Kitabı oku: «Das große Still-Kompendium», sayfa 4

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4. DAS GLIEDERUNGSMUSTER DER MEDIZINISCHEN WERKE IM UNTERSCHIED ZUR AUTOBIOGRAFIE

Still gehörte wahrscheinlich zu den Menschen, denen es in der Jugend nicht vergönnt war, eine umfassende, jedenfalls breite Bildung zu erwerben. Zwar entstammte er einem bildungsbeflissenen methodistischen Predigerhaus, aber die Verhältnisse in der Pionierzeit des Amerikanischen Grenzlands waren einer dauernden Bildung nicht sehr günstig. Gleichwohl hielt Still offenkundig wenig von dem Spruch: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. So dürfte er die im Elternhaus erworbene Einsicht, dass der Mensch sich zu Lebzeiten soweit wie möglich vervollkommnen soll, um gut vorbereitet in die unüberbietbar vervollkommnende Ewigkeit zu gehen, auch als Bildungsauftrag verstanden haben. Wie viele intelligente Menschen, die aus ungünstigen Verhältnissen stammen, dürfte er daher einen unstillbaren Bildungshunger besessen haben. So wundert es letztlich auch nicht, dass er es im Alter von über 60 Jahren unternahm zu schreiben. Denn es ist klar, dass Still gewöhnt war, genau zu beobachten, schnell zu schließen, erfolgreich zu behandeln und in allerlei Geschäften wirtschaftlicher und politischer Art seine Lebensbestimmung zu finden. Und ohne Frage hat er viel gelesen, nicht zuletzt medizinische Literatur. Doch zur öffentlichen Darstellung in Büchern befähigt dies nicht zwingend. Hierbei wurde er durch den befreundeten Schriftsteller John Musick bei seinen ersten beiden Büchern unterstützt, ob noch weitere Unterstützer/innen hinzukamen, ist nicht bekannt, obgleich Still dies am Ende der Autobiografie andeutet. Wer aufmerksam Stills Texte liest oder meditiert, wird bald auf ihre sprachliche Gestalt aufmerksam. Stills Sprache ist oft witzig, ironisch, hintergründig. Er liebt auch den Sarkasmus und stellt insbesondere in seiner Autobiografie bestimmte Überzeugungen allegorisch dar, d. h. er erfindet Geschichten, in denen man den gemeinten Hintergrund recht leicht erkennen kann. Wie schon erwähnt, ist die Autobiografie ganz auf das Entstehen der Osteopathie und besonders auf die (von Still wohl eher zögernd betriebene) Aufnahme des Schulbetriebs an der American School of Osteopathy hin ausgerichtet. Still schildert von sich vor allem seinen (früheren) religiösen Hintergrund, die Eindrücke im Grenzland, insbesondere das Leben im ‚Buch der Natur‘, und die Teilnahme am Bürgerkrieg. Dass Still seine frühen religiösen Auffassungen verändert hatte, stärker aufklärerisch gesonnen und Freimaurer geworden war, erfahren die Leser/innen nur in sehr versteckten Andeutungen. Er stellt die Ablösung von der väterlichen und mütterlichen Religiosität konsequent in den Kontext seiner Entdeckung der Osteopathie. Dabei gibt er vor, dass er eigentlich den Sinn der positiven Seiten aller Religionen ohnehin besser verstanden hatte als diese selbst. Falls die ‚Weisen der Kanzel‘ ihre eigenen Worte ernst nähmen, dass Gott vollkommen sei und seine Schöpfungswerke ebenfalls, dann hätten sie schon längst den Widerspruch erkennen müssen, der darin liegt, dass man auf den vollkommenen Gott vertraut, zugleich aber bei Krankheiten Medikamente verordnet.45 Denn in der vollkommenen Schöpfung Mensch sind schon alle Medikamente enthalten. Wendet man diese religiös formulierte Einsicht stärker aufklärerisch, wie Still es tat, dann besagt sie, dass die ‚Naturgesetze irrtumsfrei‘ sind. Gehört zu diesen Naturgesetzen das Bestehen von Selbstheilungskräften, dann muss man nur den Weg finden, wie diese bei einer eventuellen Blockade freigesetzt werden können. Diesen Grundgedanken variiert Still ab Kapitel XII in seiner Autobiografie unaufhörlich und gibt einen Einblick in sein reiches naturbezogenes und kulturelles Wissen, jedenfalls seine breite Beschäftigung mit natürlichen und kulturellen Sachverhalten.

