Kitabı oku: «Gewaltkette»
Dieser intensive Verbrechensroman eröffnet mir ein Stück Indien. Auf seiner alten Royal Enfield Bullet röhre ich mit Inspector Borei Gowda durch Oberschicht-Enklaven, Konsumtempel im Schatten der Hightechwolkenkratzer, durch wimmelnde Großstadtgassen und ländlich-staubige Randbezirke: Bangalore, eine Metropole in stetem Umbruch. Es beginnt als klassische Mordermittlung, geleitet von Gowda, den seine Integrität zum Eigenbrötler und latenten Rebellen macht. Seine sarkastisch gefärbten Innenansichten zeigen die umfassende Korruption in Behörden und Machtzentralen ebenso beiläufig wie die hilflos-selbstgerechte Haltung des privilegierten Mittelstands. Und er ist bestrickend fehlbar, dieser wohlsituierte Kindskopf mit dem manchmal überscharfen Blick.
Kunstvoll verflochten mit der Ermittlergeschichte ziehen weitere Handlungsstränge auf. Anita Nair gelingen feinste Balanceakte zwischen Einfühlung und Nüchternheit, Ranzoomen und Abblenden, Fakten und Gefühlen. Sie erzählt sinnlich und empathisch, doch ohne Pathos und Klischee, sie navigiert fernab jedes Voyeurismus. Die aus der Innensicht gezeigten, krass verschiedenen Lebensrealitäten vermitteln das lebenssprühende, hochkomplexe Bild einer Gesellschaft voller Ethnien- und Kastenvorurteile, mit strikten Hierarchien, ganz eigenen Rassismen, zutiefst patriarchalen Normen und blühendem Raubtierkapitalismus: Indien heute an einem seiner dynamischsten Brennpunkte. Beim Lesen meine ich es vor mir zu sehen, zu riechen und zu schmecken. Ein Fenster zur Welt, eine packende Lektüre-Reise, die keine Abgründe ausspart, sondern sie sichtbar macht, ein Geschenk an uns alle von einer Schriftstellerin, die offenbar fühlt, was sie sieht. Auch das kann Kriminalliteratur auf der Höhe der Zeit. Else Laudan
Anita Nair
Gewaltkette
Deutsch von Karen Witthuhn
Ariadne 1226
Argument Verlag
Das Böse triumphiert allein dadurch,
dass gute Menschen nichts unternehmen.
Edmund Burke
PROLOG
Samstag, 14. März
07:30 Uhr
Eine Wand aus Spiegeln. Darin sah er sich selbst. Ein bulliger Mann in senfgelben Leggings und einem dunkelblauen T-Shirt, das kaum bis zu den Oberschenkeln reichte. Etwas Groteskeres oder Verstörenderes hatte er noch nie gesehen. Er starrte die vielfachen Borei Gowdas an. Musik setzte ein, und der Trainer, ein hochgewachsener schlanker Mann in wie auf den Leib gegossenen Kleidern, dessen Gliedmaßen anscheinend mit Doppelgelenken am Rumpf angebracht waren, wiegte sich im Takt.
»Kommen Sie, Inspector Gowda«, sagte er. »Fangen Sie einfach an, hören Sie auf die Musik, lassen Sie sie durch sich hindurchfließen. Nur so kann man Tango tanzen. Und immer daran denken, links vor, rechts vor, links vor …«
Gowda hörte nicht mehr hin. Was zum Teufel mache ich hier, fragte er sich und die vielen Borei Gowdas im Spiegel.
Das Handy auf dem Nachttisch klingelte beharrlich. Inspector Borei Gowda fuhr hoch und tastete verschlafen nach dem Telefon. Wo war dieser hirnrissige Traum hergekommen?
Er sah auf dem Display die Zeit und riss die Augen auf. Fast acht. Wie hatte er einen Wecker verschlafen können, der zwischen sechs und sieben alle fünfzehn Minuten Krach schlug? Er musste sich gestern Abend richtig die Kante gegeben haben. Ganz entgegen seinen festen Absichten. Er seufzte.
»Hallo«, sagte er ins Handy.
»Sir, ein Anruf aus der Leitstelle. Es geht um jemanden in der Gated Community in der Nähe des Bible College. Ich glaube, Sie sollten hinfahren«, sagte Head Constable Gajendra. Im selben Moment hörte Gowda draußen vor dem Haus schon den kräftigen Motor des Bolero-Jeeps dröhnen.
