Kitabı oku: «Das Erbe der Macht - Band 22: Königsblut»

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Table of Contents

Königsblut

Was bisher geschah

Prolog

1. Wieso tut ihr nichts?

2. Alles auf einen Zauber

3. Uralte Spuren

4. Fragmente der Ewigkeit

5. Flammentanz

6. Seele in Pein

7. Im Schatten des Katana

8. Blut und Kirschblüten

9. Eine Blutnacht in grün

10. Zeit ist relativ

11. Der ewige Schrei

12. Die Offenbarung der Seher

13. Im Schatten der Schlacht

14. Wo das Böse residierte

15. Im verborgenen Tempel

16. Das Blut der Seher

17. Lange nicht gesehen

18. Mit dem letzten Atemzug

19. Des Glückes Pfand

20. Die Stimme der Seher

21. Das Ende eines Weges

22. Das Schicksal der Chloe O’Sullivan

23. Über den Rand der Welt

24. Silberstreifen am Horizont

Vorschau

Seriennews

Glossar

Impressum

Das Erbe der Macht

Band 22

»Königsblut«

von Andreas Suchanek


Was bisher geschah

Die alte Ordnung ist gefallen.

Bran holt zum großen Schlag aus und fegt das Castillo, die Lichtkämpfer und die Schattenkrieger hinweg. Hinter der Maske des Gegners von Leonardo und Johanna verbirgt sich in Wahrheit Merlin von Avalon, der im Onyxquader heranreifte, um mit der Macht des Anbeginns das ewige Leben und die absolute Herrschaft zu erlangen.

Im Verlorenen Castillo lecken unsere Freunde ihre Wunden, doch viel Zeit bleibt ihnen nicht.

Um der Armee Merlins zu entkommen, müssen sie in der neuen Zuflucht auf eine alte Apparatur zurückgreifen. Diese benötigt jedoch Noxanith, um zu funktionieren. Alex, Jen, Artus, Madison und Alfie reisen nach Antarktika, wo sie die alten Artefakte vom Anbeginn bergen sollen. Dort angekommen, wird schnell klar, dass der Anbeginn wieder an Stärke gewinnt. Die Freunde retten den nahezu aufgelösten Jules Verne, von dessen Silberknochen nur noch der Schädel zurückgeblieben ist, und bergen die Artefakte.

In die Zuflucht konnte Merlin einen seiner Jünger einschleusen. Wesley Mandeville hat einen Pakt mit dem Magier geschlossen. Allerdings streiten sich in ihm zwei Teile – sein altes Ich und das neue. Er versucht, die Merlin hörige Chloe zu befreien. Ein Plan, der misslingt.

Die angreifende Armee Merlins scheint den Sieg davonzutragen, doch dann kehren Alex und Jen von Antarktika zurück. Mit dem Noxanith wird die Apparatur in Gang gesetzt und die Zuflucht verschwindet.

Dank der Apparatur wechselt sie fortan ständig den Ort.


Die Finger des Mädchens schlossen sich um den Griff des Katanas, zogen die Waffe aus der Scheide. Die Klinge wirkte wie gegossenes Silber im Mondlicht. Elegant fuhr sie durch die Luft, strich sanft über den Seidenstoff und teilte ihn entzwei. Wie Engelsflügel wehten die beiden Teile davon, wurden zu rauchigem Nebel und verloren sich in der Unendlichkeit.

Tomoe machte einen Schritt zurück und blickte lächelnd auf ihr jüngeres Ich. All das hier war ein Traum. Mit jedem Mal wurde sie besser darin, ihn als solchen zu erkennen. Und während ihr Körper in einer kleinen, heruntergekommenen Wohnung ruhte, begab sich ihr Geist auf Wanderschaft.

Die Traumebene war für normale Magier nicht zugänglich, es sei denn, Jules Verne gab den Weg frei und man befand sich in der Nähe der Silberknochen. Dank Sitting Bull konnte Tomoe das Reich jedoch betreten und in den gewaltigen Bibliotheken forschen, die das Wissen so vieler Träumenden enthielten.

