Kitabı oku: «Verhüllung», sayfa 2

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Islamische Aneignung

In vorislamischer Zeit waren, wie oben gesehen, unterschiedliche Formen des Schleiers in Westasien und Nordafrika vor allem bei jenen Frauen anzutreffen, die damit einen höheren gesellschaftlichen Status markieren wollten. Die Grenzen von Religion und Kultur waren dabei durchlässig. Aus diesem antiken Reservoir schöpft, wie zuvor das Christentum, auch die Kultur des frühen Islam, die im 7. Jahrhundert n. Chr. auf der Arabischen Halbinsel entstand. Dort waren in bestimmten Stämmen nicht zuletzt mehrere verschiedene Formen des Gesichtsschleiers für Frauen anzutreffen,16 während sich umgekehrt einzelne freie Frauen auch im frühislamischen Arabien unverschleiert in der Öffentlichkeit zeigten.17

Schon der Prophet Muhammad verstand die von ihm vermittelte Lehre in ihrem religiösen Kern gewissermassen als verbesserte Neuauflage des bei Juden und Christen bekannten Ein-Gott-Glaubens. Zahlreiche ethische Grundsätze und Haltungen finden sich daher in allen drei religiösen Grosstraditionen in ganz ähnlicher Form.

Wie das frühe Christentum eignete sich der frühe Islam Bestehendes an, interpretierte es aber da und dort neu. Dabei fallen vor allem Parallelen zwischen der Entwicklung im frühen Christentum und im frühen Islam auf. Die Begründer beider Lehren, Jesus und Muhammad, zeichnen sich durch einen bewussten, aber gelassenen Umgang mit Frauen aus. Nach dem Tod der Religionsstifter lässt sich jeweils eine Verengung beobachten. Die zumeist männlichen Sachwalter der noch jungen Tradition versuchten diese «unverfälscht» zu bewahren. Da zugleich neuartige Situationen zu bewältigen und die Lehren in Hinblick hierauf zu interpretieren waren, entstanden unweigerlich die unterschiedlichsten und auch widersprüchlichsten Fortsetzungen. Im Fall des Islams wie des Christentums wurden in Bezug auf die Kleidung der Frauen auf lange Zeit jene patriarchalen Kräfte und Interpretationen bestimmend, die sich im Sinne Tertullians äusserten. Dies sei hier, beginnend mit dem Koran, kurz skizziert.18

Musliminnen und Muslimen gilt der Koran als Gottes Botschaft an die Menschen, an der sie ihr Leben ausrichten. Der Koran stellt dabei eine Sammlung von sehr unterschiedlichen, teils liturgischen, teils predigthaften Texten dar, die Muhammad gemäss muslimischer Auffassung in den Jahren 610 bis 632 n. Chr. in Mekka und in Medina empfangen hat. Zunächst vorwiegend mündlich überliefert, wurden diese Offenbarungen bald nach Muhammads Tod gesammelt und zu einem festen Textkorpus vereinigt.

Interpretinnen und Interpreten des Korans argumentieren bei der Verschleierungsfrage hauptsächlich mit fünf Passagen: Sure 24:30–31, 24:60, 33:32–33, 33:53 sowie 33:59. Jede von ihnen ist kontextgebunden und interpretationsbedürftig, und in keiner von ihnen fordert der Wortlaut der göttlichen Botschaft explizit die Verhüllung des Haares oder gar des ganzen Hauptes. Als Beispiel für die Interpretationsspielräume sei Sure 33, Vers 53 angeführt: «[…] Und wenn ihr sie [d. h. die Gattinnen des Propheten] um (irgend) etwas bittet, das ihr benötigt, dann tut das hinter einem Vorhang! […].» (Koran, Übersetzung Paret)

Das hier mit «Vorhang» übersetzte Wort ḥiǧāb bezeichnet heute üblicherweise ein einzelnes Kopftuch, das alles Haar bedeckt, das Gesicht aber freilässt. Der Koranvers jedoch bezieht sich auf eine auch ausserkoranisch überlieferte Situation und ermahnt die männlichen Gäste im Hause Muhammads, dessen Gattinnen nicht zu direkt zur Last zu fallen. Der ḥiǧāb in der Wohnung ist als eine Art «Vorhang» oder «Abschirmung» aufzufassen, woraus eine bestimmte Lesart wiederum das Prinzip der Segregation zwischen Männern und Frauen ableitet.