»Ich bin in fünfzehn Minuten da«, sagte Gowda auf dem Weg ins Badezimmer, wo er sich mit der Zahnbürste im Mund unter die Dusche stellte. Das Trommeln des Wassers beruhigte das Hämmern in seinem Hinterkopf. In seinem müden Schädel spulten sich die Ereignisse des vergangenen Abends in grellen Farben mit Dolby-Surround-Sound ab. Er schloss die Augen. Das musste warten. Jetzt rief die Pflicht.
Head Constable Gajendra wartete bereits am Tor des Shangri La. Das war der auf einer in den Torpfeiler eingebetteten polierten Messingtafel eingravierte Name. Der Head Constable sah mitgenommen aus.
Vor dem Tor hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Gowda grüßte mit einem Nicken und ging auf das Haus zu. Ein kleiner dünner Mann löste sich von der Gruppe und eilte ihm nach. »Hallo, Inspector. Ich bin der Präsident.«
Gowda hielt inne, betrachtete den Mann und überlegte, ob er es mit einem Verrückten zu tun hatte. »Präsident welchen Landes?«
Der Mann wurde rot. »Präsident des Anwohner-Vereins.«
Gowda nickte. »Ah, verstehe. Ich muss Sie bitten, zurückzutreten.«
Beim Weitergehen nahm er noch den enttäuschten Gesichtsausdruck des Mannes wahr.
Zwei Constables hatten die Haustür aufgebrochen. Gowda trat ein und blieb stehen. Die Tür führte in eine Vorhalle, die an einen alten Club erinnerte. Dazu passte ein riesiger Spiegel mit Goldrahmen, unter dem etwas stand, das wie ein in der Mitte durchgesägter Tisch aussah. Bestimmt hatte das einen Namen. Urmila wüsste ihn wahrscheinlich.
Er betrachtete den Mann, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag, und schauderte. Eine Seite des Schädels war zertrümmert. Um den Kopf herum breitete sich ein Heiligenschein aus Blut aus. Daneben lag umgefallen ein steinerner Buddha. Der Marmorfußboden war zersplittert wie die Schädeldecke.
Der Mann trug dunkelblaue Crocs an den Füßen, sein T-Shirt war im Fallen nach oben gerutscht. Unterhalb der linken Rippen sah Gowda eine blau verfärbte Prellung. Durch die kurze Lycrahose war deutlich der Penis zu erkennen. Wer war der Tote? Nachdenklich kniff sich Gowda in den Nasenrücken.
Ein Stück entfernt lag ein Handtuch. Gowda bückte sich und hob es mit Hilfe seines Kugelschreibers auf. Es war feucht und roch nach Chlor. Der Mann ist schwimmen gewesen, dachte Gowda. An der Einfahrt in die Gated Community war ihm linkerhand ein blaues Schimmern aufgefallen.
»Er war gestern Abend um elf zu einer Videokonferenz mit einem Mandanten verabredet. Der Mandant hat anscheinend mehrmals vergeblich angerufen und dann eine Kollegin kontaktiert. Die konnte ihn auch nicht erreichen. Als er auch heute Morgen nicht auf Anrufe und Nachrichten reagierte, hat sie die Zentrale informieren lassen«, sagte Head Constable Gajendra.
»Wohnt er alleine?«, fragte Gowda. Ihm fiel auf, dass der Raum ansonsten unberührt wirkte. Keine umgestoßenen Möbel. Nicht mal eine Glasscherbe oder ein dreckiger Fußabdruck. Hier war niemand eingedrungen. Das Opfer hatte den Täter gekannt. So viel war klar.
»Was ist mit Handy und Laptop?«, fragte Gowda.
»Alles da«, sagte Gajendra. »Ich glaube nicht, dass hier ein Einbruch aus dem Ruder gelaufen ist.«
»Wo ist die Frau, die in der Zentrale angerufen hat?«
»Sie war letzte Nacht in Chennai. Sie hat den ersten Flug genommen und ist auf dem Weg hierher.« Gajendra drehte sich um, draußen hörte man einen Wagen halten.
Ein junger Mann und eine Frau kamen eilig den Gartenweg entlang. Gowda ging ihnen entgegen.
»Dr. Rathore, geht es ihm gut?«, fragte die Frau, während der Mann versuchte, über Gowdas Schulter hinweg einen Blick ins Haus zu erhaschen.
Gowda schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid.«
Das Gesicht der Frau verzog sich. »O Gott, o mein Gott«, flüsterte sie, die Hand vor den Mund gepresst.
»Was ist passiert, Inspector?« Die Stimme des Mannes zitterte vor Bestürzung. »Dr. Rathore hat doch immer gut auf sich aufgepasst.«
»Er war Arzt?«, fragte Gowda.