Die Umgebung wandelte sich, Regale wuchsen in die Höhe, angefüllt mit Papierrollen. Tomoes Unterbewusstsein brachte alles in eine für sie intuitiv zu begreifende Form. Der Geruch von feinem Tee hing in der Luft, Sitzkissen lagen zwischen kleinen Seen aus reinem Wasser. Panflötenklänge hallten sanft zwischen den Regalen hindurch.

Auf einem Tisch stapelten sich Papierrollen, gebrochene Wachssiegel lagen in Form rötlicher Krümel auf der Platte. Was sie hier tat, grub sich in die Fasern dieser Wirklichkeit. Es waren stabile Bereiche, die nicht wurden und vergingen, sondern Bestand hatten.

»Bist du hier, Jules?«, fragte Tomoe.

Doch wie immer antwortete ihr nur die Stille.

Sie führte ihre Suche fort, öffnete weitere Siegel und arbeitete sich voran. Sitting Bull hatte sie erstmals auf die weite Ebene der Ahnen geführt, wo die Abdrücke all jener Häuptlinge zu finden waren, die einst gelebt hatten. Ein wenig Rauch aus seiner Pfeife genügte, und sie war eingetaucht. Letztlich hatte es sich bei dieser Ebene nur um eine Facette der Traumebene gehandelt, wie Tomoe in kürzester Zeit feststellte. Dank eines kleinen Lederbeutels voller Kräuter konnte sie die Traumebene weiter aufsuchen, zumindest, bis der Inhalt aufgebraucht war.

Der alte Häuptling hatte ihr mit klaren Worten zu verstehen gegeben, dass sie den ersten Seher von Camelot und den letzten Seher vor dem Wall finden musste. Doch wie sollte das gehen? Die Spur des alten Königreichs verlor sich in den Zeilen mystischer Texte, von einem Seher hatte sie nie etwas gewusst.

Die Stunden verstrichen und Tomoe vergrub sich in Zeilen, die selbst von den Unsterblichen vergessen worden waren. Untergegangenen Reichen wurde mit Worten neues Leben eingehaucht, Schicksale erfüllten sich zwischen fein geschwungener Schrift und verblichenem Papier.

Da die Zeit an diesem Ort anders verging, musste sie sich nicht hetzen. Stattdessen las sie konzentriert, um auch ja keinen Hinweis zu übersehen. Immerhin ging es um nicht weniger als das Schicksal der magischen Welt. Wollten sie Merlin besiegen, benötigen sie eine Waffe, die weitaus mächtiger war als jeder Köcher in ihrem Arsenal.

Doch wo fanden sie etwas so Gewaltiges, dass es die Macht des Walls brechen konnte? Wie gelang es, die anderen Unsterblichen zu befreien und Merlin von seinem selbst geschaffenen Thron zu stoßen? Und das, ohne seine Jünger zuvor auszuschalten, denn diese waren ihm durch dunkle Magie hörig. Opfer ihrer eigenen Sehnsüchte, die nie erfüllt worden waren, aneinandergekettet durch Glieder, die sie selbst geschmiedet hatten.

Tomoe brach ein weiteres Wachssiegel.

Ihre eigene Geschichte, ihr Weg, hatte sie durch Splitterreiche und Zeiten geführt, an verborgene Orte und in gewaltige Schlachten. Grausame Magie war vor ihren Augen gewirkt worden, doch ebenso hatten simple Maschinen millionenfachen Tod in Weltkriegen gebracht.

Ein Geräusch ließ sie aufblicken. Ihre alten Sinne, mochte sie auch viele Jahre nicht gekämpft haben, waren noch immer da. Möglicherweise ein wenig eingerostet, doch nicht gänzlich tot.

Sie spähte zwischen den Regalreihen hindurch, doch da war nichts. Das Echo eines anderen Traumes möglicherweise? Tomoe nahm wieder Platz und führte ihre Suche fort. Gefühlt verstrichen Stunden, vielleicht Tage, doch sie gab nicht auf. Und schließlich fand sie einen Hinweis. Worte, geschrieben von einer Frau, deren Spur sich in den Jahrhunderten verloren hatte. Ein Zauber, der den Weg weisen konnte.

Mit höchster Konzentration verinnerlichte Tomoe jedes Wort, wohl wissend, dass sie sich nach ihrem Erwachen alles ins Gedächtnis zurückrufen musste. Andernfalls würde sie es vergessen.

