Kitabı oku: «Berufen statt zertifiziert (E-Book)»

Yazı tipi:


Anja C. Wagner

Berufen statt zertifiziert

Neues Lernen, neue Chancen

ISBN Print: 978-3-0355-1868-9

ISBN E-Book: 978-3-0355-1869-6

Fotos: Nicole Bauch

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

EINBLICK Aus dem Maschinenraum eines verunsicherten Bürgertums

RÜCKBLICK Wie es zum Zertifikate-Wahnsinn kommen konnte

Ein kleiner Rückblick auf die Berufsentwicklung

Beruf stammt von Berufung

Neue Positionen durch die Industrialisierung

Differenzierung der Erwerbstätigen

Die Geschichte des Ausbildungssystems

Die Bedeutung der Hochschulen

Universitäten als Männerdomäne

Unsere heilige duale Ausbildung

Lebenslanges Lernen – muss man das dokumentieren?

Die Geschichte der Zertifikate

Aufstieg durch Bildung

Der Kampf um die Deutungshoheit

Alte Abschlüsse und neue Online-Zertifikate

DURCHBLICK Warum es Zeugnisse und Zertifikate kaum noch braucht

Die disruptiven Wellen – ein Ausflug zu neuesten Innovationen

Die Kondratjew-Zyklen

Innovation als schöpferische Zerstörung

Digitale Disruption

Was bedeutet eigentlich «richtige Arbeit»?

Die «gute Arbeit»

Die Macht der Tarifparteien

Die Zukunft der Arbeit = Leben mit X Berufen?

Wie handhaben es Vorreiter*innen?

Alles MINT oder was? Google und Co. sind anders

Neue Selbstständigkeit jenseits des Freelancings

Wo findet man die eigene Berufung?

AUSBLICK Was das bedeutet

Für unser Selbstverständnis

Für die armen Unternehmen

Für die empowerten Menschen

Für die verzweifelten Bildungsanbieter

Für uns als Gesellschaft

AUFBLICK Wie es für dich weitergeht

Anmerkungen

Die Autorin


Einblick
Aus dem Maschinenraum eines verunsicherten Bürgertums

«KARRIERE IST ETWAS HERRLICHES, ABER MAN KANN SICH NICHT IN EINER KALTEN NACHT AN IHR WÄRMEN.»

Marilyn Monroe

Das hatten sie sich anders vorgestellt. Sie meinten es doch gut. Damals, als Ronald Reagan, Margaret Thatcher und auch unser Helmut Kohl die konservative Wende ausriefen und niemand etwas dagegenhielt. Die 68er hatten sich ausrevolutioniert, der Sozialismus hatte sich in Kuba, Korea, Kambodscha und in der DDR schon selber abgeschafft. Der Neoliberalismus bot sich als Zukunftsmodell der westlichen Gesellschaft dar. Es klang ja so überzeugend:

Neues Wachstum generieren, den Unternehmen neue Absatzmärkte verschaffen und alles, aber wirklich alles diesem Ziel unterzuordnen. Mehr, mehr, mehr. Alle Menschen galt es in diesen Prozess zu integrieren, für unser aller «Wohlstand». Und die Besten, Leistungsfähigsten sollten daran ordentlich verdienen. Als Ansporn, Zielmarke, Möhre.

Die zentrale Idee hinter dieser neoliberalen Ideologie: Geht es den Unternehmen und den Besserverdienenden gut, sickert genügend Kapital nach «unten» – und alle profitieren von diesem Prozess. Naja, fast alle.

Die Legende von der höheren Bildungsleiter wurde zum Mantra. Businessschulen, tausende von Bachelor- und Master-Variationen wuchsen und gediehen, denn sie waren das Premium-Ticket für den Arbeitsmarkt. Jeder sollte aus seinen Neigungen das Beste machen können. Ein Master der Numismatik oder der Filmwissenschaft, Hauptsache ein Master.

Die Globalisierung nahm ihren weiteren Lauf, eine weitere Drehung auf einer neuen Umlaufbahn. Für viele lief es größtenteils auch ganz gut. Die Menschen kümmerten sich um ihre Karrieren, sie lernten und schufteten, reisten und sahen die Welt. Und überhaupt: Die Kinder der 68er wuchsen in eine zunehmend liberalere Welt hinein, die kulturellen Werte änderten sich nachhaltig – und die weltgesellschaftlichen Strukturen ebenso.