An dieser wie den weiteren Stellen mahnt der Koran damit die Männer ebenso wie die Frauen zu Sittsamkeit und Anstand: Der Schambereich ist bedeckt zu halten, aufreizendes oder anzügliches Verhalten zu vermeiden usw. Konkret sind die Verse teils nur an die Frauen des Propheten gerichtet, teils an alle Gläubigen.

Da der Korantext hier wie in zahllosen anderen Fällen viele Fragen unbeantwortet lässt, orientierte sich schon die frühe islamische Tradition an den Berichten, den sogenannten Hadithen, über das Leben Muhammads, das als das beste Vorbild für islamische Lebensführung gilt. Mehrere Zehntausend solcher kurzer Episoden sind überliefert, etliche Tausend von ihnen von der frühen kritischen Tradition als authentisch befunden worden.19 Unter dem Begriff Sunna, «guter Brauch», wurde dieses weitverzweigte Korpus ab dem zweiten Jahrhundert islamischer Zeitrechnung neben dem Koran zur zweiten normgebenden Textquelle.

Waren unter den ersten Überlieferern noch etliche Frauen, so dominierten bei der Weitergabe und noch mehr bei der Auslegung immer mehr die Männer. Die marokkanische Feministin Fatima Mernissi klagt bereits den ersten Kalifen, Abu Bakr, an, interessengeleitet frauenfeindliche Hadithe verbreitet zu haben, als Überlieferer von Prophetenworten jedoch sehr zweifelhaft zu sein.20

So entstand bereits in den ersten Generationen nach Muhammads Tod (632 n. Chr.) jener breite Konsens, der besagt, dass bei der Frau wie beim Mann die Blösse (aura) bedeckt sein soll. Der Begriff verweist seiner primären Bedeutung nach auf einen Mangel, am menschlichen Körper eben auf jenen Bereich, der aus Scham verdeckt werden soll. Wie aber ist diese Blösse definiert? Beim Mann ist es für die praktisch ausschliesslich männlichen muslimischen Juristen der Bereich zwischen Bauchnabel und Knien. Bei der Frau verstehen sie sie wesentlich umfassender, aber auch unterschiedlicher. Gehört das Gesicht dazu, gar die Stimme? Die Position der breiten Mehrheit besagt, dass die Blösse bei der freien Frau alles umfasst ausser das Gesicht und die Hände, sie somit alles Übrige, insbesondere das Haar, bedecken solle; die Blösse der Sklavin hingegen war annähernd wie die des Mannes bestimmt. Bereits der zweite Kalif, Umar (reg. 634–644 n. Chr.) erliess weitere einschränkende Anordnungen, welche die Frauen betrafen.21

Die islamische Welt vergrösserte sich rasch und umfasste Gesellschaften von Westafrika bis Zentralasien. Aus dem Zusammentreffen regionaler Kulturen mit «islamischen» Grundsätzen gingen in Bezug auf die Bedeckung des Haares oder des Gesichts von Frauen die unterschiedlichsten Regelungen und Formen hervor, auch abhängig von der Politik der Machthaber und von gesellschaftlichen Moden. Als breit anerkannte Norm für Frauen setzte sich nicht der Gesichtsschleier durch, sondern nur das Bedecken des Haars. Es waren begrenzte Regionen oder soziale Schichten, in denen Gesichtsverschleierung bei Frauen regelmässig anzutreffen war, so in früheren Zeiten in Teilen Ägyptens und Syriens sowie bis heute in Teilen Afghanistans und Pakistans. Von der frühesten bis in die jüngere islamische Geschichte hinein fällt dabei auf, dass ganz allgemein die Kleidung der Frau weniger das Tummelfeld von Sachwaltern und Interpreten des religiösen Rechts als vielmehr eine jeweils soziale, oft schichtspezifische Angelegenheit ist.22

Eine zentrale Rolle spielt zusätzlich der Begriff der Ehre, welcher den religiösen Normen gerade in ländlichen – nicht nur islamischen – Gesellschaften noch vorgelagert ist. Die Ehre einer Familie hängt dabei unter anderem vom schicklichen Verhalten ihrer weiblichen Mitglieder ab. Verantwortlich für die Wahrung der Ehre oder ihre Wiederherstellung ist dabei stets ein Mann.23

