Kitabı oku: «Lieber guter Weihnachtsmann, schau mich nicht so böse an», sayfa 2
2. PREIS
Regine Röder-Ensikat
Gier
„Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit“, von klaren, hellen Knabenstimmen gesungen, locken Uwe Pfeifer an das Wohnzimmerfenster seiner Altbauwohnung. Von hier aus hat er einen wunderbaren Ausblick auf den Gendarmenmarkt. Er liebt die geschichtsträchtige Kulisse, von der schon Goethe schwärmte und in Knüttelversen pries: „Prophete links, Prophete rechts, das Weltkind in der Mitten“. Pfeifer sieht das Schauspielhaus, eingerahmt vom Französischen und vom Deutschen Dom. Er liebt diesen Platz, diese Gegend, auch unter einem kulinarischen Aspekt. Für ihn, den Viel- und Gutesser ein märchenhaftes Umfeld. Im Café Möhring frühstückt er und lässt sich oft nach einem langen Arbeitstag im Restaurant Lutter und Wegener mit Köstlichkeiten der internationalen Küche und deliziösen Weinen verwöhnen.
Alle Jahre wieder wird unter seinem Fenster der schönste Weihnachtsmarkt der Stadt aufgebaut. Düfte von Zimt, Anis, Glühwein und gebrannten Mandeln füllen die Luft und schweben zu ihm hinauf in den dritten Stock seiner Wohnung und locken ihn täglich in das Schlaraffenland. Schwedische Elchsteaks, französische Spezialitäten wie Crêpes, Käse und Trüffel, auch holländische Puffertjes, Nürnberger Lebkuchen und Bratwürste aus deutschen Landen kostet er dann und genießt.
Ganz bewusst hat Uwe Pfeifer sich jetzt, in der Adventszeit, für eine Abmagerungskur entschieden. Zu genau kennt er seine Schwächen. Er muss seiner Völlerei entfliehen, denn er ist dick, sehr dick und felsenfest entschlossen abzunehmen. Ein schwerer Entschluss, wie er aus Erfahrung weiß, denn schon viele Male haben qualvolle Diäten nie das gewünschte Ergebnis gebracht. Sie endeten immer so, dass er, meist ein umgänglich heiterer Junggeselle, in tiefe Depressionen fiel.
Für eine Diät in den eigenen vier Wänden ist die Vorweihnachtszeit so gar nicht geeignet, aber in diesem Jahr will er seine Genußsucht bändigen.
Er hat sich eine Klinik im Berliner Bezirk Zehlendorf ausgesucht. Hier wird nach dem Motto „Schlank macht glücklich“ eine ganzheitliche Behandlung angeboten, eine Erfolg versprechende Lösung seiner Probleme: Heilfasten mit Säften und Kräutertees, Gymnastik und Massagen, ein vielseitiges Programm.
In einer Villa am kleinen Wannsee, umgeben von einem Park mit alten Buchen und Kiefern, die bis zum Wasser reichen, weitab von den vielen Weihnachtsmärkten, hungert er nun seit einer Woche nach der dürftigen Gemüse- und Säftekur von Frau Doktor Elisabeth Schönstett.
Der anstrengende Aufenthalt wird ihm durch Genüsse besonderer Art jedoch verschönert und erleichtert. Vom Fenster seines Zimmers hat er Ausblick in ein Reihenhäuschen, das der Klinik gegenüber liegt, in dem ein junges, hübsches Wesen in einer Küche herumläuft. Der Anblick entzückt ihn, denn trotz Novemberkälte ist die Frau immer leicht bekleidet. Sie ist vollschlank und rotgoldene Haare umspielen ihr Gesicht wie eine Abendhimmelwolke.
Uwe Pfeifer beginnt sich für sie lebhaft zu interessieren.
Er hat sich einen Feldstecher besorgt, um einen besseren Einblick zu haben.
Hungrig sitzt er in der anwendungsfreien Zeit am Fenster seines Zimmers und beobachtet die junge Frau bei ihren häuslichen Verrichtungen. Dabei vertieft er sich auch in die bunten Etikettenaufschriften der Konserven, die ihm verführerisch ins Auge stechen. Nachts träumt er von der Nachbarin. Sie füttert ihn mit deftigem Sauerkraut und Schweinskrustenbraten, und zum Nachtisch steckt sie ihm kleine Kuchen in den Mund. Als er erwacht und zum Frühsport gerufen wird, gerät sein seelisches Gleichgewicht mächtig ins Wanken.
Er richtet das Vergrößerungsglas auf das Haus gegenüber.