Eine ganze Reihe der Texte ab Kapitel XII scheinen ursprünglich gesprochen zu sein. Dabei zeigt sich, dass Still eine bedeutende Rednergabe besaß – eine in der angelsächsischen Welt bis heute im Unterschied zu Deutschland immer noch verbreitete Fähigkeit. Sie ist bei Still sicherlich durch die Erfahrung im methodistischen Elternhaus begünstigt. Hierzu gehört auch die Lektüre der christlichen Bibel, die alle rhetorischen Mittel und Muster enthält, die auch Still verwendete. Aber auch die vielen Auseinandersetzungen medizinischer und politischer Art in seinem Leben dürften hier – learning by doing – eine ganze Menge verfeinert haben. Als gutes Beispiel eines ausgezeichneten Redners ohne bestimmte rhetorische Ausbildung kann der Bundesaußenminister Joschka Fischer gelten. Beiden ist im Übrigen gemeinsam, dass sie Züge von Originalen aufweisen.

Die Philosophie der Osteopathie, Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie und Forschung und Praxis sind dagegen ganz andere Bücher. Am weitesten steht von diesen Forschung und Praxis der Autobiografie entgegen. Forschung und Praxis ist ein medizinisches Lehrbuch, das einen guten Überblick über Stills Kenntnisse von Krankheiten und Behandlungsmethoden gibt. Wer noch nicht weiß, sondern erst verstehen will, wie eine osteopathische Behandlung funktioniert und wie diese Behandlungsform begründet ist, wird hier fündig. Wie alle Bücher Stills beabsichtigt auch dieses Buch für medizinische Laien verständlich zu sein. In Forschung und Praxis ist am leichtesten verständlich, wie Still das eigentliche Hauptproblem des Schreibens wissenschaftlicher und philosophischer Bücher löste. Er musste die Fülle des Wissens übersichtlich und für Laien oder Studierende verständlich darstellen. In Die Philosophie der Osteopathie und in Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie hatte er dagegen noch experimentiert, sodass insbesondere Die Philosophie der Osteopathie eher unübersichtlich ist. Die beiden Philosophiebücher sind tatsächlich der Gattung nach medizinisch-philosophische Essays, welche die Prinzipien der Osteopathie als Philosophie und mechanische Wissenschaft darstellen, begründen und verteidigen. Darin sind sie den Kapiteln XII ff der Autobiografie verwandt. Aber sie unterscheiden sich in der Begründungstiefe und Detailliertheit ganz wesentlich von ihr. Hierin verweisen sie auf Forschung und Praxis voraus. Sieht man nur die Autobiografie, Die Philosophie der Osteopathie und Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie, dann könnte man behaupten, Still habe nur ‚Prinzipien‘ hinterlassen (Nicholas Handoll).

Da Forschung und Praxis aber zweifelsfrei von Still selbst stammt, muss diese Behauptung modifiziert werden. Dieser Text lässt im Übrigen teilweise erkennen, dass er aus dem Schulbetrieb in Kirksville hervorgegangen, jedenfalls aber darauf bezogen ist.

Man kann die medizinisch-philosophischen Bücher im engeren Sinn auf zwei Weisen darstellen:

(1) systematisch. Dann würde man die Prinzipien von Gesundheit und Krankheit zusammenhängend darstellen (im Falle Stills: detailliert mit allen Möglichkeiten des vor dem Hintergrund möglicher Fehlstellungen des Skeletts, der Muskeln und der Bänder störungsanfälligen Verhältnisses von nerve fluids bzw. nerve action und body fluids) und im Anschluss vielleicht zu den Prinzipien markante Behandlungsbeispiele anführen – oder

(2) leserbezogen. Dann sucht man nach einem Darstellungsprinzip, mit dem die Lesenden (Behandler/innen und Laien) die entsprechende Krankheit finden, erschließen und beurteilen können. Selbstverständlich muss auch diese Darstellungsweise die Prinzipien von Gesundheit und Krankheit berücksichtigen, jetzt aber ganz praxisorientiert.