Wie in anderen Bereichen, so veränderte der starke machtpolitische und technologische Einfluss Europas seit der Wende zum 19. Jahrhundert die Dinge in der islamischen Welt. Fragen rund um die jeweilige kulturelle Identität, um den Platz von Religion, um Rechte, Geschlechterrollen und «Modernität» wurden seither immer wieder neu verhandelt. Von etwa 1860 bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein vollzog sich ein «Entschleierungsprozess»: «Binnen zweier Generationen war im Einzugsgebiet des Osmanischen Reiches zumindest für Gruppen mit einem höheren sozialen Status die Entschleierung des Gesichts zur Regel geworden.»24 Diese Tendenz setzte sich vor allem in Ländern wie der Republik Türkei oder Tunesien noch länger fort. Der Druck zur Entschleierung im realen Leben schmälerte freilich keineswegs die Schleierfantasien der westlichen Orientalismustradition.

Zugleich wertete der Diskurs in arabischen Ländern bereits ab den 1930er-Jahren den Hijab, das einfache Kopftuch, zunehmend als Anzeichen der Frömmigkeit. Die zumeist männlichen Diskursteilnehmer brachten ein Kleidungsstück, das zuvor je nach Kultur anders ausgesehen und auf eine soziale Schicht hingewiesen hatte, nun zunehmend mit islamischen Tugendnormen in Verbindung. Zu dieser Codierung gehörte auch, die Norm als ursprünglich islamisch zu begreifen und ihre Aneignung zugleich als so persönlich, dass sie sich durchaus auch in Spannung zu den Wünschen des zuständigen Mannes (Vater, Ehemann) befinden konnte:25 Ein Schleier, auch in Form eines Gesichtsschleiers, kann also sogar als Vehikel und Ausdruck einer individuellen Emanzipation dienen; und er tut dies, wie wir zeigen werden, in westeuropäischen Gesellschaften tatsächlich. Dies kann freilich nur in relativ freien Gesellschaften geschehen. Wo, wie in Iran seit der Revolution von 1979, das Bedecken des Haares vorgeschrieben ist, steht diese Option nicht zur Verfügung.

Die Musliminnen, die heute im Westen ein Kopftuch tragen, tun dies in der Regel aus eigener Überzeugung. Zwar spielt oft bei jungen Frauen, die noch bei den Eltern wohnen, sozialer Druck durchaus mit: Manch eine Frau mag es als kleineres Übel ansehen, traditionelle Erwartungen der Eltern bezüglich Bedeckung oder Familienehre zu erfüllen, um sich dadurch eine gewisse Bewegungsfreiheit ausser Haus zu erhalten. Häufiger und mit zunehmendem Alter jedoch entspringt die Praxis der eigenständigen Beschäftigung mit der Religion der Eltern, und nicht selten tragen junge Frauen das Kopftuch sogar gegen den Wunsch eher säkular eingestellter Eltern. Weiter kann das Kopftuch auch Zugehörigkeit oder Abgrenzung signalisieren; und auch der Wunsch nach einem Schutz im als sexualisiert wahrgenommenen öffentlichen Raum kann ein damit verbundenes Motiv sein. Insgesamt tragen die Töchter und Enkelinnen von Einwanderinnen das Kopftuch deutlich weniger als die erste Generation.26 Den Motiven, speziell den Gesichtsschleier zu tragen, gehen wir weiter unten (siehe Seite 32) nach.

Verengung in der Moderne

Die muslimische Frau habe ihr Haar zu bedecken – diese Norm ist, wie soeben gesehen, in Gesellschaften und Milieus quer durch die Epochen und Regionen der islamischen Welt sehr breit akzeptiert. Von einem Konsens bezüglich Gesichtsbedeckung kann hingegen keine Rede sein, weder in mehrheitlich muslimischen Ländern noch im Westen Europas, auf den wir uns hier konzentrieren. Wie also kam es, dass der Gesichtsschleier, insbesondere der Nikab, in den letzten Jahrzehnten je nach Kontext auffällig häufiger anzutreffen ist als zuvor?