Die junge Frau aus seinem Traum sitzt bereits bei einem üppigen Frühstück.
Ein Klopfen an seiner Zimmertür schreckt ihn auf. Eine Schwester meldet den Besuch der Klinikleiterin an. Das verheißt nichts Gutes. Und so ist es dann auch. Frau Doktor Schönstett, eine superschlanke Vierzigerin mit gebirgsbachkalten Augen, die ihn böse anblitzen, tritt ein. „Was ist das?“ Sie weiß natürlich selbst, was sie da auf den Tisch geschleudert hat.
„Keine Ahnung, noch nie gesehen“, antwortet er mit unschuldiger Miene.
Die Ärztin antwortet scharf: „Das ist eine Tafel Schokolade – Vollmilch – Traube – Nuss! Ich habe sie in der Deckelvase im Speisesaal entdeckt“, zischt sie. „Ihnen ist doch bekannt, dass ich Sie ermahnen muss. Der Verzehr von Schokolade ist während der Fastenkur verboten.“
Pfeifer lächelt überlegen. „Diese Vase ist für jedermann frei zugänglich.“
Frau Doktor entgegnet kopfschüttelnd: „Das weiß ich. Dieses Argument benutzen alle, die sich dort ein Nahrungsdepot einrichten.“
Pfeifer ist geschockt, er hat verstanden. „Diese blöde Vase ist eine gemeine Falle. Unschuldige Patienten, die vor Hunger fast umkommen, nicht aus und ein wissen, werden durch sie verführt.“
„Wenn ich Sie daran erinnern darf, sind Sie doch freiwillig hier und können, wenn Sie sich nicht an die Hausordnung halten, die Klinik sofort verlassen, bitte schön.“
Pfeifer knirscht mit den Zähnen. Er hat verloren. Frau Doktor Schönstett mustert ihn noch einige Sekunden und verlässt mit einem resignierten Seufzer das Zimmer.
Vorbei sind nun die Nächte, als er die erbärmlich dünne Brühe-Diät mit Schokolade etwas erträglicher gemacht hatte. Es blieb der quälende Hunger und noch drei Wochen liegen vor ihm. Er braucht jetzt seine ganze Kraft, um nicht wieder in eine depressive Stimmung zu verfallen. Natürlich will er abnehmen, wer will denn schon zwei Zentner wiegen. Aber doch nicht so radikal und unmenschlich.
Alles was ihm nun bleibt, ist die dralle Nachbarin. Pfeifer greift wieder zum Feldstecher und sieht, wie sie an einem Hühnerschenkel kaut und sich genüsslich alle zehn Finger ableckt. Ihm wird ganz flau, doch dann hat er eine Idee.
Das Häuschen der Nachbarin grenzt an den rückwärtigen Teil des Klinikgartens, der mit majestätischen Buchen und einer dichten Haselnusshecke bewachsen ist. In dieser Hecke ist ein Durchgang, den er ja schon für seine Beobachtungen nutzt. Diese Lücke will er noch besser nutzen und einen persönlichen Besuch vorbereiten. Im Park schlendert er, wie in Gedanken versunken, unter den Buchen auf und ab und beobachtet die Fenster der Klinik. Keiner der Patienten scheint sein Spannerhobby zu teilen. Brav gehen wohl alle zu ihren zehrenden Anwendungen. Der erste Frost lässt die Blätter unter seinen Füßen knacken. Uwe Pfeifer schlüpft durch die Hecke und überquert eine kopfsteingepflasterte Straße. Der Wind lässt Plastikbecher und Papiertüten um seine Beine tanzen, dann steht er vor dem Reihenhäuschen. Das Küchenfenster, durch das er so oft gespäht hat, liegt wenige Meter vor ihm. Sein Mut verlässt ihn. Was wird geschehen, wenn die schöne Nachbarin ihn für einen Einbrecher hält?
Der Zufall kommt ihm zu Hilfe. Eine Windböe schleudert einen trockenen Ast mit einem lauten Krachen gegen das Küchenfenster. Die junge Frau kommt erschreckt aus dem Haus gelaufen.
„Nur keine Aufregung“, ruft er und schwingt seine Fülle über den niedrigen Gartenzaun, wobei seine Gelenke bedenklich knirschen. Behände, wie ein Gummiball, hüpft er durch den kleinen Vorgarten und zerrt den Ast in Richtung eines Komposthaufens. Die Frau sieht seinem Treiben zu und versucht ihre Bluse über die Schenkel zu ziehen. Pfeifer lächelt verbindlich, reicht ihr seine Hand und stellt sich vor.
„Pia Vogel“, erwidert sie verwirrt.