Still ist den zweiten Weg gegangen. Er versucht den Körper in Unterteilungen zu gliedern und Krankheiten bzw. Behandlungen auf diese Unterteilungen zu beziehen. In Forschung und Praxis liegt der reifste Entwurf vor. Danach gäbe es sieben solcher Unterteilungen des Körpers (Kopf, Rachen und Nacken, Brustkorb, Abdomen, die Bereiche oberhalb des Zwerchfells und unterhalb des Zwerchfells, dazu der spinale Bereich).46 Hinzu kommen aber noch Krankheiten und Behandlungsweisen, die mit diesem Muster nicht klassifiziert werden können oder jedenfalls aus praktischen Gründen nicht sollen. Eine eigene Abteilung stellen die Geburtshilfe und die Ansätze zur Kinderheilkunde dar. Am Anfang und Ende der Bücher stellt Still stets die Prinzipien dar und diskutiert sie philosophisch. Der Autor geht daher pragmatisch vor und hat didaktisch die Praktiker, aber auch die interessierten Patienten im Blick. Sie sollen erschließen können, worum es geht und wie behandelt werden muss. Beide überprüfen dann praktisch, ob das von Still Vorgetragene wahr ist. Der Patient erfährt es, wenn die Behandlung aus seiner Sicht erfolgreich war, er sich also gut fühlt. Und dies ist auch der Maßstab des Erfolgs des Behandelnden. Es gibt hier tatsächlich eine auffällige Parallele zu pragmatistischen Erwägungen:

Wenn wir von der Wahrheit sprechen, so sprechen wir unserer Theorie gemäß von Wahrheiten in der Mehrzahl, von Führungen, die sich im Gebiete der Tatsachen abspielen und die nur die eine Eigenschaft gemeinsam haben, dass sie sich lohnen. Sie lohnen sich eben deshalb, weil sie uns zu dem Teile eines Systems hinführen, das an verschiedenen Punkten in die Sinneswahrnehmungen eindringt, die wir in Gedanken abbilden können oder nicht können, mit denen wir aber jedenfalls in derjenigen Art von Verkehr stehen, die man allgemein als Verifikation bezeichnet. Wahrheit ist für uns ein allgemeiner Name für Verifikationsprozesse, so wie Gesundheit, Reichtum, Körperkraft Namen für andere Prozesse sind, denen man nachstrebt, weil es sich lohnt, ihnen nachzustreben. Die Wahrheit wird im Laufe der Erfahrungen erzeugt, so wie die Gesundheit, der Reichtum, die Körperkraft erzeugt wird. 47

Dr. Martin Pöttner

Heidelberg, den 21. Juli 2005

EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS (2005)

Zugegeben: Stills Texte richtig zu verstehen ist mentale Schwerstarbeit. Die vorigen Ausführungen von Herrn Dr. Pöttner belegen jedenfalls, dass es mit einem einfachen Querlesen der vorliegenden Texte nicht getan ist. Dazu entpuppen sich Sprache und Gedanken Stills bei genauerer Betrachtung als viel zu komplex. Da aber insbesondere jüngere Vertreter therapeutischer Berufe kaum noch einen Zugang zu derartig geisteswissenschaftlich durchdrungenen Texten haben, möchte ich zusätzlich noch ein knappes Panoptikum bunt gemischter Aspekte aus meiner Sicht als Physiotherapeut und Arzt anbieten, das dem Leser helfen soll, sich besser in den Menschen Still zu versetzen.48 Die Zusammenstellung schließt zwar wesentliche Fragestellungen ein, die seit dem Erscheinen der Erstauflage vor drei Jahren an mich herangetragen wurden, sie erhebt aber keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit. Die meisten Ausführungen sind belegbar, andere basieren lediglich auf Indizien.

Da ich der festen Überzeugung bin, dass das Überleben der außergewöhnlichen Philosophie Stills ganz wesentlich von einer (selbst)kritischen laut und öffentlich geführten Diskussion über seine Person, sein Lebenswerk und seine Philosophie sowie deren Bedeutung für die heutige Medizin abhängt, habe ich mich zudem entschlossen auch ganz persönliche Spekulationen meinerseits einzubringen.

GESCHICHTE

Wer Stills osteopathischer Philosophie wirklich nahe kommen möchte, wird nicht umhin kommen, sich ausführlicher mit der Zeit und den Umständen zu beschäftigen, in denen Still gelebt und gewirkt hat. Ohne eine zumindest rudimentäre Kenntnis insbesondere des ‚Amerikanischen Transzendentalismus‘, des Methodismus, der zweiten Industralisierungswelle, der Evolutionstheorie Spencers und den vielfältigen politischen Freiheitsbestrebungen gerade im Grenzland Amerikas im 19.Jahrhundert, dürfte ein tieferes Verständnis der Texte jedenfalls erheblich schwerer fallen. Einen leichten Einstieg in alle wichtigen Themenbereiche bietet die Still-Biografie von Carol Trowbridge, einer langjährigen Mitarbeiterin des Still National Osteopathic Museum in Kirksville, Missouri.49