»Nein, nicht so ein Doktor. Doktor der Rechtswissenschaften«, sagte der Mann. »Können wir zu ihm?«
Gowda hob die Hand. »Nicht jetzt. Das ist ein Mordfall. Bis die Spurensicherung kommt, darf der Tatort nicht betreten werden.«
»Mord! Aber wer würde Dr. Rathore denn umbringen wollen?« Die Stimme der Frau wurde schrill.
»Irgendwer hat es jedenfalls getan. Ihm wurde der Schädel eingeschlagen«, sagte Gowda.
Sie starrten ihn entsetzt an. Gowda erwiderte den Blick, er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Es war nie leicht, einen Tod mitzuteilen, ob nun durch Selbstmord, Unfall oder Mord. Polizisten und Ärzte wussten das. Es war ihr Los, sich vom Leid derer, die dem Opfer nahestanden, nicht berühren zu lassen.
»Wir brauchen ein paar Angaben«, sagte er.
Head Constable Gajendra musterte die Gesichter des Paares. Er wusste, dass Gowda das Gleiche tat.
Gowda nahm nicht an, dass die beiden etwas beitragen konnten, das nicht schon im Terminkalender des Toten stand. Die Frau hatte sich kurz im Garten umgeschaut, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Der Mann hatte in einer Ecke des großen Gartens einen Pavillon mit eingebauter Bar bemerkt und große Augen gemacht. Dr. Rathore hatte sich wohl nie mit seinen Kollegen auf einen Drink getroffen oder sie nach Hause eingeladen. Allem Anschein nach hatte er sehr zurückgezogen gelebt, Distanz gehalten zu seinen Angestellten und Partnern.
»Seine Familie?«, fragte Gowda.
»Seine Frau und sein Sohn leben in London. Sie leitet die dortige Filiale der Kanzlei«, sagte die Frau. In ihrem Ton schwang Missbilligung mit. Gowda ahnte, dass die junge Kollegin ein wenig verliebt gewesen war.
»Ich werde noch ausführlich mit Ihnen sprechen müssen«, sagte er unvermittelt.
Die Frau nickte. Tränen traten in ihre Augen. »Ich kann nicht glauben, dass …« Der Mann legte den Arm um sie.
Gowda warf Gajendra einen Blick zu, bedeutete ihm mit einer kleinen Bewegung des Kinns, die beiden wegzuschicken, drehte sich um und ging.
Police Constable Byrappa schob sich neben Gajendra. »Die Wachmänner am Tor haben Videoaufnahmen und ein Besucherregister.«
Gajendra lächelte und ging Gowda nach. »Ich glaube, der Fall wird schnell zu lösen sein«, sagte er.
Gowda sah ihn an. »Meinen Sie?«
»Ja, Sir. PC Byrappa sagt, es gibt Videoaufnahmen und ein Besucherregister. Sobald wir den Todeszeitpunkt wissen, lässt sich leicht feststellen, wer den Anwalt umgebracht hat.«
Gowda schwieg. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es nicht so einfach werden würde. Er warf einen letzten Blick auf den toten Anwalt. Etwas nagte an ihm. Er wusste nicht genau, was. Aber es würde ihm noch einfallen.
Der kleine Mann, der sich als Präsident des Vereins vorgestellt hatte, kam mit zwei anderen Männern und einer Frau auf ihn zu. »Glauben Sie, es war die Dandupalaya-Gang?«, raunte einer der Männer.
»Die soll sich ja einsam gelegene Häuser mit wenigen Bewohnern aussuchen. Ist das nicht der Modus operandi der Gang?« Die Frau betonte den Ausdruck wie ein altkluges Kind, das ein neues Wort gelernt hat. Der dritte Mann zückte sein Handy und wollte damit knipsen.
Gowda runzelte die Stirn. »Keine Fotos.« Auf die Frage der Frau ging er gar nicht erst ein. Seit dem auf wahren Begebenheiten beruhenden Film Dandupalaya über eine Familie in einem Viertel am Rand von Bangalore, die sich mit Plündereien, Vergewaltigungen und Morden den Tag vertrieb, war besagte Gang regelrecht zum Mythos geworden. Gowda war ziemlich sicher, dass sich auch bei der Polizei Beamte fanden, die diesen Mord bequemerweise gern einem Nachfolger der Gang in die Schuhe schieben würden. Immerhin hatte es damals, vor über einem Jahrzehnt, einhundertzwölf Anzeigen gegen die Bande gegeben.