„Es wird gleich zu schneien beginnen, ziehen sie sich lieber etwas über.“
Dankbar nimmt sie diesen Rat an, eilt ins Haus. Mit einem dicken Wollpullover und einem Schlabberrock kommt sie zurück und streckt die Hand nach dem Ast aus, den Pfeifer noch immer umklammert.
„Wenn Sie eine Säge haben, mache ich ihn schnell klein.
„Mein Mann wird im Werkzeugkasten vermutlich eine haben. Ich schau mal nach.“
Was, ein Mann? Seit fast einer Woche nimmt er am Leben der Pia Vogel teil und hat noch nie ein männliches Wesen gesehen. Sich auf einen Herrn Vogel einzustellen, damit hat er nicht gerechnet.
Pia Vogel reicht ihm einen Fuchsschwanz.
Pfeifer bückt sich und beginnt den Ast zu zersägen.
„So, das hätten wir“, ruft er, nachdem er ihn in kamingerechte Stücke zerlegt hat. Mühsam richtet er sich wieder auf und unterdrückt ein Stöhnen. Die ungewohnte Anstrengung hat ihm den Schweiß auf die Stirn getrieben. Er räuspert sich.
„Wenn Sie vielleicht ein Glas Wasser hätten?“
Pia steht betreten neben ihm, weiß nicht so recht, was sie mit dem fremden Helfer anfangen soll. Pfeifer geht aufs Ganze.
„Wissen Sie, eine Tasse Tee wäre schön bei diesem Wetter.
„Ich wollte mir gerade einen Earl Grey aufgießen.“
„Prächtig, dann mache ich ja keine Umstände.“
Kurz darauf sitzt Pfeifer an dem gedeckten Küchentisch, den er so viele Male sehnsüchtig beobachtet hat.
Pia Vogel öffnet eine Keksdose, deren bunten Aufdruck er bereits kennt, und zaubert aus dem Küchenschrank weiß bepuderte Windbeutel.
Uwe Pfeifer fühlt sich so wohl wie lange nicht und ist endlich wieder mit sich und der Welt versöhnt. Er lässt die Köstlichkeiten auf der Zunge zergehen und verdreht vor Wonne die Augen.
„Ganz vorzüglich“, sagt er zu seiner Gastgeberin, die ihn freundlich mustert. Während er sich die zweite Tasse Tee eingießen lässt, ermahnt er sich zu einer Plauderei, denn oft ist er unfähig, ganz zwanglos ein Gespräch zu beginnen. Was soll er sagen oder fragen. Er hofft, dass ihm etwas einfällt, und dann hat er wieder eine Idee. „Einen schönen Garten haben Sie. Man sieht das auch bei diesem Novemberwetter, wenn die Natur vor dem Winter zu schlafen beginnt.“
Und dann, als wäre der letzte Satz von Uwe Pfeifer ein ‚Sesam-öffne-dich‘ gewesen, beginnt Pia Vogel zu reden. Sie spricht von der Arbeit, die ein noch so kleiner Garten macht. Er hätte es ja selbst erlebt, denn Äste würden bei jedem Windstoß von den alten Bäumen geweht. Sie erzählt von Besuchern, die sie am Tag der ‚Offenen Berliner Gärten‘ begrüßen konnte, auch von ihrer Kindheit auf einem Bauernhof bei Lübars, von Nachbarn und von Hunden, die überall hinpinkeln, und streunenden Katzen, die ihr die Vögel vertreiben.
Pfeifer genießt es. Eine Antwort wird nicht erwartet. So kann er sich ganz ungeniert dem Genuss der verbotenen Nürnberger Lebkuchen hingeben und lauscht versonnen ihrem Redefluss. Ihr berlinischer Akzent hat etwas Vertrautes.
Jäh schreckt er auf, als ein Kuckuck krächzend aus einer Uhr hervorschnellt und sechsmal seinen Ruf ertönen lässt.
18.00 Uhr! Zu dieser Zeit wird in der Klinik die sehr übersichtliche Mahlzeit serviert.
„Wir haben uns verplaudert. Ob ich wohl morgen wiederkommen darf?“
„Gern“, gibt sie ohne Zögern zur Antwort. Pfeifer verabschiedet sich, wählt wieder den Weg über die Straße durch die Hecke und schleicht, nun in der Dunkelheit, zurück in die Klinik.
Am folgenden Tag steht er pünktlich um 16.00 Uhr vor Pia Vogels Haus. Von seinem Frühstückstisch hat er das kleine Tannengesteck mitgenommen.
„Wie hübsch“, sagt sie.