Sie erhob sich, atmete tief durch und leitete das Erwachen ein. Blinzelnd kehrte sie zurück in die Wirklichkeit.

Das Erste, was sie sah, war Blut.

»Bedauerlicherweise war es knapp«, sagte jemand. »Sie waren gut, ich dagegen eingerostet.«

In einer fließenden Bewegung kam Tomoe auf die Beine, tauchte zur Seite weg und hob die Hände.

»Ein Danke reicht völlig.« Anne Bonny bedachte die Toten mit einem Blick, in dem eine Mischung aus Bedauern und Zufriedenheit über ihren Sieg lag.

»Du bist nicht hier, um mich zu töten.« Tomoe ließ ihre Arme sinken.

»Wenn es so wäre, hätte ich dir genug Zeit gelassen, vollständig zu erwachen, und dich im selben Augenblick erledigt.«

»Für eine Piratin ist das überraschend viel Ehrgefühl.«

Anne gab einen abschätzigen Laut von sich. »Was weißt du schon von Piraten? Hinter diesem Wort verbergen sich mehr Facetten, als du ahnen kannst.«

»Warum bist du hier?«

Anne trug ihre typischen Lederhosen, darüber eine weiße Bluse, an den Füßen Boots. Das braune Haar lag nicht mehr in Locken auf ihren Schultern, stattdessen hatte sie es mit einem Band zu einem Zopf geformt. »Dich retten. Antworten finden. Merlin besiegen.«

Die Worte überraschten Tomoe. »Hat er dich nicht im Castillo eingeschleust?«

»Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt.« Anne zuckte mit den Schultern.

»Eine Warnung wäre nett gewesen.«

»Wie ich bereits sagte: Du hast keine Ahnung.«

»Und jetzt soll ich dir einfach so vertrauen?« Tomoe hielt sich bereit, jederzeit auf einen Angriff zu reagieren.

»Zumindest habe ich genug Punkte auf dem Konto, damit du mir zuhörst. Oder war das dein Leben nicht wert?« Anne ließ ihren Blick über die Toten schweifen.

»Aber nicht hier.«

»Merlin wird Ersatz schicken.« Anne erhob sich. »Verschwinden wir. Ich habe eine Menge zu erzählen. Und du hoffentlich auch.«

Tomoe wartete, bis Anne die Tür erreicht hatte, erst dann folgte sie ihr. Aus dem Augenwinkel erkannte sie die blicklos ins Leere starrenden Augen eines vertrauten Gesichts. Ein weiterer ehemaliger Lichtkämpfer war gefallen. Der Schmerz war längst einem dumpfen Bedauern gewichen, gepaart mit dem Wissen, dass es keinen anderen Weg gab, sollten sie ihn nicht bald neu entdecken.

Tomoe spürte die Blicke der Toten in ihrem Rücken, als sie gemeinsam mit Anne das Gebäude verließ.


Es war knapp.« Jen ließ ihren Blick über die neue Umgebung schweifen. »Beinahe hätte Tilda es nicht zurückgeschafft.«

Alex stand neben ihr auf den Zinnen der Zuflucht, gekleidet in Hoodie und Jeans, das Haar vom Wind zerzaust. »Annora ist so was von wütend, das kannst du dir nicht vorstellen. Sie hat Tilda angebrüllt, bis die in Tränen ausgebrochen ist.«

»Es liegen bei jedem die Nerven blank.«

Von Brasilien aus waren sie in irgendeiner Wüste gelandet, von dort war es weitergegangen an den Rand eines Meeres, wieder in einen Wald und schließlich hierher.

»Von Thunebeck will seine Apparatur morgen Früh in Gang setzen«, erklärte Alex. »Damit können wir vorausberechnen, wann der nächste Sprung erfolgt.«

Einstweilen funktionierte die transzendente Apparatur und es gab ausreichend Noxanith-Pulver, damit die Zuflucht ständig zwischen verschiedenen Punkten hin- und herspringen konnte. Merlin vermochte sie auf diese Art nicht zu finden.

»Sobald sich der nächste Sprung vorausberechnen lässt, können wir auch wieder Einsätze durchführen«, schloss Jen.