»Was glauben Sie, wer hat das getan?«, fragte der Präsident.
»Die Ermittlung läuft bereits«, sagte Gowda.
Wie war der Mörder hereingekommen und wie wieder hinaus? Wer besaß einen Schlüssel zum Haus des Anwalts? Hinter diesen offensichtlichen Fragen lag etwas, das ihm noch entging. Gowda griff zu seinem Handy. Er brauchte ein frisches Augenpaar. Er brauchte Santosh.
TEIL 1
Neun Tage zuvor …
Dienstag, 5. März
Dieser Geruch. Dreck, Schweiß und der Mief ungewaschener Körper in verschmutzter Kleidung, die an vielen Stellen fadenscheinig war und in Fetzen hing. Der Gestank von Verzweiflung.
Ein Geruch, den ich kannte. Ich hatte damit gelebt.
Im überfüllten Großraumabteil des 18463 Prashanto Express, der um 12:05 Uhr den Bahnhof von Bangalore erreichen sollte, waberte Verzweiflung wie eine tief hängende Wolke. Der kollektive Atem der Geschöpfe, die Sitze und Gänge besiedelten.
Ich sah mich um. Wie immer war es eine bunte Mischung. Etwa neunzig Menschen verstopften ein für zweiundsiebzig Passagiere gedachtes Abteil. Man konnte sich kaum bewegen.
Sie saßen aneinandergelehnt. Drei magere Jungs in T-Shirts und Trainingshosen. Ihre Haut hatte die Farbe von Lehm, die flachen, breiten Nasen und die vorgestülpten Augenbrauen verrieten mir, dass sie aus einem der Stammesdörfer in Odisha kamen. Jeder trug einen Bindfaden mit einem kleinen silbernen Glücksbringer um den Hals. Einer berührte den Glücksbringer, rieb mit dem Finger darüber. Er hatte Angst vor dem, was vor ihm lag, und wollte sich Mut machen.
Jeder der Jungen hielt einen Plastikbeutel umklammert. Wahrscheinlich befanden sich darin ihre gesamten Besitztümer: ein paar abgetragene Kleidungsstücke und wertlose Kinkerlitzchen, die sie bis aufs Blut verteidigen würden. Ihre Füße waren nackt und nur unwesentlich schmutziger als ihre Gesichter. Aber in ihren Mienen lag eine Entschlossenheit, die mich aufmerksam werden ließ.
Ich kannte das alles. Einst war ich wie sie gewesen.
Als ich sechs war, verkaufte mich mein Vater für tausend Rupien an einen Mann. Das war mein Preis für eine Saison. »Mit der Hälfte könnt ihr die Felder bepflanzen, der Rest wird dich und deine Familie am Leben halten, bis die Ernte reif zum Verkaufen ist. Nach der Saison bringe ich ihn zurück«, sagte der Mann zu meiner Mutter.
Mein Vater nannte den Mann Sardar, Chef, und ich sollte das auch tun. Der Mann hatte fünf Familien bei sich, darunter auch die meines Onkels, und die hatte angeboten, mich mitzunehmen. Männer und Frauen wie meine Eltern, Kinder wie ich, zwei alte Frauen, ein alter Mann und zwei Babys. Von den vielen neuen Namen und Eindrücken schwirrte mir der Kopf.
Wir nahmen einen Zug. Ich wusste nicht, wohin ich fuhr. Es war mir egal. Alles war besser als zu Hause, das wusste ich. Ich war noch nie Zug gefahren und hatte noch nie einen Hahn gesehen, aus dem Wasser floss, wenn man daran drehte. Der Mann gab mir alle paar Stunden etwas zu essen. Ich hing am Zugfenster und spürte den heißen Wind auf meinen Wangen prickeln. Ich wollte singen. Ich hatte das Gefühl, mein Horizont wäre voller Regenbögen. Hunderte davon.
An einem Bahnhof namens Kazipet stiegen wir aus, und der Mann brachte uns an einen Ort, wo Ziegelsteine hergestellt wurden. »Du spielst doch gern mit Lehm, oder?«, sagte mein Onkel mit einem seltsamen Lachen.
Ich nickte und sah mich um. Zuerst dachte ich, nicht mehr atmen zu können. Die Hitze drückte mich zu Boden, und die Luft brannte mir in Kehle und Augen.