Dann startete die Digitalisierung langsam durch. Für viele nur eine Randerscheinung, eine Freizeitbeschäftigung. Für andere wurde sie zum zentralen Lebenselixier, das alles verändern sollte.

Schwellenländer nutzten ihre Chancen, der globale Handel nahm Fahrt auf. Immer mehr Menschen partizipierten am weltweiten Warenhandel. Die globalen Kreisläufe boomten und die Zahlen stimmten. Gut, es gab ein paar Krisen und Kriege und immer mehr Menschen begaben sich auf die Flucht. Aber über alle Kategorien hinweg ging es der Menschheit immer besser. Durchschnittlich. Das wissen wir jetzt rückblickend aufgrund des Datenmaterials der «Welt in Zahlen».[1]

Es gab nur einen Wermutstropfen: Das Klima. Eigentlich war es längst bekannt. Seit den 1970er-Jahren gab es erste umweltpolitische Demonstrationen. Der Club of Rome warnte. Aber es scherte kaum jemanden. Man machte weiter, wie gehabt. Die politischen Strukturen waren darauf angelegt, bedient zu werden. Von jedem und jeder Einzelnen. Alle kämpften. Für sich. Und die eigene Familie. Solidarität mit anderen Gruppen, denen man nicht selbst angehörte? Kostete zu viel Energie. Man kann sich ja nicht um alles kümmern. Hauptsache, die Wirtschaft boomt. Die große und auch die kleine.

Und so drehte sich die Welt Jahr um Jahr weiter. Ohne große mentale Veränderungen. Alle machten einfach immer so weiter. Weder nach links noch rechts wurde geblickt. Leider auch nicht nach vorne, zumindest hierzulande. Man hörte und las zwar hin und wieder, dass von einer digitalen Transformation die Rede war. Aber wie, bitteschön, sollte solch eine Spielerei wie ein Onlineshop, eine Suchmaschine oder soziale Netzwerke unsere Wirtschaft nachhaltig verändern? Lächerlich, fanden das viele – und machten weiter wie gehabt. «Hoffentlich ist dieser Hype bald wieder vorbei», so hörten wir es häufig schallen.

Nun, es sollte anders kommen. Als sie es bemerkten, waren die meisten Züge bereits abgefahren. Gut, man konnte die Digital-Infrastrukturen nutzen, um wenigstens noch etwas am neuen globalen Rad mitzudrehen. Aber man konnte ja niemanden dazu zwingen. Wegen Datenschutz und so – ihr wisst schon. Man war gelähmt im Hier und Jetzt. Jahr um Jahr. Es gab ja keine eigenen, europäischen Plattformen, die usable waren. Also machte man: nix.

Leider lernte man dabei auch nicht, neu zu denken. Ohne Praxiserfahrung dominiert das Geschwafel. Es gibt keine Expertise und damit kein Potenzial, das Morgen mitzugestalten. Der Umgang mit der Digitalisierung fokussierte darauf, sich vor den anderen Plattformen und Prozessen zu schützen. Nichts sollte verändert werden. Stört uns nicht. Uns geht es gut. Und solange es uns gut geht, ändern wir überhaupt nichts. Warum auch? Was sollen die Unkenrufe!

Alles ging weiter seinen gewohnten Gang. Es wurde Papier bedruckt, gefaxt, unfassbar umständlich bürokratisiert, unendlich viel Energie darauf verwendet, diesen langsamen Prozess am Laufen zu halten. Und keiner hatte mehr Kraft, über den Tellerrand zu schauen. Geschweige denn, etwas zu bewegen. Man musste ja schaffe, schaffe, Häusle baue. Und reisen, ja, Urlaub machen. Um sich zu erholen von dem Ganzen.

Nur langsam dämmerte es immer mehr Personen in halbwegs verantwortlichen Positionen, dass sich da in anderen Teilen der Welt etwas tut. Dort nutzten sie die Digitalisierung, um Prozesse zu optimieren, um dem Klimawandel zu begegnen und die Gesellschaft neu zu strukturieren. Besser. Effizienter. Klüger. Zumindest im Großen und Ganzen.