Alex trat auf sie zu, zog sie in seine Arme und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen. Unweigerlich überzog ein Lächeln Jens Gesicht. Was mit der Welt auch geschah, sie fühlte sich bei ihm geborgen. Umgekehrt war dies ebenso. Was auch sonst passierte, sie hatten stets einander. Wie hatte sie das nur so lange nicht sehen können? Nichts konnte diese Einheit …

»Wo bleibt ihr denn?!«, rief Artus.

Alex gab ein genervtes Stöhnen von sich. »Meinst du, wir können ihn von den Zinnen werfen?«

»Die Ordnungsmagier …«, rief der ehemalige König von Camelot.

»Hör auf, mit mir zu diskutieren, wir werfen ihn nicht von den Zinnen.«

Schon tauchte Artus‘ breiter Oberkörper im Durchgang auf. Mit seinem dichten Bart und den durchdringenden blauen Augen brachte er stets etwas in Jen zum Klingen. Eine ferne Erinnerung, nicht mehr, doch sie hätte es lieber gesehen, wenn es nicht so gewesen wäre.

»Es ist Zeit, der Unterricht beginnt.«

»Wie nett, dass du uns das extra sagst«, kommentierte Alex, natürlich verdrehte er dabei die Augen.

Was dazu führte, dass Artus seinerseits schnaubte und ansetzte: »Damals, auf Camelot …«

»Wir sollten nach unten gehen«, unterbrach Jen den heraufziehenden Schlagabtausch.

Kurzerhand schritt sie davon.

Hinter ihr kam Alex herbeigeeilt, Artus folgte dichtauf. Sie schritten zügig aus und erreichten in kürzester Zeit den Unterrichtsraum.

Die Neuerweckten sowie die Söhne und Töchter magischer Familien lagen auf einfachen Betten, die in dichten Reihen aufgestellt worden waren. Erwachsene Magier patrouillierten im Raum, um über die schlafenden Körper zu wachen, die auf der Traumebene unterrichtet wurden. Einzig das Wissen um magische Tiere und Pflanzenarten wurde von Alana Franke im Splitterreich vermittelt.

Ohne lange zu warten legte Jen sich auf ein freies Bett. Sie zeichnete mit ihrem Essenzstab magische Symbole auf den Unterarm und sprach: »Noctis Somnus.«

Der Schlaf kam sofort.

In einem Augenblick lag sie noch auf dem Bett, im nächsten stand sie in dem gewaltigen Studierzimmer, das Jules Verne ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Die Tür war geöffnet, auf dem Gang lärmten allerlei Schüler herum. Dank eines durchdachten Lehrplans von Annora und den übrigen neuen Lehrern sowie der Hilfe von Jules hatte die Traumakademie innerhalb weniger Tage ihre Arbeit aufnehmen können.

Der Unterricht ging also weiter, und nicht nur das: Er konnte sogar in ausgestalteten Traumkulissen vermittelt werden.

»Erster.« Alex erschien neben ihr.

Kurz darauf folgte Artus.

Während Jen sich wieder in die magische Schriftrolle vertiefte, schritt Alex mit verschränkten Armen die Regalreihen ab. Artus versuchte sich daran, das richtige Buch mit einem Aufrufzauber herbeizuholen, doch nichts hatte Erfolg. Obgleich sie bereits seit dem Tag, an dem Jules Verne seinen Weg ins Castillo gefunden hatte, hier recherchierten, waren sie keinen Schritt weitergekommen.

»Ich kann noch immer nicht glauben, was sie alles getan hat«, sinnierte Alex irgendwann, das Kinn auf der rechten Handfläche abgestützt.

»Chloe ist nicht sie selbst.« Die Worte waren so oft gesagt worden, dass sie nur noch hohl und leer klangen.

»Wenn wir einen Weg finden, eurer Freundin zu helfen, können wir das bei allen tun«, führte Artus an. »Egal, wie lange es dauert.«

Sie vertieften sich wieder in die Schriften.

Das Stimmengewirr auf dem Gang ebbte ab, der Unterricht begann.

Jen war gerade in eine interessante Ausführung über magisches Blut abgetaucht, als ihr Instinkt sie aufblicken ließ. »Alex.«

»Hm?« Auch er sah auf.