Es handelt sich um ein Phänomen der Moderne, keinesfalls um das einer Rückkehr verloren gegangener Tradition. Erklären lässt es sich mit den umfassenden Prozessen der Individualisierung, der Pluralisierung und der Globalisierung. So ist derselbe Typ des Gesichtsschleiers, nämlich der Nikab, heute sowohl in Kairo anzutreffen als auch in Zürich oder Toronto. Das globale Phänomen ist allerdings bei der jeweils ansässigen Bevölkerung unterschiedlich häufig. Während sich in Kairo auch Kleiderläden mit einer Auswahl an Nikabs finden lassen, ist in Zürich nur schon der Anblick einer Nikab-Trägerin eine Seltenheit. Individuell ist jeweils weniger die konkrete Ausgestaltung des Gesichtsschleiers, sondern, zumindest im Westen, der Weg der Trägerin zu dieser Praxis – und auch wieder weg von ihr (siehe Seite 32). Keine Tradition, keine Herkunft und auch nicht der Koran gibt ihr hier das Tragen des Gesichtsschleiers vor, sondern die Frau wählt in einer pluralen Gesellschaft eine bestimmte Option, die nur in einem eng begrenzten salafistischen Milieu Ansehen geniesst.27 In mehrheitlich muslimischen Ländern mit breiten konservativen Milieus und hohem Konformitätsdruck können die Dinge anders aussehen.

Gerade weil die Option des Gesichtsschleiers im Westen so selten gewählt wird, sieht sich eine Nikab-Trägerin immer wieder in der Situation, ihre Praxis begründen und erläutern zu müssen – gegenüber dem persönlichen und weiteren Umfeld, aber auch für sich selbst. Und da Nikab-Trägerinnen den Gesichtsschleier für sich mit der Religion verbinden, suchen sie sich Begründungen, die ihre Praxis rechtfertigen. So wurde auch die Nikab-Trägerin Nora Illi, «Beauftragte für Frauenangelegenheiten» des Islamischen Zentralrats Schweiz, nicht müde, öffentlich zu betonen, dass «es sich bei der Gesichtsverschleierung der muslimischen Frau um eine islamisch gesehen normative Option [handelt], welche in allen islamischen Rechtsschulen verankert und damit ein fester Bestandteil des islamischen Kultus ist».28 Illis Wortwahl verbiegt dabei allerdings die Verhältnisse stark, und ihre Schlussfolgerung vom «festen Bestandteil des islamischen Kultus» ist nicht haltbar.

In allen islamischen Rechtsschulen29 spielt der Nikab auch heute keine prominente Rolle. Ihn zu tragen, wird zwar nicht grundsätzlich abgelehnt – ausser für die Wallfahrt nach Mekka, den ḥaǧǧ, für den besondere Kleidungsregeln gelten; allenfalls empfehlen die Autoritäten einschlägiger Websites, für bestimmte Kontexte wie das Leben in Europa und Nordamerika vom Tragen des Nikab abzusehen. Selten sind allerdings auch die Stimmen, die zu begründen versuchen, warum der Gesichtsschleier für jede Muslimin (ausser für Frauen im vorgerückten Alter) «eigentlich» Pflicht wäre. Die verbreitetste Position besagt, dass das Tragen des Nikabs keinesfalls Pflicht ist – da Gott dies sonst im Koran unmissverständlich festgehalten hätte –, dass es jedoch als individueller, freiwilliger Akt der Frömmigkeit zulässig, allenfalls sogar empfohlen sei.30

So erklären manche muslimische Gelehrte das Tragen des Nikabs zwar durchaus zur Option. Dies geschieht typischerweise in der Form einer Fatwa, eines Rechtsgutachtens, das ein Gelehrter oder ein Gelehrtengremium auf Anfrage erstellt. Fatwas sind heute im Internet problemlos zugänglich. Bindend, ohnehin nur moralisch, ist dabei die Fatwa nur für jene Person, welche die Anfrage gestellt hat. Das Thema insgesamt ist dabei ein Randthema, weit davon entfernt, «fester Bestandteil des islamischen Kultus» zu sein, wie Nora Illi behauptete.