Klar kamen dadurch auch die Nepper, Schlepper, Bauernfänger zum Zuge, die versuchten, Strukturen und die digitale Inkompetenz der Menschen für ihre Zwecke zu nutzen. Dagegen musste man sich schützen. Darum kümmerte man sich hier gerne. Man nutzte diesen Hebel, um den eigenen Einflussbereich weiter auszudehnen – alles unter dem Vorwand, uns zu schützen. Und wir schützten uns. Beschäftigten uns unentwegt und dauernd mit dem Schutz unserer wie anderer Räume. Schutz. Schutz. Schutz. Bloß nichts selbst gestalten. Außer den eigenen Garten.

Derweil, in anderen Weltregionen, entwickelten sie weiter. Immer raffinierter nutzten sie die Potenziale der Digitalisierung, um Gesellschaft neu zu denken. Sie vernetzten Menschen und Maschinen, organisierten damit das gesellschaftliche Zusammenleben neu, alles veränderte sich, auch die Handelsströme, die Unternehmen, die Arbeit. Einfach alles. Es wurde auch höchste Zeit. Die Klimakrise stand kurz vor dem Point of No Return.

Hierzulande staunte man weiter. Und schützte sich weiterhin gegen diese immensen Veränderungen. Man ahnte bereits, es könne schlimm enden mit dieser Region. Zu groß war der Abstand, der sich in den letzten Jahren exponentiell aufgebaut hatte. Wie sollen wir das auch noch schaffen?

Offiziell wurde verlautet: Keine Sorge, wir haben das im Griff. Wir wollen den Leuten doch keine Angst machen. Derweil ahnten immer mehr, dass hier niemand etwas im Griff hat. Wir rasen im D-Zug auf eine Wand zu. Für einen Hyperloop fehlt leider die Energie.

Während alles auf Stillstand hindeutete, versuchten Einzelne weiterhin ihr Glück. Ihr Leben leben. Mit Perspektive. Statussymbole anhäufen. Auto, Hausbau, Reisen, eine Familie gründen und so. Welche attraktiven Alternativen sollte es dazu geben? Darauf haben wir sämtliche Prozesse optimiert. Auch das Bildungssystem. Ein Zertifikat nach dem anderen erwerben. Zeugnisse und Abschlüsse. Alles sammeln, ausdrucken und abheften. Karriere machen. Möglichst in einem Konzern. Oder im öffentlichen Dienst.

Die Gesellschaft aktiv mitgestalten? Ach was. Was kann man als einzelne Person schon groß ausrichten?! Lieber dem Bedürfnis nach Sicherheit, Überschaubarkeit und Ruhe folgen, als dem Ziel, auf einem langen Marsch durch die Institutionen die Gesellschaft zu verändern. Wir machen einfach weiter wie gehabt. So haben wir das gelernt. Also bilden wir uns fort und fort.

Woanders konnte man mit diesen Zertifikaten immer weniger anfangen. Dort legten die Fortschrittlichen, sie, die das Morgen gestalteten, kaum noch Wert darauf. Schon lange nicht mehr. Es entwickelten sich Parallelwelten, die immer weiter auseinanderdrifteten. Das hatte man hier im Mainstream nicht im Blick. Denn wo kämen wir hin, wenn wir alles Alte infrage stellten?! Was wir uns mühsam aufgebaut hatten, historisch wohlbegründet …

Doch immer mehr Menschen ahnten, dass es so, wie es ist, nicht mehr lange bleiben sollte. Eigentlich besser schon ab heute nicht mehr. Eigentlich. Aber wie dann?

Derweil machten alle einfach weiter, wie es sich bewährt hatte. Optionen schaffen für die unsichere Welt von morgen. Und die alte genießen, solange es geht: Immer mehr Menschen machten Abitur, studierten, sammelten Zertifikate, reisten und genossen. Sie wussten es nicht besser. Es hatte sich so herumgesprochen. So macht man das, wenn man persönlich weiterkommen will. Aber kommt man weiterhin so weiter? Insbesondere, wenn man älter als 45 Jahre ist und sich beruflich neu orientieren muss oder will – aus welchen Gründen auch immer?! Das waren die Fragen bis Anfang 2020. Und dann kam Corona.