Vor ihnen stand ein Mann in den Dreißigern. Er besaß dunkle, wettergegerbte Haut, ein ebenmäßiges Antlitz und definierte Muskeln. Letzteres war vor allem dadurch zu erkennen, dass er nur eine Lederhose trug. Sein schwarzes Haar fiel gewellt auf die Schultern, bunte Perlen waren darin eingeflochten.

»Wieso tut ihr nichts?«

Artus bemerkte den Neuankömmling erst jetzt und sprang schützend zu Jen – wofür sie ihm gerne einen Kraftschlag verpasst hätte. »Wer bist du?!«

»Chloe leidet«, flüsterte der Mann. »Wieso tut ihr nichts?«

Fassungslos starrte Jen ihn an, das ebene Gesicht, die Augen von unterschiedlicher Farbe. »Ataciaru.«

»Endlich könnt ihr mich hören.« Seine Stimme war sanft, doch das Raubtier schwang unterschwellig mit. »Nils kann mich hören, aber nicht gänzlich verstehen.«

»Wir wollen Chloe helfen, wissen aber nicht, wie«, sagte Alex. »Der Pakt … Merlins Pakt. Weißt du, wie man ihn bricht?«

»Es ist ein starkes Band, ein dunkles Band, aber nicht unzerstörbar. Ihr habt den Weg längst beschritten.«

»Mach hier jetzt keinen auf Orakel«, verlangte Alex. »Hilf uns, Chloe zu helfen.«

»Um den Pakt zu brechen, muss sie die Entscheidung alleine treffen und stark genug dafür sein. Ihr müsst sie zurückbringen, zu dem Zeitpunkt der Wahl.«

Jen ballte frustriert die Hände. »Wir wissen nicht, wo H. G. Wells ist. Und ohne Zeitmaschine …«

Ataciaru schüttelte den Kopf, was Jen zum Verstummen brachte. »Ihr müsst Chloe zurückbringen.«

Neben Jen atmete Alex scharf ein. »Wesley. Wesley ist der Schlüssel.«

Ataciaru nickte. »Zurückgebracht zur Wahl, kann sie erneut die Entscheidung treffen. Ihr braucht den Mann, der die Seele zurückschicken kann, und ein Messer, geschmiedet aus Magie, um Gut und Böse zu teilen.«

Ein Rauschen war zu vernehmen. Jen schaute in Richtung der Regalreihen und sah ein Buch, das herbeigeschwebt kam, auf dem Tisch landete und aufschlug.

»Ihr habt nur diesen einen Versuch. Am Schluss steht Endgültigkeit. Chloe wird sich für eine Seite entscheiden und es kann niemals rückgängig gemacht werden. Kein Zauber dieser oder einer anderen Welt wäre stark genug. Bedenkt das. Wenn ihr versagt, verliert ihr Chloe für immer.« Eine Träne löste sich aus Ataciarus Gesicht. »Ich kann nur zu den Ahnen flehen, dass ihr der Rückweg gelingt. Sie schlug den falschen Pfad aus Liebe ein, vielleicht ist es auch Liebe, die sie zurückführt. Zu euch.« Sein Körper verblasste. »Und zu mir.«

Ataciaru war verschwunden.

Jen eilte zu dem Buch und überflog die Seiten.

»Und?« Alex trat neben sie.

»Es könnte funktionieren.« Jen erwiderte seinen Blick. »Oder endgültig scheitern.«

Dicht geschriebene Worte zeigten ihnen den Weg, um Chloe zu helfen.

Oder sie für immer zu verlieren.


Und du bist sicher, dass sie schläft?« Misstrauisch betrachtete Alex die bewusstlose Chloe.

»Glaub mir, ich lasse mich nicht noch einmal aus dem Hinterhalt angreifen.« Max ließ die Freundin neben sich schweben.

Gemeinsam mit Kyra begaben sie sich zu einem Punkt in Sichtweite der Zuflucht. Vor ihnen lag eine weite, nur spärlich bewachsene Ebene, die in eine tiefe Schlucht überging. Die vertrocknete Erde wies Risse auf, die sich wie Spinnennetze verästelnd ausbreiteten. Nur hier und da gab es einsame Grasbüschel.