Der Tisch, diesmal im Wohnzimmer, ist schon gedeckt. Es gibt Kaffee, dazu einen guten Cognac und Uwe Pfeifer weiß es schon, er hat die Nachbarin am Vormittag beobachtet, Apfelkuchen mit Sahne. Pia Vogel schenkt Kaffee ein, setzt sich ihm gegenüber und schweigt. Wieder überlegt Pfeifer krampfhaft, was er sie fragen kann.
„Vermissen Sie eigentlich den Bauernhof und die Tiere mit denen Sie aufgewachsen sind?“
Mit dieser Frage hat er ins Schwarze getroffen. Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück, lässt ihren Blick in die Ferne schweifen, und beginnt zu erzählen. Pfeifer lauscht ihren Erinnerungen, für ihn eine melodiöse Tischmusik, die seine Mahlzeit, später serviert sie ihm noch gefüllte Schinkenröllchen mit Melonenstücken und Käse, dezent begleitet.
Wieder meldet der krächzende Kuckuck die Stunde des Klinikabendbrotes. Wie selbstverständlich verabschiedet er sich diesmal mit den Worten: „Dann bis morgen.“
Am nächsten Tag kann er es kaum erwarten, denn er hat Pia Vogel wieder beobachtet, hat gesehen, wie sie für ihn kocht. Sie ist ein Geschenk des Himmels. Seine Pfunde scheinen sie nicht zu stören, im Gegenteil, sie ist dabei, sie zu vermehren. In seinem Hungermartyrium erscheint sie ihm als eine Fee mit einem übergroßen Füllhorn.
„Ich habe eine Überraschung für Sie“, begrüßt Pia ihn geheimnisvoll. „Sie können sie erriechen.“
Pfeifer, der kein Spielverderber sein will, zieht geräuschvoll die Kochdüfte durch die Nase ein und stellt sich unwissend.
„Gulasch?“, fragt er, obwohl er den saftigen Braten schon vor der Linse gehabt hat.
„Fast richtig, und was gibt es dazu?“
„Vielleicht Pilze?“
Pia Vogel klatscht in die Hände. „Sie sind ein Feinschmecker!“
Sein Blick schweift durch den Raum und bleibt auf einem Bild mit einem Männerkopf hängen. „Ihr Mann ist wohl selten zu Hause?“, fragt er.
Sie schweigt und Pfeifer läuft es plötzlich eiskalt über den Rücken, die falsche Frage am richtigen Ort. Er sieht alle Köstlichkeiten im Kühlschrank verschwinden und sich selbst wieder an der widerlichen Brühe in der Klinik nippen. Pia Vogel blickt ihm fest in die Augen.
„Ich bin froh, dass Sie mir diese Frage stellen. Mein Mann und ich führen keine Ehe mehr. Er hat eine Freundin, die ganz schlecht kocht. Darum kommt er jedes Wochenende zu mir, räumt den Kühlschrank aus, nimmt alle Lebensmittel, auch meine gebackenen Kuchen, mit zu dieser neuen Frau.
„Hmm“, macht Pfeifer und schiebt sich genüsslich eine Gabel Pilze in den Mund. Sie sind ein Gedicht und schmecken nach Wald und Erde, dann sieht er sie mitfühlend an.
Pia Vogel spricht bewegt. „Sie glauben gar nicht, wie gut es mir tut, einen Menschen zu haben, der mir zuhört. Sie geben mir neuen Lebensmut, und ich weiß jetzt endlich, wie ich mich verhalten muss.“
Uwe Pfeifer ist gerührt, nimmt trotzdem wahr, dass sie von einem Plan spricht, den sie am Nikolaustag in die Tat umsetzen will.
„Pia Vogels Mann“, denkt er, „ist bestimmt für viele Gespräche der kommenden Nachmittage tauglich.“
Er lauscht ihren Worten und fragt sich, ob er nicht schon um Kaffee bitten kann oder ob es höflicher ist, damit zu warten.
Pia Vogel setzt Kaffeewasser auf. Pfeifer findet es wunderbar, wie sie ihm die Wünsche von den Augen abliest.
„Bis morgen“, sagt sie, als der Kuckuck die Trennungsstunde meldet.
Nach dem Überqueren der Straße wird aus dem Lustesser Pfeifer wieder der Patient, der frustriert vor der Kalorienkiller-Brühe sitzt.
Dank Pia Vogels Kochkunst schläft er in der Nacht tief und fest. Fast hätte er seinen Frühsport versäumt.
„Pia Vogel hat einen Plan, einen Plan, der ihren Mann betrifft“, überlegt er, während er mit zwanzig anderen Dicken durch den Park keucht.