Das Reden von «islamischer Normativität» verweist im Falle von Kleidungsfragen wie auch von allen übrigen Themen auf einen von der Tradition formalisierten Bereich, der für die meisten Musliminnen und Muslime eine begrenzte oder gar keine Rolle spielt. Selbst jene, die ihr Leben als umfassende Hingabe an Gott – die Kernbedeutung von islām – verstehen, konsultieren im Alltag nicht für jede neue Handlung einen Gelehrten oder einen Online-Fatwa-Dienst. Das Leben ist so, aus einer theologischen Sicht, voller Unzulänglichkeiten, Versäumnisse und Fehler. Doch zwei wichtige islamische Grundsätze entlasten die Gläubigen: Was zählt, ist die gute Absicht. Und Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben. So mag das Bemühen, alles richtig zu machen und freiwillig noch mehr Gottgefälliges zu tun, in einer Phase erhöhten Glaubenseifers, etwa nach einer «Umkehr» oder Konversion, manchen Mitmenschen übertrieben erscheinen. Langfristig führen die Notwendigkeiten des Alltags stets zu einer gewissen Mässigung. Zudem hat die Forschung unter muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz gezeigt, dass die meisten selbst bei ernsthafter Suche nach der «richtigen» Lösung nicht das erstbeste Angebot akzeptieren. Vielmehr konsultieren die jungen Leute oft höchst unterschiedliche «Autoritäten», von den Eltern und Peers über den Imam bis hin zu Büchern oder Onlinediensten, um diejenige Lösung zu finden, die sie im konkreten Kontext der Schweiz für sich verantworten können.31 So geht auch dem Tragen des Nikabs wie des einfachen Kopftuchs in aller Regel ein längerer Prozess voraus, in dem letztlich die eigene Stimme das wesentlich stärkere Gewicht hat als noch so elaborierte normative Lehrgebäude.

Forschungsstand

Entsprechend den beiden von uns bearbeiteten Themen resümieren wir auch den Stand der Forschung getrennt: Ein Abschnitt gilt der Forschung zur Praxis des Gesichtsschleiers in Westeuropa, ein anderer den gesellschaftlichen Debatten über dieses Phänomen.

Bereits eine kurze Recherche zeigt: Wissenschaftliche Publikationen, die sich primär der Vollverhüllung widmen, sind rar. Die meisten diskutieren konkrete Fälle rechtswissenschaftlich oder wägen juristische und politische Argumente für und gegen Verbote ab. Verglichen mit der inzwischen unüberschaubaren religionssoziologischen und ethnologischen Forschung zum muslimischen «Kopftuch» (Hijab) ist die Forschung zur Praxis des Gesichtsschleiers in westlichen Ländern überschaubar. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass der Gesichtsschleier im Westen deutlich jünger und seltener ist. Zudem ist denkbar, dass die spontane und massive öffentliche Ablehnung, die Nikab-Trägerinnen entgegenschlägt, diese noch zurückhaltender als Kopftuchträgerinnen macht, wenn es darum geht, ihre Erfahrungen und Ansichten mitzuteilen – auch gegenüber der Wissenschaft.

Angesichts dieser dürren Datenlage wäre es naheliegend, die reichhaltige Forschung zum Kopftuch gewissermassen «hochzurechnen» auf den Gesichtsschleier. Dies ist aber nicht sinnvoll, denn die beiden Praktiken sind nur zu Teilen ähnlich motiviert. Dies zeigen die Skepsis und die Widerstände, denen Nikab-Trägerinnen selbst innerhalb ihres eigenen muslimischen Umfelds begegnen. Diesen Aspekt und viele weitere beleuchtet die bahnbrechende und umfassende Darstellung von Agnès de Féo, die kurz vor Abschluss unserer eigenen Arbeit erschien.32

Der Gesichtsschleier ist also nicht einfach «Kopftuch hoch zwei». Forschung zum Kopftuch kann somit Forschung zum Gesichtsschleier nicht ersetzen, sondern ihr lediglich wichtige Impulse und Vergleichsmassstäbe liefern. Dies auszuführen, würde allerdings den Rahmen sprengen. Wir beschränken uns daher auf die Forschung zum Gesichtsschleier im Westen.