SPIRITUALITÄT

Für Still, wie auch für die meisten Menschen, ist die Tatsache, dass der Mensch eine dreifach differenzierte Einheit darstellt, unbestritten. Aber Still geht noch weiter und fordert dies auch im therapeutischen Handeln und Denken der Osteopathen ein. Aus dem allmächtigen medizinischen ‚Macher‘ wird ein osteopathischer ‚Mittler‘, der die Natur als eigentlichen ‚Heiler‘ anerkennt. Dieser Wandel zur inneren Bescheidenheit, das Zerstören des therapeutischen Egos zu Gunsten eines humanistischen Miteinanders, bildet bis heute die größte Herausforderung für jeden einzelnen Behandler.

Fakt bleibt: Die klassische Osteopathie und die moderne Medizin mit Ausnahme des psychosomatischen Zweiges stehen sich bezüglich der Bedeutung der Spiritualität für die Behandlung nach wie vor fast diametral gegenüber. Die zunehmende Etablierung des Begriffs ‚Osteopathische Medizin‘ insbesondere in orthopädischen und allgemeinmedizinischen Kreisen zeugt daher entweder von Unkenntnis oder Desinteresse an der tieferen Bedeutung der Osteopathie – was noch entschuldbar wäre – oder aber von kalkulierten machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen. Dass diese Geisteshaltung langfristig dem Ansehen und damit auch dem Marktwert der gesamten Osteopathie und damit auch der ‚Osteopathischen Medizin‘ schaden wird, ist bereits offenkundig.

ELEKTRIZITÄT

Elektrizität gehört inzwischen so selbstverständlich zu unserem Alltag, dass wir kaum noch nachvollziehen können, welche enorme Wirkung sie auf die Menschen insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert gehabt haben mag. Tatsächlich gehört die Elektrizität wie auch Wasser und Licht im Zusammenhang nach wie vor zu den rätselhaftesten Phänomenen der Natur. John Wesley, dem Begründer des Methodismus, durch welchen Still in seinen jungen Jahren nachhaltig beeinflusst wurde, galt sie als Trägerin allen dies- und jenseitigen Lebens. Auch die Spiritisten, Magnetiseure und Mesmeristen, welche die Medizin Amerikas stark beeinflussten und mit denen sich Still ausgiebig beschäftigte, hatten eine vergleichbare Überzeugung. Unter diesem Aspekt sind Stills Ausführungen über die Elektrizität und ihre Bedeutung für das menschliche Lebewesen weit über den rein technischen Aspekt hinaus zu deuten.

METHODISMUS

Erst während der Übersetzungsarbeiten zu John Wesleys Natürliche Arzneien wurde mir klar, dass der Einfluss des Begründers des Methodismus auf Stills Osteopathie weniger im religiösen, als vielmehr im medizinischen Bereich anzusiedeln ist – dort aber scheint er bedeutsam. Hier nur ein Beispiel:

„Einen großen Vorteil haben die meisten in diesem Buch aufgeführten Arzneien gegenüber den üblicherweise angewandten: Der Leser kann sicher sein, dass sie in ihrem Aufbau gut sind, d. h. sie sind rein, ursprünglich, einfach. Aber wer kann sich darauf verlassen, wenn die Medizin, die er verwendet, von einem Apotheker zusammengestellt wird? Vielleicht hat dieser den Wirkstoff, den der Arzt verschrieb, nicht zur Hand und verwendet stattdessen etwas anderes, ‚das ähnlich wirkt‘. Vielleicht hat er den Wirkstoff, aber er ist verdorben und unbrauchbar geworden. Aber Sie würden nicht wollen, dass er die Medizin wegwirft, denn vielleicht kann er sich das nicht leisten. Vielleicht kann er sich nicht leisten, die Arznei so zu mischen, wie es die Herstellungsordnung vorsieht, und kann sie auch nicht zum üblichen Preis verkaufen. Also wird er billigere Inhaltsstoffe verwenden und Sie nehmen schließlich etwas ein, was weder Sie selbst noch der Arzt kennen! Wie viele Schwierigkeiten muss dies hervorrufen! Die Gesundheit wie vieler Menschen wurde hierdurch bereits ruiniert! Wie viele wertvolle Leben sind dadurch bereits verloren!“ 50