Aber Pfeifer kann es nicht lassen, sich auf das nachmittägliche Mahl einzustimmen. Er guckt durch das Fernglas und was er da sieht, erregt ihn. Die schöne Nachbarin verrührt Eier, Zucker und Mehl. Viele leckere Backzutaten liegen auf dem Küchentisch. Er erkennt Hagelzucker, Vanillestangen, Kokosraspeln, Rosinen, Nüsse und Mandeln, alles, was eine gute Hausfrau für die Weihnachtsplätzchenbäckerei braucht.
Dunkel schweben ihm noch ihre Gesprächsfetzen von gestern durch den Kopf. Ist heute nicht Sonnabend, der Tag an dem Herr Vogel den Kühlschrank ausräumen wird, um den Inhalt mit seiner neuen Frau zu verzehren?
Siedendheiß kommt ihm der Gedanke, dass dieser Mensch, dieser Unmensch, alle Plätzchen einpacken wird. Kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn. Am liebsten wäre er sofort losgelaufen, um wenigstens ein paar der Köstlichkeiten zu retten, doch er zwingt sich zur Ruhe, der Ehemann wird bestimmt erst am Abend auftauchen. Pfeifer sitzt am Fenster und wartet. Die Zeit schleicht. Er drückt das Glas an die Augen. Die Plätzchen müssten längst fertig sein. Da, endlich holt Pia Vogel das Kuchenblech aus dem Ofen und trägt es zum Tisch. Knusprig und braun lachen ihn die süßen Leckereien an. Seine Gier wächst. Punkt 16.00 Uhr steht Uwe Pfeifer vor Pias Tür und stürmt in die Wohnung. „Seien Sie nicht so ungeduldig“, flüstert sie. „Bald koche und backe ich nur noch für Sie.“
Er hört ihre Worte nicht, denn er muss sehen, ob die Plätzchen für ihn bestimmt sind.
Auf dem Küchentisch liegt ein großer Stoffstiefel, geschmückt mit grüner Tanne und roten Schleifen, prall gefüllt mit den leckeren Backwaren.
„Na, was sagen Sie dazu? Die Überraschung wird meinem Mann sicher gefallen.“
Pfeifer erstarrt, er hat es geahnt, die Köstlichkeiten waren nicht für ihn bestimmt. Nein, der Rohling wird sie mit seiner Geliebten verzehren, und er wird leer ausgehen.
Da klingelt das Telefon.
„Bin gleich wieder da“, ruft Pia und verlässt die Küche.
Jetzt oder nie.
Pfeifer öffnet den Nikolausstiefel, stopft sich mehrere Plätzchen in die Taschen, einige schiebt er sofort in den Mund. Er kaut und schluckt gierig. Und plötzlich ist ihm, als explodiere etwas in seinem Magen, gleißendes Weiß füllt seinen Kopf, dann breitet sich die Helligkeit in seinem ganzen Körper aus.
Er sackt auf den Bodenfliesen der Küche zusammen.
Pia Vogels entsetzte Schreie sind in seinem Schmerz die letzte Wahrnehmung. „Diese Kekse habe ich doch für meinen Mann gebacken!“ Laut und hysterisch ruft sie es mehrere
Male, so, als könne sie Uwe Pfeifer dadurch wieder lebendig
machen.
Dann wird es still.
Nur das Rattern der S-Bahn ist von Ferne zu hören.
3. Preis
Jürgen Rath
Schnee im Grunewald
Es klingelte. Schrill und lang. Walther schreckte hoch. Wer das wohl ist? Die mobile Pflege? Nee, so früh kommen die nicht.
Er blickte zum Radiowecker, musste ganz nahe herangehen, weil er die Brille nicht fand. – Was, schon zehn Uhr? Wie die Zeit vergeht. Ich hab’ doch gerade noch hingeschaut, da war’s acht. Was ist denn passiert in den letzten zwei Stunden?
Er blickte an sich hinunter. Ach ja, er hatte das Unterhemd und die Unterhose angezogen, letztere sogar richtig herum. Gar nicht schlecht in einer so kurzen Zeit. Andere in seinem Alter liefen den ganzen Tag im Schlafanzug umher.
Wieder klingelte es, genauso schrill, aber viel anhaltender. Walther tapste zur Tür. Durch die Milchglasscheibe erkannte er die Umrisse eines kleinen Mannes. „Ach nein“, brummte er, „der Herr Schwiegersohn. Was will denn dieser Affe hier?“ Aufreizend langsam drehte er die drei Schlüssel herum und löste die Sperrvorrichtung an der Tür. „Was willst du?“
„Guten Morgen, Opa. Ich will dich abholen.“
„Opa? Ich geb dir was mit ‚Opa‘! Ich bin nicht dein Opa. Und Enkel habe ich auch nicht, ihr habt ja keine hinbekommen.“
„An mir hat es nicht gelegen“, antwortete der Mann scharf.