»Hör auf zu glotzen und hilf mir«, sagte mein Onkel. Wir mussten uns eine kleine Hütte bauen, in der wir alle schlafen konnten. Mein Onkel, meine Tante, seine Schwiegermutter und die beiden Kinder, jünger als ich. Man gab uns ein bisschen Stroh und eine blaue Plane. Das würde das Dach werden – Stroh und Plastik. Die Wände mussten wir noch bauen. Wir arbeiteten leise und schnell. In jener Nacht lag ich vor der unfertigen Hütte auf der Erde und starrte in den Himmel. Es macht nichts, redete ich mir ein. Andere sind ja auch hier. Irgendwie beruhigte mich das.
Die Tage waren gnadenlos. Zuerst musste ich Kohlebrocken aneinanderschlagen, bis sie in Stücke zerfielen, mit denen man die Brennöfen füttern konnte. Dann befahl man mir, kleine Fuhren frisch geformter Ziegel zu den Trockenkammern zu schleppen. Ich musste tun, was immer mir aufgetragen wurde. Wie die anderen Kinder auch.
Ich arbeitete von früh bis spät. Zum Lohn bekam ich ein wenig zu essen und ziemlich viel Prügel. Mein Onkel schlug mich, meine Tante schlug mich, die Mutter meiner Tante schlug mich, die älteren Jungs und Mädchen schlugen mich, der Ziegeleiaufseher schlug mich … Irgendwann fragte ich mich nicht mehr, wofür ich geschlagen wurde. Ich wusste nur noch, dass in meinem Bauch ein Brennofen mit einem riesigen Schlund wütete. Er fühlte sich leer und heiß an. Ich wusste nicht, ob das Hunger war oder Angst.
Ich vergaß meinen Namen. Alle nannten mich Pathuria. Alle anderen waren auch Pathuria.
Der Zug fuhr in den Tag hinein. Bald würde der Schaffner einen flüchtigen Kontrollgang machen. Er kam selten weiter als bis an die Tür. Der Gestank aus den Toiletten und den verklebten Poren der triefäugigen, hohlwangigen Geschöpfe genügte, um noch den Mutigsten abzuschrecken. Doch ab und zu griff er sich einen Pechvogel heraus und blaffte ihn an: »Fahrkarte! Fahrkarte!«
Manchmal riss dann in der Wolke der Verzweiflung ein kleines Glücksrinnsal auf, und obwohl der Angesprochene gar kein Ticket besaß, steckte ihm ein Nebenmann oder jemand von der anderen Seite des Ganges eins zu. Und so mächtig war die Wirkung eines solchen Glücksstrahls, dass der Schaffner den guten Samariter nicht nach seiner Fahrkarte fragte. Solche Wunder konnten im Gemeinschaftsabteil vorkommen.
Manchmal jedoch verriet sich jemand. Unsteter Blick, Schweißperlen auf der Oberlippe, verkrampfter Kiefer. Der Kontrolleur war ja kein Idiot. Er sah so einem an, was er war. Klasse: Gesindel. Untergattung: Rumtreiber. Mit dem Eifer eines Hundes, der ein Nest junger Ratten aufspürt, stürzte er sich auf ihn. Bereit, ihn beim nächsten Halt aus dem Zug zu werfen, mit wütendem Geknurr und der Drohung: »Soll ich die Bahnpolizei rufen?«
Und genau da trat ich in Erscheinung. Mit einem Bündel Fahrkarten in der Tasche. Ich schob mich durch die brodelnde Masse aus Schweiß und Angst, bis ich die drei Jungs erreichte, die mit Sicherheit keine Fahrkarten hatten und keine Ahnung, was sie tun sollten.
Ich lehnte mich an einen Sitz. Die Jungs mieden meinen Blick, wie ich es vorhergesehen hatte. Starrten aus dem Fenster oder zu Boden. Schaut mich an, hätte ich am liebsten gesagt. Seht her zu mir, macht es euch und mir ein bisschen leichter.
Du bist Krishna, sagte ich mir und dachte daran, wie der Thekedar mich an der Schulter gepackt, mir in die Augen gesehen und mir meinen Namen gegeben hatte. Ich wiederholte im Kopf die Worte, die der Thekedar beim ersten Mal und seither immer wieder zu mir gesagt hat: Die, die zu mir kommen, treten heraus aus der Welt der Schatten.
Ich bestieg den Zug am Bahnhof Chipurupalle in Andhra Pradesh um 10:58 Uhr. Um diese Zeit bekam niemand irgendetwas mit. Müdigkeit lag schwer auf den Lidern und verwandelte alles Denken in einen trüben, trägen Strom. Um 11:30 Uhr würden wir in Vizinagaram sein, und der Schaffner konnte jeden Moment auftauchen. Es blieben noch ein paar Minuten, um mir die Jungs gefügig zu machen.