Willkommen im Maschinenraum des Bürgertums.


Rückblick
Wie es zum Zertifikate-Wahnsinn kommen konnte

«WENN ICH DIE FOLGEN GEAHNT HÄTTE, WÄRE ICH UHRMACHER GEWORDEN.»

Albert Einstein


Ein kleiner Rückblick auf die Berufsentwicklung

«Und, was machen Sie so beruflich?» – oder: «What do you do for a living?» wird gerne zu Beginn einer Unterhaltung gefragt, um das Gegenüber grob einordnen zu können. «Ach, Sie sind nicht fest angestellt?» – «Nein, ich bin selbstständig oder pflege meine Eltern oder kümmere mich um unsere Kinder.» – «Ach so, verstehe … [nicht].»

Der Beruf ist im deutschsprachigen Raum das Drehkreuz des Lebens. Sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich bestimmt er unsere Diskurse und Strategien, unsere Wünsche und Hoffnungen. Entsprechend steht die Berufsausbildung als Sinnbild für die Integration junger Menschen in die Gesellschaft. Ob dies nun per Studium oder betrieblicher Lehre erfolgt, sei erst einmal dahingestellt. Aber ein Beruf beziehungsweise die darauf aufbauende Arbeit gibt Menschen Sinn, so sagen sie. Der Beruf ermögliche ihnen eine selbstbestimmte Existenz. Der Beruf sei schließlich die Voraussetzung für eine spätere Alterssicherung – ausgeübt am besten in einem Anstellungsverhältnis, denn dieses böte am meisten Sicherheit, so meinen sie.

Nun ist zu diskutieren, ob ein Studium der Sozialwissenschaften tatsächlich spezifische Berufsbilder suggeriert, mit denen man in einem Berufsfeld reüssieren kann, um Rentenansprüche anzusammeln. Vom Taxifahren über die Beratung und Politik bis hin zur Vorstandsvorsitzenden ist hier alles möglich. Von solch einem Studium ausgehend sind die beruflichen Wege so vielfältig und wenig vorherbestimmt, dass man fragen muss: Was ist eigentlich ein Beruf? Und wie hat sich das (angestellte) Berufsbild im deutschsprachigen Raum so fest etablieren können?

Beruf stammt von Berufung

Gehen wir zurück bis zu Martin Luther, der die christliche Religion vom Klerus befreite und damit die klerikal definierte Beruflichkeit (Gott dienen!) in die Welt führte. Diese Analyse verdanken wir den Forschungen Max Webers zur protestantischen Ethik und der Entstehung des Kapitalismus, die er Anfang des 20. Jahrhunderts vorantrieb.

—Während früher das Notwendige gearbeitet wurde, um das Überleben zu sichern, größtenteils unabhängig von irgendwelchen «Berufen», so verknüpfte Luther angesichts des sich steigernden Handelsvolumens die wachsende Bedeutung der Berufsarbeit mit einem religiösen Wert: Arbeit und Fleiß seien der einzige Weg, um Gott zu gefallen, da er die Menschen dazu berufen hat. Zwar seien alle Berufe gleichwertig, das Leben des Einzelnen sei aber vorherbestimmt und das Individuum habe sich dem Willen Gottes zu fügen. Berufliche Tätigkeit wurde hier im Sinne weltlicher Pflichterfüllung und der (hierarchischen) Einordnung in die Gesellschaft zur göttlichen Berufung erhoben.