Walter tastete mit den Händen an der Kommode entlang, riss das Telefon herunter, es störte ihn nicht. In der Küche strich er über die Arbeitsplatte, wieder polterte es. Das war die Brille, jetzt lag sie im Spülbecken. Endlich konnte er Harald deutlicher erkennen mit seinem schmalen Kopf, der langen Nase und dem fliehenden Kinn.
Ekelhafter Kerl! Wie konnte sich meine Tochter nur in so ’ne halbe Portion verlieben? Und dann hat se auch noch sein Namen angenommen: Birgit Terpe, Kreuzberger Adel. Der schreibt sich ja jetzt mit ’nem Akson irgendwas: Terpé. Macht ihn aber auch nicht größer. Terpeee!
„Ich habe dich nicht hergebeten.“
„Ich will dich abholen. Bald ist Weihnachten.“
„Weihnachten? Jetzt schon?“
„Ich habe wieder einen Heimplatz bekommen. Kurzzeitpflege, nur über die Feiertage.“
Walther fröstelte in seinem Feinripp-Trägerhemdchen. Er rieb sich über die schlaffen Armmuskeln.
„Heimplatz? Ich brauche keinen Heimplatz. Ich wohne hier.“
„Im Heim wirst du gut betreut über die Feiertage. Letztes Jahr warst du sehr zufrieden damit.“
„Ich brauche keine Betreuung. Ich komme allein zurecht.“
Harald packte ihn unvermittelt am Handgelenk und zerrte ihn in den Flur hinaus. „Schau her! Die mobile Pflege hat diese Schilder an die Türen geklebt. Hier: ‚WC‘, da: ‚Wohnzimmer‘ und dort: ‚Schlafzimmer‘.“
Was die alles an meine Türen schreiben. Ob ich denen das erlaubt hab? „Warum steht das da?“
„Weil du verwirrt bist. Du findest dich nicht mehr allein zurecht.“
Der kleine Mann kam ihm näher, schnupperte mit angeekeltem Gesicht.
„Außerdem riechst du nach Pipi.“
„Ich rieche überhaupt nicht nach Pipi!“
„Nein, du riechst nicht, du stinkst bestialisch.“
Höflichkeit musst du noch lernen, Junge. „Du brauchst nicht so zu schreien, ich höre sehr gut.“
Das war gelogen. Er hörte nicht mehr gut, jedenfalls nicht auf dem rechten Ohr. Nur noch 20 Prozent, hatte der Ohrenarzt gesagt. Dafür höre ich auf dem anderen Ohr viel besser, hatte er dagegen gehalten. Ich kann die Flöhe husten hören, wahrscheinlich habe ich dort 200 Prozent. Ich kann nur bis 100 Prozent messen, mehr geht nicht, hatte der Arzt gesagt.
„Wir müssen los“, drängte Harald, „soll ich dir beim Anziehen helfen?“
„Fass mich nicht an!“
Es dauerte. Endlich war Walther angezogen. Doch noch konnten sie nicht losgehen, der Zahnersatz war verschwunden. Gemeinsam suchten sie. Sie fanden das Gebiss in der Bio-Tonne.
„Schmeckt nach Rosenkohl“, sagte Walther.
„Also los jetzt!“
Walther wollte etwas erwidern, der Zahnersatz fiel auf die untere Zahnreihe. „Ich geh nicht mit einem klappernden Gebiss auf die Straße.“ Er nahm es aus dem Mund, leckte es sorgfältig ab, tropfte Haftcreme auf die Gaumenplatte, setzte das Gebiss wieder ein, wartete. „Frag mich was.“
„Können wir jetzt los?“
Walther strahlte. „Jetzt klappert es nicht mehr.“
„Wo steht dein Auto“, fragte Walther, als er vor der Tür stand.
„Ich habe um die Ecke geparkt. Hier ist ja nie etwas frei.“
Walther schaute die Straße hinunter. Da stand nur der Wagen von dem Nachbarn.
Der Weg zum Auto war beschwerlich. Dass die Gehwegplatten so stümperhaft verlegt sind, ich komm ja kaum über die Kanten weg. Ich wünsche niemandem meine Zuckerfüße. Im Auto nahm er seinen Stock zwischen die Beine und lehnte sich erschöpft zurück.