Munaqqabāt in Westeuropa

Als Ausgangspunkt des Überblicks eignet sich der Sammelband «The experiences of face veil wearers in Europe and the law».33 Er versammelt im ersten Teil empirische Forschung zur Praxis des Gesichtsschleiers in Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien und den Niederlanden, gefolgt von einem zweiten Teil rund um juristische und politische Erwägungen.

In allen Ländern, die der Sammelband abdeckt, ist das Tragen des Gesichtsschleiers selten. Nirgends existieren gesicherte Zahlen, stets lässt sich nur eine gewisse Bandbreite angeben. In der folgenden Zusammenstellung setzen wir die verfügbaren Zahlen aus den Jahren kurz vor 2014 zusätzlich in Beziehung zur Gesamtbevölkerungszahl des betreffenden Landes.

Anzahl Nikab-Trägerinnen in vier westeuropäischen Ländern34


Land Zahl der Nikab-Trägerinnen Gesamtbevölkerung in Mio. Anteil in % Erhebungszeitraum
Belgien 200–270 10,8 ca. 0,002 2010
Dänemark 100–200 5,5 ca. 0,003 2009
Frankreich 367–2000 62,6 ca. 0,002 2009
Niederlande 100–400 16,3 ca. 0,002 2006

Bezogen auf die Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes sind Nikab-Trägerinnen also überall eine verschwindende Minderheit. Dies gilt selbst dann, wenn man ihre Zahl in Beziehung setzt zum Anteil der muslimischen Bevölkerung im jeweiligen Land. In den aufgeführten Ländern macht diese vier bis sieben Prozent aus. Der Anteil der Nikab-Trägerinnen unter den Musliminnen bewegt sich somit im Bereich eines Promilles und darunter.

Relativ gesehen am höchsten dürfte der Anteil in Grossbritannien sein, jedoch liegen gerade für dieses Land keine belastbaren Daten vor. Zwar ist der Anteil Musliminnen und Muslime in der Religionsstatistik eher etwas niedriger als in anderen Ländern, jedoch führten die Tradition und Politik des Multikulturalismus und die englische Klassengesellschaft dazu, dass ethnische Gemeinschaften und soziale Schichten stärker segregiert leben. Islamische Privatschulen sind damit stärker verbreitet als in den teilweise stärker durchmischten Gesellschaften des Kontinents. Unter den zahlreichen islamischen Privatschulen ermuntern drei angeblich die Schülerinnen zum Tragen des Nikabs, ohne es allerdings obligatorisch zu machen. Zusammen mit einer auch sonst sehr regen islamischen Szene führt das Bestehen islamischer Privatschulen, die den Nikab zumindest zulassen, dazu, dass junge Frauen durch Begegnungen mit Nikab-Trägerinnen vergleichsweise wesentlich häufiger überhaupt diese Praxis auch für sich in Betracht ziehen.35 Das Phänomen ist damit in Grossbritannien in einzelnen Gegenden, wo viele muslimische Familien leben, immer wieder anzutreffen, in den übrigen Regionen jedoch ebenso marginal wie in anderen Ländern.

Auch in weiteren Aspekten weisen die Studien zu den hier zahlenmässig erfassten Ländern sowie zu Grossbritannien deutliche Konvergenzen auf:36

– Nikab-Trägerinnen sind in ihrer übergrossen Mehrheit im betreffenden westeuropäischen Land geboren oder zumindest bereits als Kinder dort sozialisiert worden. Es sind also nicht Frauen, die erst wenige Jahre zuvor aus Asien oder Afrika zugewandert sind und den Gesichtsschleier gleichsam von dort mitgebracht haben.

– Einen überdurchschnittlich hohen Anteil (beinahe die Hälfte der Nikab-Trägerinnen) machen Frauen aus, welche die Religion erst im Lauf der Adoleszenz für sich entdeckt haben, sei es, dass ihre muslimische Herkunftsfamilie säkular orientiert war, sei es, dass sie nicht muslimisch war und die jungen Frauen konvertierten.

– Der Grossteil der Nikab-Trägerinnen ist zwischen 18 und 35 Jahre alt.