Sie hatten zwei Flaschen Wasser bei sich. Einer von ihnen hob eine Flasche an die Lippen. Unsere Blicke trafen sich.
»Tame kouthu asicha?«, murmelte ich auf Odiya und verbarg mit der Hand ein Gähnen. Ich spreche fünf Sprachen: Hindi, Tamil, Kannada, Odiya und Bengali, außerdem beherrsche ich einige Brocken Telugu und Englisch. In meiner Branche bringt man es zu nichts, wenn man nicht die Sprache seiner Kunden spricht, und meine kamen aus verschiedensten Teilen des Landes.
Seine Augen weiteten sich, und er murmelte dem Jungen neben sich etwas zu. Der schien der Anführer der kleinen Gruppe zu sein. Er runzelte die Stirn und beantwortete nach einer Pause meine Frage.
»Satpada«, sagte er. »Und Sie?«
»Puri«, sagte ich. Das ist meine Standardantwort für alle, die aus Odisha kommen. Ich könnte auch die Wahrheit sagen, nämlich dass ich aus Bolangir stamme, aber ich erinnere mich nicht an diesen Teil meines Lebens. Weder an meine Familie noch an mein Elternhaus oder das Dorf.
Und sollte jemand wegen Puri nachhaken, so habe ich weitere Antworten parat. Mein Zuhause lag in einer der Gassen beim Tempel. Ich sehe sie vor mir. Ein dreckiger, übelriechender schmaler Gang, in dem es von Menschen und Tieren, Rikschas und Straßenhändlern wimmelt. Der Thekedar sagte, so wäre es dort. Aber nie fragt mich jemand.
»Ich war mal am Chilka-See«, sagte ich. Es war die Wahrheit.
Einmal sind der Thekedar und ich durch die Dörfer im Süden von Odisha gefahren. Ich weiß nicht, was mir den Atem stocken ließ: die im Wasser versinkende Landschaft oder die Armut, die jedes Gesicht furchte und jedes Haus härmte.
Ich berührte den Arm des Thekedar und fragte: »Was ist hier passiert? Warum sind sie so arm?«
Er zuckte die Schultern. »Wer weiß? Überschwemmungen, Zyklone, der Bergbau, mangelnde Bildung, keine linke Partei … such’s dir aus!« Dann lächelte er ein Wolfslächeln. »Aber für uns ist es gut!«
Ich erwiderte das Lächeln. Es war beruhigend zu wissen, dass der Brunnen nie versiegen würde.
Ich sah ein Glitzern im Auge des Jungen. War es die Erleichterung darüber, jemandem begegnet zu sein, der sein Dorf kannte? »Habt ihr Fahrkarten?«, fragte ich.
Der Junge runzelte wieder die Stirn. Doch er sprach mit fester Stimme. »Ja, ja.« Er log. Wie leicht sie sich verraten. Das kleine Zögern macht den ganzen Unterschied.
»Na, dann ist ja gut. Denn am nächsten Bahnhof kommt der Schaffner, dann werden die Schwarzfahrerratten, wie er sie nennt, aus dem Zug geworfen und ins Gefängnis gesteckt. Das ist ein schwarzes Loch voll mit echten Ratten, und dreimal am Tag gibt es Prügel statt Essen. Aber ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Ihr habt ja Fahrkarten, also könnt ihr einfach sitzen bleiben und das Spektakel genießen.« Ich zwinkerte ihm zu.
Ich hielt mich an der Metallstange fest und legte das Gesicht in meine Armbeuge. Im Stillen zählte ich. Ich brauche die Sicherheit, die Zahlen meinem Leben geben. Wahrscheinlich hat das in der Ziegelei angefangen, beim Brennen der Backsteine. Wenn wir tausend am Tag schafften, zahlte man uns achtzig Rupien. Zwanzig davon gehörten mir. So lernte ich zählen, während wir Backsteine formten.
Bei sieben hörte ich seine leise Stimme. »Dada.«
Ich blickte auf und sah ihn an. »Ja«, sagte ich langsam. Mit der tiefen Stimme eines großen Bruders, denn so hatte er mich genannt.
