichtigen, man könnte sich ja auch für den architekturgeschichtlichen Aspekt des Karl-Marx-Hofes begeistern. Da bin ich explodiert: Ich scheiß auf den architekturgeschichtlichen Aspekt, weil für die alten Stana muss doch so und so nur der Steuerzahler brennen, und die Tourismusindustrie profitiert davon. Von mir aus sollen s’ aus dem Stephansdom ein Pissoir machen, … ich hätte nichts dagegen. Nach einer Äußerung wie dieser suchen normalerweise sogar Atheisten das Weite. Schließlich hat ja jeder Wiener sein eigenes Heiligtum: die Konservativen die Habsburgerscheune in Hietzing und die Übrigen den Karl-Marx-Hof. Aber wehe dir, du brunzt gegen eine dieser Schlossmauern. Nach dieser Feststellung hat sich der Oberst halb angemacht. Auch der Polizeipräsident schien amüsiert. Köstlich, köstlich, wiederholte er. So, wie Sie sich auszudrücken pflegen, sind sie zweifelsfrei der richtige Mann für unser Anliegen.
»So war das also«, wunderte sich der Armin Schubert. Er strich sich nachdenklich über das Haar. »Jetzt wird mir einiges klar.« Und plötzlich, wie von einer Wespe gestochen, sprang er auf und starrte entsetzt auf die Uhr: »Jessas, ich muss rennen. Ich hab noch einen Termin. Komm mich besuchen. Ich hab mit dir etwas Wichtiges zu besprechen.« Und weg war er. Natürlich blieb der Frank Karl auf der Rechnung und beim Wein sitzen. Und natürlich war er zu besoffen, um drei Stunden später im Waggon der Straßenbahnlinie D einen Fahrschein zu zwicken.
***
»Fahrscheinkontrolle!«
Der Gruppeninspektor rührte sich nicht. Er schlief zusammengekauert auf den hinteren Ecksitzen, der sogenannten »Sandlerbank«.
»Ihren Fahrausweis bitte!« Das »Bitte« fiel jetzt schon etwas schärfer aus. »Your ticket please!«
»Ich mach mich an«, schreckte Frank Karl hoch. »Wie Sie ›ticket‹ aussprechen. Das ist fast so akzentfrei wie ›I am from Austria‹ beim Fendrich.«
»Sama leicht ein Obergscheiter? Ein Professor gar?«
Frank Karl machte eine wegwerfende Handbewegung und schickte sich an weiterzuschlafen. Jetzt fasste ihn der Kontrollor an der Schulter.
»Sand Sie deppert worden oder was?«, knurrte der Polizist.
»Ihren Fahrausweis, aber gschwind.«
»Wer sand Se eigentlich?«
»Ihren Fahrausweis bitte.«
»Ich hab Sie nicht gefragt, was Sie wollen, sondern wer Sie sand. Und wenn wir schon einmal beim Kontrollieren sind, zagen Sie mir zuerst einmal Ihre Legitimation.«
Frank Karl schob langsam seine Augengläser über die Stirn und langte nach der Plastikkarte, die der Kontrolleur an den Kragen seiner Windbluse geklipst hatte.
»Net anrühren!«, brüllte der Schaffner.
»Was jetzt?!«
»Sie sollen mich nicht angreifen.«
»Ich hab Sie gar nicht angegriffen. Wenn einer angriffig ist, dann sind Sie es. Weil Sie schreien. Bin i derisch oder was?«
»Ich schreie nicht, ich mache Sie bloß sachlich darauf aufmerksam, dass Sie mir Ihren Fahrausweis zeigen sollen.«
»Wenn Sie mi fragen«, drehte der Gruppeninspektor nun den Spieß um, »sand Sie gar kein Kontrollor. Weil ein echter Kontrollor ist ein Organ der Stadt, und als solches zeichnet es sich durch die Eleganz mustergültiger Höflichkeit aus. Aber der Ton, den Sie anschlagen, diskreditiert sich als mehr oder minder missglückter Ausdruck rowdyhafter Hilflosigkeit.«
»Gemma! Gemma!«, schrie nun der Kontrolleur siegessicher, denn die Tramway war in die Station Schottentor eingefahren. Aus der Tiefe der Straßenbahn tauchten zwei weitere Kartensheriffs auf. Zu dritt bugsierten sie den Gruppeninspektor zur Tür hinaus. Frank Karl lachte aus Leibeskräften: »Sie untergriffiges Zwickerschweinderl! Sie haben mich an der Achsel gekitzelt.«
»Dreihundert Euro«, brüllte der ältere der drei Fahrscheinkontrolleure, »und die Sache ist erledigt!« »Polizei, Polizei!«, schrie nun der Gruppeninspektor wie am Spieß, und schon kamen zwei Uniformierte über die Straße gestolpert: »Jo, was hamma denn do?«
»Wir haben da einen Schwarzfahrer gschnappt. Jetzt randaliert er. Und bsoffen ist er auch noch.«
»So, so!«, grinsten die beiden und drehten dem Gruppeninspektor die Arme auf den Rücken. »Schön brav bleiben«, rieten ihm die pubertären Gimpel, »weil sonst müssen wir dir ein bisserl wehtun.«
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