Jen und Wesley erwarteten sie bereits, neben einem magischen Kreis, der in die Erde gezogen worden war. Die Linien hatten sie mit flüssigem Himmelsglas ausgegossen, Bernstein zu Zeichen geformt. Im Abstand weniger Zentimeter standen Phiolen auf dem Glas, die farbige Flüssigkeiten enthielten.

»Ich habe schon lange nicht mehr einen solch komplexen Kreis erschaffen«, bemerkte Jen, in der Stimme eine gehörige Portion Stolz, der jedoch sofort von Skepsis abgelöst wurde. »Hoffentlich tun wir das Richtige.«

»Ich fasse also zusammen«, Wesley trat einen Schritt nach vorne und betrachtete eingehend den Kreis: »Ich soll Chloe gedanklich zurückführen, woraufhin der Kreis sie in ihrer Erinnerung aufsplittet in den Teil vor dem Pakt und den Teil danach.«

»Genau wie es bei dir geschehen ist«, bestätige Max. »Wir beobachten das Ganze und versuchen, die alte Chloe zu stärken. Am Ende wird sich eine von beiden durchsetzen und die andere auslöschen.«

Kyra ging in die Knie und betrachtete die schlafende Magierin. »Ich habe die echte Chloe nie kennengelernt. Ihr müsst sie sehr lieben, wenn ihr all das auf euch nehmt.«

»Wir lassen niemanden zurück. In diesem Kampf sind schon zu viele gestorben.« Max wirkte bei den Worten emotionslos, doch in seinen Augen glitzerte es.

Alex musste nicht lange darüber nachdenken, wen er meinte. Kevin war noch immer dabei, den Tod von Chris zu verarbeiten, und tausend winzige Details im Alltag ließen die Wunde auch in Alex wieder und wieder aufbrechen. Manchmal, wenn Jen schlief, trat er ans Fenster, betrachtete den Lebenswald hinter der Zuflucht und erinnerte sich an gemeinsame Erlebnisse. Der Schmerz war ein täglicher Begleiter.

»Ihr müsst eines wissen«, begann Wesley, »Dieses Ritual nutzt zwar meine besonderen Fähigkeiten, doch es übernimmt die Kontrolle. Ich kann bestimmte Schlüsselelemente ansteuern, lenkend eingreifen, doch den Zauber nicht mehr unterbrechen.«

»Also kein Aufschub«, schloss Alex.

Wesley nickte in Richtung der Zuflucht. »Das meine ich nicht. Wir wissen noch nicht, wann der nächste Sprung erfolgt. Egal wie das hier ausgeht, wir müssen in Betracht ziehen, dass Merlin es irgendwann bemerkt. Das birgt die Gefahr, dass die anderen verschwinden, bevor wir fertig sind, oder unser freundlicher Zauberer hier auftaucht. Wir müssen auf beides vorbereitet sein.«

»Bevor wir beginnen, steht also ein Gespräch mit von Thunebeck an.« Jen verdrehte die Augen. »Wenn er noch einmal davon erzählt, was für ein toller Hochmagier er war, blutet mein Trommelfell.«

Kyra kicherte. »Er ist nur ein wenig angestaubt.«

»Dann bereitet ihr hier alles vor, Kyra und ich sprechen mit ihm.«

Gemeinsam mit dem jungen Wechselbalg eilte Alex über die Ebene, zurück in die Zuflucht. Die Wachen nickten ihnen zu, die Schutzsphäre ließ sie passieren.

»So viele Schutzmechanismen«, sprach Alex leise. »Und Merlin müsste nur mit den Fingern schnippen, um sie alle auszulöschen.«

Sie schritten durch die Halle und die Stufen hinab zu den Katakomben.

»In meiner Zeit in Frankreich als Tänzerin habe ich viel gesehen«, erklärte Kyra mit einer Stimme, die uralt erschien. »Vor allem Hoffnungslosigkeit. Viele ertränkten sie in Gin oder versuchten, sie in leidenschaftlichen Umarmungen zu vergessen. Nur wenige erhielten sich die Hoffnung. Das waren jene, die nicht untergingen, weil sie am Ende das Dunkle in sich selbst besiegten.«

Alex betrachtete den jungen Wechselbalg von der Seite. Kyra mochte wirken wie ein Teenager, mit blondem Haar, engen Jeans und Top. Für Wechselbalg-Verhältnisse war sie ein Kind, doch in Menschenjahren eine alte Frau.