„Seit wann brauchst du einen Stock?“, fragte Harald, während er sich in den Verkehr einreihte.
„Ich brauche keinen. Den nehme ich nur aus taktischen Gründen mit.“
„Taktische Gründe?“
„Ja, doch. Wenn ich beim Bäcker in der Schlange stehe und mich auf den Stock stütze und laut stöhne, dann lassen die mich fast immer vor.“
Der Mann schaute anerkennend. „Du bis ja ein ganz Abgebrühter!“
„Nützt mir leider nicht viel. Wenn ich dann vorne stehe, habe ich meist vergessen, was ich will.“
Sie fuhren den Kaiserdamm entlang, Walther betrachtete die vorbeiziehenden viktorianischen Häuser.
„Wohin fahren wir?“
„Nach Wilmersdorf. In den Grunewald.“
Grunewald? Da war ich doch immer mit meinen Eltern. Auf’m Teufelsberg, zum Schlittenfahren. „Im Grunewald gibt es kein Altersheim!“
„Doch, gibt es. Wann warst du das letzte Mal im Wald?“
„Muss schon ein paar Tage her sein.“
„Eben.“
Am Messegelände blickten beide zum Funkturm hin.
„Du hast was vergessen“, sagte Harald.
„Was vergessen?“
„Hier flötest du doch immer den alten Werbespruch: ‚Wir sehen uns wieder, unterm Funkturm, in Berlin’.“ Er versuchte, seiner Stimme den piepsigen Klang der damaligen Sprecherin zu geben.
„Den Spruch verkneif ich mir inzwischen. Ist ja keiner mehr da, den ich wiedersehen will.“ Außer Birgit natürlich. Meine Birgit! „Warum ist Birgit nicht mitgekommen?“
Harald war so überrascht, dass er das Steuer verriss. Von der Nebenspur hupte es empört. Dann hatte er das Auto wieder unter Kontrolle.
„Ach, weißt du, die wartet im Heim. Da muss einiges an Papierkram erledigt werden.“
Walther grübelte. Es gab so viele Gänge in seinem Gehirn, so viele Verzweigungen, alle angefüllt mit Erinnerungsmüll, welcher Gang war der richtige? Und dann diese Quergänge, die brachten alles durcheinander. In einem der dunklen Gänge sah er Birgit als kleines Mädchen mit Zöpfen, in einem anderen war ein schrecklicher Autounfall, alles voller Blut! Hatte dieser sonderbare, unaufgeklärte Unfall etwas mit seiner Tochter zu tun? Oder war das jemand anderes?
Plötzlich schreckte er hoch. „Ich habe keinen Schlafanzug dabei. Und keine Zahnbürste.“
Harald blickte konzentriert nach vorne. „Keine Panik! Ist alles hinten im Kofferraum.“
Die Straße schwenkte nach Süden. Auf der Avus wechselte Harald auf die linke Spur und trat das Gaspedal durch. Der Wagen heulte auf, die Landschaft raste an Walther vorbei.
„Eine riesige Kiste fährst du“, sagte er. „Sieht reichlich teuer aus.“
Der Mann fuhr liebevoll über das Lenkrad, seine Augen funkelten. „Ein tolles Auto, nicht wahr? 240 PS, 16 Ventile. Hast du die phantastische Beschleunigung gespürt? Dieses Auto habe ich mir schon immer gewünscht.“
„Kannst du dir so etwas überhaupt leisten? Du bist doch immer pleite.“
„Kümmere dich um deine Sachen, Alter!“ Harald schaute zornig herüber. Doch dann lächelte er selbstgefällig. „Ich arbeite gerade an einem großen Projekt. Bin fast am Ziel. Dann fließen die Gelder.“
Erzähl mir was, das glaubt doch keiner. Aber was kümmert mich das. Ich hab’ mein Häuschen. Und mein Geld auf der Bank. Das wird Birgit erben. Hoffentlich gibt sie dem Versager nichts ab.
Sie verließen die Avus am Hüttenweg, fuhren jetzt durch den Wald. An einer Biegung schwenkte der Mann in einen schmalen Pfad ein. Hier, zwischen den Bäumen, war es fast dunkel.
Kein Schnee! Das würde den Dezember heller machen. Als Kind hatte ich immer Schnee an Weihnachten. Immer! Aber es ändert sich ja so viel in der letzten Zeit. Er schloss die Augen.