»Wir haben keine Fahrkarten. Was sollen wir tun?«
Ich runzelte die Stirn. »Das ist ein Problem …«
Bevor ich weitersprechen konnte, brach es aus ihm heraus: »Bitte hilf uns.«
Nachdenklich kratzte ich mich am Kopf. »Eigentlich sollten drei Freunde von mir mitkommen. Aber ihr Boss hat sie nicht reisen lassen. Also tun wir einfach so, als wärt ihr die drei Freunde, für die ich die Fahrkarten gekauft habe.«
Ich lächelte sie an. Mein bestes Krishna-Lächeln, das, wie der Thekedar sagte, eine Straße erleuchten, Eis zum Schmelzen bringen und Schlösser öffnen kann. Diese ahnungslosen Jungs aus dem Nirgendwo würden ihm nicht widerstehen können.
Die Anspannung um die Münder der Jungen löste sich. Ich wusste, sie würden mir bis ans Ende der Welt folgen.
»Da gibt es noch was, worauf ihr gefasst sein müsst«, sagte ich. Sie rissen die Augen auf.
Ich erklärte, was vor ihnen lag. So hatte es mir der Thekedar beigebracht. ›Du bist Krishna. Im Mahabharata ist er der Wagenlenker. Es ist dein Dharma, zu lenken und zu führen, damit andere wissen, was sie erwartet.‹ Es hatte damals eingeleuchtet. Es leuchtete immer noch ein. Der Thekedar sagte, ich hätte eine uralte Seele.
›Wie uralt?‹, hatte ich gefragt.
›Mindestens fünftausend Jahre alt.‹ Er hatte gelächelt.
Er sagte, ich wüsste instinktiv, wofür andere sich ihr Leben lang abmühten.
»Ihr könnt mich Dada nennen, aber für alles andere haben wir einen Thekedar, dem wir verpflichtet sind.«
Die Jungs starrten mich verständnislos an. Sie kannten das Wort nicht, und mir fiel auf Odiya das richtige Wort für Auftraggeber nicht ein. »Jamadar«, sagte ich plötzlich. »Er ist unser Boss … Ihr müsst tun, was ich sage. Nur wenn ihr mir vertraut und gehorcht, kann ich euch helfen.« Meine Stimme klang fest. Die Jungs nickten. »Zunächst mal eure Namen«, sagte ich. »Und die Namen eurer Eltern. Die spielen keine Rolle mehr. Eure Eltern heißen so, wie ich es euch sage, und vergesst ja kein Wort von dem, was ich euch jetzt erzähle.«
Sie machten Platz für mich, und ich hockte mich zu ihnen. Die meisten anderen Reisenden schliefen, vom Rumpeln des Zugs und ihrer Erschöpfung eingelullt. Doch meine Jungs waren hellwach.
Sie hörten zu.
»Bangalore ist anders, als ihr denkt …«, begann ich. Ich sah die Angst in ihren Augen, ihren geballten Fäusten, in der Anspannung ihrer Muskeln. Angst war gut. Angst gab mir Macht. Angst ließ mich herrschen.
Rekha konnte sich nicht entscheiden, was sie ihren Eltern sagen sollte. Das Märchen vom »gemeinsam Lernen« glaubte längst niemand mehr. Und sie musste nicht nur ihre Eltern überzeugen. Suraj, ihr Bruder, war genauso ein Problem. »Was sag ich zu Hause?«, lautete ihre SMS an Sid.
»Gemeinsam lernen!« Das Handy leuchtete auf. Rekha warf einen Blick darauf, während sie den Rand ihres Augenlids mit einem Kajal nachzog.
Bei ihrer ersten Verabredung hatte Sid ihr geraten, das Handy zu Hause immer auf lautlos zu stellen. »Damit sich deine Leute gar nicht erst fragen, wer dir die ganze Zeit Nachrichten schreibt«, hatte er gesagt und sie mit einem unsicheren, verlegenen Lächeln angesehen.
Es hatte sie dahinschmelzen lassen. Wie konnte man nur so fürsorglich sein? Sie kam aus dem Staunen nicht heraus. Wenn sie eine Straße überquerten, legte er seine Hand auf ihren Rücken. Wenn sie auf seinem Motorrad losfuhren, bot er ihr sein Tuch an, damit sie es sich um den Hals legen konnte. Er hatte den Rückspiegel so eingestellt, dass er sie ansehen konnte, wenn sie miteinander sprachen. Er gehörte ihr, ihr ganz allein. Und sie ihm, ihm ganz allein.
»Zieht nicht.« Ihre Finger huschten über den Touchscreen.
Die Antwort ließ ihre Augen aufleuchten. »Gender Studies Sem @ NLS.«
Das würde funktionieren. Die National Law School war ziemlich weit weg. Sie konnte sagen, sie würde bei Priya übernachten, und sich dann mit Sid zu einem ausgedehnten, entspannten Date treffen. Priya würde Verständnis haben, und Priyas Eltern würden auch nichts sagen, solange Sid sie gegen elf zurückbrachte. Und wenn Suraj sie am nächsten Morgen dort abholte, würde niemand irgendwas mitkriegen. Sie lächelte.