Nach ihrer Zeit als junge Anastasia Romanow hatte sie viele Jahre in der Vergangenheit verbracht und danach den Weg in die Gegenwart gefunden.

»Manchmal vergesse ich, wer du bist.«

»Gut so.« Kyra grinste breit. »Ich mag es nicht, wie mich die Männer und Frauen von Moriarty anschauen. Als sei ich ein Geschwür.«

»Der Hass gegen Wechselbälger wurde gehegt und gepflegt.« Alex durchschritt das Hologramm vor von Thunebecks Labor und stieg die Treppen hinab.

Es schwappte kurz, als Kyra ihm folgte. »Ich mag es hier unten.«

Die Essenzmanifestation des verstorbenen Wissenschaftlers eilte geschäftig zwischen den Apparaturen hin und her, kramte in einem Stapel seltsamer Instrumente und rannte zurück zu einer Apparatur, die an eine überdimensionierte Standuhr erinnerte. Im Inneren des Hexenholzkastens befand sich kein Pendel, stattdessen eine Sanduhr, gefüllt mit winzigen Noxanithpartikeln.

»Ein Meisterwerk, wenn ich das sagen darf.«

Zufrieden hakte von Thunebeck die Daumen in seine Westentaschen und wippte mit den Fersen auf und ab. »Die Partikel resonieren mit jenen, die in der transzendenten Apparatur verarbeitet werden.«

Der Noxanith-Sand rieselte von einer Kugel oben in eine zweite unten. Erst jetzt erkannte Alex die Uhr an der Seite. Sie bestand gänzlich aus dunklem Metall mit einfachen Strichen und einem Zeiger.

»Er steht auf sieben.«

Von Thunebeck nickte. »In sieben Stunden erfolgt unser nächster Sprung.«

»Wie sicher ist diese Anzeige?«, hakte Alex nach.

»Ich habe die Apparatur entwickelt.« Von Thunebeck wirkte ob der Nachfrage regelrecht schockiert.

»Wie sicher?«

»Nun, wie bei jedem großen Werk, das von einem großen Geist erschaffen wurde – und das euer Leben gerettet hat –, gibt es gewisse Spielräume in der Interpretation.«

Der Zeiger stupste die Sieben an, zitterte dabei jedoch.

»Und wie groß ist dieser Spielraum?«

»Eine Stunde plus oder minus, allerdings können wir das erst nach diesem Sprung sicher sagen«, merkte er an.

Alex wechselte einen Blick mit Kyra. »Möglicherweise sollten wir warten …«

»Oder wir suchen einen Platz weit entfernt von der Zuflucht«, überlegte Kyra. »Und wenn das Ritual beendet ist, senden wir ein Leuchtfeuer, damit Nikki oder Madison uns abholen können.«

Sie verabschiedeten sich von dem Wissenschaftler und stiegen die Treppen hinauf. Obgleich sie Merlin entkommen waren, schien er beständig in ihren Nacken zu atmen. Vor der Zuflucht erwartete sie ein kalter Wind, der über die Ebene strömte. Es gab kaum Hindernisse, wodurch die Wucht ungebremst auf sie einströmte. Alex hätte sich gerne mit Tee und Keksen in eine Decke gekuschelt.

»Was ist das?« Kyra deutete nach vorne.

Magentafarbene Essenz loderte in die Höhe wie entzündete Flammen. Ein Schrei erklang, der wie Donner über die Ebene hallte. Neongrüne Essenz schoss in die Luft, Erde wurde in die Höhe geschleudert, als wäre eine Bombe darunter detoniert.

»Chloe ist wach.« Alex hatte seinen Essenzstab bereits gezogen und rannte auf die Freunde zu.

Kyra verformte ihre Gestalt. Als Wolf schoss sie auf den magischen Kreis zu, viel schneller, als Alex laufen konnte.

Im Näherkommen sah er Chloe, die ihren Zeigefinger durch die Luft gleiten ließ, um ein magisches Symbol zu vollenden. Eines, das Alex sofort erkannte. Ein Leuchtfeuer. Und sobald es loderte, würde Merlin wissen, wo er hineilen musste.