ARTERIE ALS KÖNIG

Immer wieder liest man den Begriff ‚Arterie als König‘, ohne dass dies weiter ausgeführt wird. Leider führt dieses Versäumnis zu einer schwerwiegenden Missinterpretation, denn es impliziert mit der Heraushebung des arteriellen Blutflusses einen Absolutpunkt für die Gesundheit des Menschen. Stills osteopathische Philosophie ist aber wesentlich komplexer. Alles entscheidend ist dabei die frei fließende Wechselwirkung und Kommunikation sämtlicher stofflicher und nicht-stofflicher Systeme des menschlichen Lebewesens, das streng den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgend das Potenzial der Selbstregulierung per se in sich trägt. Arterien, Venen, Nerven- und Lymphsystem sind hierbei gleichrangige Strukturgeber. Flüssigkeiten, Gase und Elektrizität die sie füllenden und vermittelnden Medien. Aber auch die Lebenseinstellung und das spirituelle Bewusstsein müssen streng genommen gleichrangig in dieses evolutionäre Fließkonzept eingebunden werden. Scheinbar moderne Ansätze innerhalb der Osteopathie wie Biodynamik und Fluid-behandlung entpuppen sich beim Studium der Werke von Still, Littlejohn und Sutherland demnach rasch als altbekannte, aber rhetorisch geschickt aufbereitete und aufgrund ihres vereinfachenden Charakters gut vermarktbare Weisheiten.

NERVENSYSTEM

Ebenso wie für seinen späteren Schüler und Entdecker der Kranialen Osteopathie, W. G. Sutherland, stellte auch für Still das Verständnis des Nervensystems einen Generalschlüssel zur osteopathischen Behandlung dar. Still wäre aber nicht Still, hätte er nicht auch hier eine bis heute ungeklärte Besonderheit erörtert. Insbesondere die Begriffe ‚nährendes‘, ‚mentales‘ oder ‚emotionales‘ Nervensystem geben Anlass zu weit reichenden Spekulationen. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass aber die Klärung dieser Frage einen bedeutenden Einfluss auf den osteopathischen Behandlungsansatz haben könnte. Wertvolle Informationen zu diesem Thema finden Sie in der Dissertation Still’s Fascia der kanadischen Osteopathin und gegenwärtig wohl weltweit bedeutendsten Still-Historikerin, Jane Stark DO.

GANZHEITLICHE BEHANDLUNG

Fragt man Osteopathen, was sie unter ganzheitlicher Behandlung verstehen, bekommt man oft zu hören, dass die Behandlung eines Körperteils sich auf den gesamten restlichen Körper auswirkt. Dies entspricht aber nicht der ganzheitlichen Behandlung im Sinne Stills osteopathischer Philosophie. Da der Mensch eine dreifach differenzierte Einheit darstellt, muss die Ganzheitlichkeit auch die mentalen und spirituellen Aspekte des Menschen (Patienten und Therapeut) einschließen – auch wenn Still dies nicht explizit ausführt. Ein Osteopath erfüllt demnach drei Funktionen zugleich: Er behandelt den Körper, er regt zur Selbsterkenntnis an und er interessiert sich für die seelischen Aspekte. Für Still ist der Osteopath Körperarzt, Psychologe und Seelsorger in einer Person.

HOMÖOPATHIE

Anhänger alternativen Heilmethoden sind immer wieder von Stills ablehnender Haltung gegenüber der Homöopathie überrascht. Dabei ist ziemlich offensichtlich, wie er zu dieser Einstellung kam:

„Ich erklärte weiterhin, dass der menschliche Körper Gottes Apotheke sei und alle Flüssigkeiten, Medikamente, feuchtende Öle, Opiate, Säuren und Laugen und überhaupt alle Arten von Medikamenten in sich trage, welche die Weisheit Gottes für menschliches Glück und Gesundheit als nötig erachtet hat.“

Sobald alle Anteile des Menschen richtig angepasst sind, bedient sich der Körper in ‚Gottes Apotheke‘ und reguliert sich dadurch selbst. Für Still bewies die Zufuhr zusätzlicher Substanzen unabhängig von Wirkmechanismus oder Dosis ein mangelndes Vertrauen in die Vollkommenheit der Schöpfung – dem Kernstück von Stills osteopathischer Philosophie. Zusätzlich muss festgestellt werden, dass auch das umfassende Konzept Hahnemanns bis heute nur von wenigen Homöopathen wirklich vollständig durchdrungen und entsprechend angewendet wird, was unweigerlich zu einer Mittelwahl nach persönlichen Vorlieben oder nach vorgegebenen Schemen und Tabellen führt. Es ist anzunehmen, dass diese Praxis auch zu Stills Lebzeiten weit verbreitet war und seiner Skepsis damit zusätzlich begründete Nahrung verschafft hat.