Irgendwas stimmt hier nicht. Ein Altersheim im Grunewald, sehr merkwürdig. Und im letzten Jahr soll ich auch schon im Heim gewesen sein, kaum zu glauben. Doch, jetzt erinner ich mich. Wie war das noch gleich? Da gab’s einen Aufenthaltsraum. Vorhof zur Hölle hab’ ich den genannt. Nur alte Frauen im Saal, welk und zerknittert wie weggeworfenes Papier. Quatschten den ganzen Tag immer über das Gleiche, ihre Krankheiten, du meine Güte. Da gab’s auch welche, die hingen nur in ihren Rollstühlen rum und rührten sich nicht. Und dann war da die eine, die stieß ständig so ’nen durchdringenden Schrei aus, da konnte man das Fürchten kriegen. Mich hat’s nicht gestört, ich hab’ ja immer nur aus dem Fenster geschaut.
Er betrachtete die Bäume. Nach Altersheim sah es hier nicht aus.
War ich wirklich dort? Oder hab ich nur Karl besucht? Warum kann ich mich nicht erinnern?
Über diesen Gedanken schlief er ein. Und träumte. Er saß im Zug, der durch die Nacht raste. Plötzlich wurden die Gleise enger, der Wald rückte näher, der Zug sprang aus den Schienen, er rumpelte und schwankte über die Schwellen. Rumpeln war ganz schlecht für seine Blase. Er musste zur Toilette, doch die Tür war abgeschlossen. Er ging auf und ab, kniff die Beine zusammen, dachte an eine trockene Wüste, das half immer. Endlich ging die Tür auf. Er schaffte es gerade noch auf die Brille, dann stöhnte er erleichtert auf.
Der Wagen rollte auf eine Lichtung. Walther schlug die Augen auf. Es war warm im Wagen, die Heizung funktionierte gut. Und doch fühlte er sich unwohl. Er schaute an sich herunter. Über der Hose und den Beinen hatte sich ein großer, dunkler Fleck ausgebreitet. Der war warm und nass.
„Ich habe mir in die Hose gemacht.“
Harald fuhr konzentriert, suchte offenbar den Weg. Plötzlich trat er auf die Bremse.
„Was hast du gemacht?“
„Pampers vergessen!“
Mit einem Satz war Harald aus dem Wagen. Er rannte auf die andere Seite, riss die Tür auf, schaute ungläubig. Dann griff er nach dem alten Mann, riss ihn vom Sitz, stieß ihn mit dem Kopf gegen den Holm.
Beide schauten auf den großen Fleck, der sich auf dem Beifahrersitz ausgebreitet hatte. Im Fußraum hörten sie es tropfen.
„Mein Auto!“, schrie Harald. „Mein schönes, neues Auto. Gerade eingefahren und schon ruiniert. Ich halt das nicht aus!“ Er fuchtelte mit den Fäusten vor Walters Gesicht herum. „Dafür wirst du bezahlen, du verkalkter Trottel. Ich hätte nicht übel Lust, dich zusammenzuschlagen.“
„Vielleicht können wir es auftupfen?“
„Auftupfen? Bist du nicht bei Trost? Das stinkt noch jahrelang!“ Der Mann stapfte vor dem Wagen hin und her, weißer Atem stand vor seinem Gesicht. Er hatte das Kinn drohend vorgereckt und stieß wütende Flüche aus.
Walther tastete sich mit dem Stock über den unebenen Waldboden zum Heck des Wagens. Legt Birgit nicht immer eine Rolle Küchenkrepp in den Kofferraum? Für alle Fälle, hat sie gesagt. Wenn man Apfelsinen gegessen hat oder mal in die Büsche muss. Er fingerte am Kofferraumdeckel herum. Sie war nicht aufzukriegen, diese merkwürdige Klappe. Das war früher praktischer, da gab es einen Griff, den musste man nur drehen. Er fuhr mit seiner Hand an der Kante entlang, auf der Suche nach einem versteckten Griff. Plötzlich sprang die Heckklappe auf, fast hätte sie ihm die Brille von der Nase gerissen. Er schaute in den Kofferraum. Der war leer. Keine Küchenrolle da, nur eine Zeitung. Das geht auch, die saugt gut. Als er die Zeitung hochnahm, lag da eine Pistole.
Merkwürdig, ’ne Pistole im Auto. Ist dieser Mensch jetzt unter die Jäger gegangen? Nein, Jäger schießen mit Gewehren. Vielleicht ist er im Sportverein. Doch dürfen die ihre Pistolen ins Auto legen?
Walther nahm die Waffe. Sie war schwerer als vermutet, er hatte noch nie eine Pistole in der Hand gehabt. Im letzten Krieg war er noch zu klein und danach wollte niemand etwas von Pistolen wissen.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.