»Warum lächelst du die Wand an?« Plötzlich stand Suraj in der Tür.
»Su, du musst mir einen Gefallen tun. Ich muss morgen zu einem Seminar an der NLS«, sagte sie spontan.
»Mit wem gehst du hin?«
»Priya, ein paar von meinen Klassenkameraden und welchen aus der Oberstufe.«
»Und wo liegt das Problem?«, fragte er und wandte sich zum Gehen.
»Warte, Su. Das Seminar findet abends statt, ich muss also bei Priya übernachten. Aber ich weiß nicht, ob die Eltern das erlauben. Kannst du sie überreden?«
Suraj sah sie prüfend an. »Du treibst dich doch nicht mit irgendeinem Blödmann rum, oder?«
Rekha verzog das Gesicht. »Willst du mit Priya sprechen?« Sie hielt ihm das Handy hin.
Wie erwartet wich Suraj zurück. Er war in Priya verliebt, und die Aussicht, mit ihr reden zu müssen, machte ihm genauso viel Angst wie das Stechen eines Ohrlochs. Er war ein wunderbarer Bruder, aber langweilig. Nicht wie Sid, dachte sie. Eine Zeitlang war sie in Surajs Freund Roshan verschossen gewesen. Aber davon hatte Sid sie schnell kuriert.
Sie zog schwarze Leggings und eine lange, tunikaartige grüne Kurta mit weißem Paisleymuster an und machte sich auf die Suche nach ihrer Mutter, die einen Stapel Rotis auf einem Teller durchzählte. »Können wir essen?«, fragte ihre Mutter.
Rekha nickte. »Amma, ich hab morgen Abend ein Seminar.«
Ihre Mutter runzelte die Stirn. Das hörte sie gar nicht gern.
»An der NLS. Ich hab gedacht, ich könnte danach vielleicht bei Priya übernachten. Das wäre doch besser, als so spät noch nach Hause zu müssen.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob dein Vater damit einverstanden ist …«
»Es ist aber wichtig, dass ich hingehe.« Rekha holte sich einen Teller und nahm ein Roti. Sie hatte keinen Hunger, aber mit leerem Magen würde ihre Mutter sie nicht zum College lassen.
»Ist das alles?«, fragte ihre Mutter. »Soll ich dir eine Lunchbox packen?«
Rekha schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht spät nach Hause.«
Letztendlich regelte Suraj die Sache für sie. Er erklärte den Eltern, er würde sie übermorgen früh um halb sieben abholen, und schließlich sei Priya seit der sechsten Klasse Rekhas Freundin.
Ihre Mutter beäugte ihre Kleidung. »Das Oberteil gefällt mir«, sagte sie. »Es ist schick und anständig. Bei dem, was viele junge Mädchen heutzutage so anziehen, möchte ich am liebsten ein Bettlaken nehmen und sie darin einwickeln.«
Rekha verbarg ein Lächeln. In ihrer Tasche steckte ein kurzes rotes Top mit tiefem Ausschnitt. Sobald sie aus dem College-Tor trat, würde Sid sie in ein Einkaufszentrum fahren, wo sie sich umziehen konnte.
Sid hatte gesagt, das gehörte dazu. »Du brauchst bloß sexy auszusehen, so richtig zum Anbeißen. Diese Typen kriegen keinen mehr hoch, also mach dir keine Sorgen. Und du bekommst richtig gutes Geld, alles für ein bisschen Smalltalk. Komm schon, Rex, da ist nichts dabei. Würde ich dich fragen, wenn’s um irgendwas mit Anfassen ginge? Du weißt genau, wie eifersüchtig ich bin.«
Sie kuschelte sich noch enger an ihn und sagte: »Mmm.« Sie saßen in einem Multiplex-Kino. Aber in erster Linie, um unter einem Dupatta herumzuknutschen, während seine Hände ihre Brüste befingerten und er sie dazu zu bringen versuchte, seine Erektion zu berühren.
Sid und sie würden bis gegen sieben Uhr zusammen sein. Dann kamen drei Stunden Smalltalk mit dem Kunden, der einen späten Flug nehmen musste und zwischen sieben und zehn die Zeit totschlagen wollte. Sid hatte versprochen, in der Lounge oder im Restaurant zu sitzen, sie im Auge zu behalten und aufzupassen, dass ihr nichts passierte.