– Viele Nikab-Trägerinnen haben eine solide Ausbildung, einzelne gehen einer Arbeit ausser Haus nach. In Grossbritannien ist der Anteil derjenigen mit höherer Ausbildung und Berufstätigkeit deutlich höher als auf dem europäischen Festland. In den Niederlanden hingegen hat zwar ein Drittel eine Universität besucht, ein weiteres Viertel hingegen nur den einfachsten Berufsabschluss erreicht.37

Nach allen diesen Befunden erstaunt es nicht, dass die Forscherinnen Nikab-Trägerinnen in den Forschungsinterviews in den erwähnten Ländern als relativ gut gebildete Frauen kennengelernt haben, die der Gesellschaft gegenüber zwar kritisch, insgesamt aber gut informiert und ihr teils auch zugewandt sind. Sie sind in der Regel bestens in der Lage und auch willens, über ihre Motive für das Tragen des Nikab und ihre Erfahrungen damit Auskunft zu geben – sofern sie mit echtem Interesse gefragt und nicht vorverurteilt werden. Es ist zwar damit zu rechnen, dass in einem solchen Sample auskunftswillige Frauen übervertreten sind. Andererseits ist das Feld so klein, dass ohne spezielle Anzeichen nicht anzunehmen ist, der Forschung könnten viele Frauen entgangen sein, die entweder den Kontakt von sich aus nicht wünschen oder von Dritten daran gehindert worden sind.

Selbst das engste Umfeld reagiert oft verständnislos, wenn sich eine Frau entschliesst, ihr Gesicht in der Öffentlichkeit bis auf die Augen zu verhüllen. Wer oder was bringt sie dazu, sich dermassen gegen alle Gewohnheit zu stellen? Was steckt dahinter? Wozu tut sie es?

Nikab-Trägerinnen im Westen sind es gewohnt, diese Fragen gestellt zu bekommen. Mehr noch: Viele von ihnen haben, als sie selbst diese Praxis noch nicht pflegten, dieselben Fragen sich und auch anderen Nikab-Trägerinnen gestellt und sich mit den erhaltenen Antworten auch anhand islamischer Quellen und Literatur auseinandergesetzt. Eindrücklich hat die französische Ethnologin Agnès de Féo die persönlichen Zeugnisse französischer Nikab-Trägerinnen in einem Dokumentarfilm zusammengestellt.38

Im Lauf des Films kommen alle auch sonst häufig genannten Motive vor: Die Nikab-Trägerinnen stellen ihre Praxis zum einen als einen Akt der persönlichen Frömmigkeit dar und fühlen sich in ihrer neuen Hülle freier als in herkömmlicher Kleidung: «Man sagt, ich lebe in einem Gefängnis. Dabei habe ich mich im Leben noch nie so frei gefühlt.»39 Mehrere Frauen bezeugen, dass der Nikab sie keineswegs hindere, ausser Haus zu gehen und mit anderen Menschen Kontakt zu haben.

Entlastend finden sie, dass ihr Äusseres bei diesen Kontakten mit den Mitmenschen endlich keine Rolle mehr spiele, wie es eine 31-jährige selbstständige Unternehmerin formuliert. Weil ihr das so gut gefallen habe, habe sie es beibehalten. Eine andere Frau macht ebenfalls geltend, sie wolle in der Öffentlichkeit nicht ausgestellt werden wie ein Stück Fleisch in der Auslage. Den Zwang der üblichen Bekleidungsnormen lehne sie im Sinn eines richtig verstandenen Feminismus ab. Selbst in der Moschee, gegenüber muslimischen Männern, die nicht die islamischen Anstandsnormen einhielten, sei dies ein Schutz, berichtet eine weitere Frau, die inzwischen den Nikab nicht mehr trägt.40

Dass Zwang vom Ehemann oder vom Vater im Spiel sein könnte, wie es gängige Stereotypen behaupten, weisen alle Frauen vehement von sich. Eine 21-jährige Konvertitin weist darauf hin, dass sie nicht verheiratet sei, eine andere hat sich von ihrem Mann, der ihr zu wenig praktizierend war, scheiden lassen. Wieder eine andere betont, dass ihre Verhüllung bei Gott keinerlei Wert habe, wenn sie es aus Gehorsam gegenüber ihrem Mann oder ihm zuliebe tue.41

Begonnen hat es nicht für alle auf dieselbe Weise: Eine 19-Jährige berichtet, sie habe sich aufgrund der Polemik über die Vollverhüllung überhaupt erst für den Nikab zu interessieren begonnen. Sie habe dann mit Nikab-Trägerinnen gesprochen und deren Argumente anhand von Büchern überprüft und für stichhaltig befunden.42

Die Nikab-Trägerinnen in de Féos Dokumentarfilm nehmen für sich nichts anderes in Anspruch als die Freiheit der Kleiderwahl. Diese Freiheit sei ihr doch zuzugestehen, solange sie niemandem schade, sagte eine von ihnen. Eine andere begründet ihre Wahlfreiheit mit dem Koran. Sie fühle sich einfach besser so, sagt die schon erwähnte 21-jährige Konvertitin. Auch der Religionssoziologe Raphaël Liogier sieht die Wahl als typisch für unsere Zeit: «Wir leben im Zeitalter einer Hypermoderne, in der jeder seine Individualität und seine persönliche Wahl zum Ausdruck bringen will», gibt er zu bedenken.43

Die Motive und auch die weiteren Erfahrungen, die der ethnografische Film von Agnès de Féo für Frankreich dokumentiert, finden sich praktisch identisch in anderen erforschten westeuropäischen Kontexten. Ob in den Niederlanden, Dänemark, Belgien oder Grossbritannien – die Suche nach einer besonders gottgefälligen Form der Frömmigkeit und dem angemessenen eigenen Erscheinungsbild, insbesondere im Umgang mit Männern, sind immer wiederkehrende Motive. Agnès de Féo akzentuiert hier etwas anders: Man könne von einer «foi vestimentaire» sprechen, die ihre Frömmigkeit durch die Kleidung zu belegen versuche; die rituelle Praxis entspreche diesem Anspruch nicht immer.44

Als glaubhaft stuften die Forscherinnen jeweils auch die Behauptung ein, dass kein Zwang vonseiten der Familie ausgeübt worden sei. In einem einzigen Fall in Frankreich habe ein Ehemann seine Frau direkt dazu ermutigt; ansonsten hätten manche Familien im Gegenteil eher dahingehend Druck ausgeübt, dass die junge Frau das Nikab-Tragen wieder aufgebe. Besonderes Augenmerk schenkten die Forscherinnen in Frankreich und Dänemark der Vermutung, die Nikab-Trägerinnen seien stark salafistisch beeinflusst. Dies war in beiden Ländern keineswegs immer der Fall.45

Die dänische Forschungsgruppe stellt schliesslich auch die Frage, warum sich die persönlichen Merkmale, aber auch die Themen der Erzählungen von Nikab-Trägerinnen in Westeuropa länderübergreifend so auffallend ähneln. Die Berichte, so beobachten sie, «scheinen als Gegenerzählungen zu den Diskursen in der angespannten politischen und öffentlichen Debatte rund um den Nikab zu fungieren» und daher tendenziell einem gemeinsamen kollektiven Muster zu folgen. Dies bedeute nicht, dass die Nikab-Trägerinnen unaufrichtig von den Motiven für ihre Wahl sprächen. Vielmehr formten sie ihre Erinnerung und die Rahmung ihrer Berichte nach gewissen lesbaren Mustern («in certain recognizable ways»), in denen zumeist die individuelle Frömmigkeit und die persönliche Wahl eine Rolle spielten.46

Die hier referierten Motive für das Tragen des Gesichtsschleiers laufen über weite Strecken parallel zu jenen, die aus der Forschung zur üblichen Bedeckung muslimischer Frauen bekannt sind (siehe Seite 25): Auch junge, im Westen sozialisierte Musliminnen, die ein «Kopftuch» tragen, tun dies in den allermeisten Fällen aus eigener Überzeugung. Sie setzen sich eigenständig mit der Religion ihrer Eltern auseinander, wägen verschiedene Optionen ab und entschliessen sich in manchen Fällen, künftig ihr Haupthaar zu bedecken und sich auch bei der übrigen Kleidung an islamischen Normen zu orientieren. Zugleich können sie im öffentlichen Raum, den sie als sexualisiert empfinden, mit dem Kopftuch Distanz oder Abgrenzung signalisieren, des Weiteren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder auch einen alternativen Kleidungsstil propagieren, der als sichtbarer Protest gegen den westlich-modischen Kleidungsstil verstanden werden will.

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