—Calvinismus und Idealismus knüpften daran an: Im Laufe der Zeit wandelte sich das Berufsbild zur Idee, die eigene Persönlichkeitsentwicklung selbstbestimmt und fokussiert voranzutreiben. Bauern, Handwerker oder Kaufleute, die sich in Zünften und Gilden organisierten, um sich gegenüber dem Adel und der Kirche abzusichern, brachten sich zunehmend in Stellung. Der jeweilige Beruf stellte das primär sinnstiftende Element des Lebens und mithin der Persönlichkeit dar. Insbesondere in der Landwirtschaft und im Handwerk waren Berufsleben und Privatleben häufig untrennbar miteinander verbunden.[2]

—Mit der Aufklärung, die schließlich die wesentlichen Voraussetzungen für die Französische Revolution schuf und damit die Befreiung des Dritten Standes ermöglichte, also der normalen Bevölkerung, waren schließlich die ideellen Voraussetzungen für die «Erfolgsgeschichte» des Kapitalismus geschaffen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eröffneten neue berufliche Perspektiven, sodass sich die Berufsbilder fortan ausdifferenzierten.

Neue Positionen durch die Industrialisierung

Nun startete die Industrialisierung durch; mit der Konsequenz einer signifikanten Bürokratisierung. 1794 erfolgt in Preußen die Festschreibung der allgemeinen Bilanzierungspflicht für Unternehmen. 1821 wird die Schreibmaschine erfunden; Büroarbeit und Produktion werden durchrationalisiert und in Fabriken strukturiert.

Damit einher geht eine zunehmende Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit, sowohl räumlich als auch funktional. Arbeitsstätte und Wohnort liegen neu an unterschiedlichen Orten. Eine Landflucht setzt ein. Junge Bauern strömen in die Fabriken, um ihre zukünftigen Familien ernähren zu können. Sie benötigen keine besonderen, an ihre Person gebundenen Fähigkeiten, sondern können sich mit einfachen manuellen Tätigkeiten in die Arbeitsprozesse einbringen. Damit verliert der Beruf seinen Charakter als Berufung; er dient fortan hauptsächlich dem Erwerbszweck.[3]


Entstehung erster «Berufe»

—Geleitet werden die Unternehmen in Preußen vor und nach 1800 zunächst von Beamten. Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein betreibt der Staat in eigener Regie von Beamten geleitete Unternehmen, vor allem Bergwerke und einzelne Musterbetriebe.[4] Andere Fabriken werden nach und nach von bürgerlichen Familien und Kaufleuten aus vorindustriellen Handwerksbetrieben herausgegründet und betrieben. Die Betreiber haben familienintern ein geeignetes Skillset an Fähig- und Fertigkeiten entwickelt, das sie an den Nachwuchs weiterreichen können, um ohne Absicherung und Anleitung die sich bietenden Gelegenheiten der sich schnell entwickelnden Industrialisierung für ihre Zwecke zu nutzen.[5]

—Gleichzeitig braucht der frühe Kapitalismus genau diese Formen familialer Strukturen, Prozesse und Ressourcen, um die Herausforderungen zu bewältigen, für die es noch keine staatlichen Strukturen gibt. Stehen die Unternehmen zu Beginn noch in starker Konkurrenz zum Adel und zum Stand des Beamtentums, so können sie über die Jahrzehnte durch interfamiliale Verheiratungen, Akkumulation von Kapital und der Abgrenzung gegenüber der Angestelltenschicht eine führende Rolle innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen.[6]

—Managementpositionen der wachsenden Betriebe werden von Mitgliedern der eigenen Familie(ndynastie) besetzt. Es existierten ja keine Managementschulen oder vergleichbare Institutionen. Das ändert sich mit der Zeit. Ab dem frühen 19. Jahrhundert bildeten preußische Beamte in staatlichen Einrichtungen wie Gewerbeschulen oder technischen Hochschulen Handwerker, Werkmeister, Techniker, Ingenieure und Unternehmer aus, für die in der Wirtschaft ein zunehmender Bedarf entsteht. Der Ingenieurtitel war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein dem Kriegsbaumeister vorbehalten. Dieser militärischen Herkunft und preußischen Tradition ist es zuzuschreiben, dass es – anders als etwa in England oder der USA – lange keine zivilen, also unabhängigen Bau- und Maschineningenieure gab.[7]

Differenzierung der Erwerbstätigen

Der Staat zieht sich in der frühen Industrialisierung zunehmend aus den wirtschaftlichen Kontexten zurück und schafft einen Markt, der (nach Adam Smith) als unsichtbare Hand Angebot und Nachfrage über die Preismechanismen zusammenbringt und innerhalb dessen sich alle frei bewegen können. Auch auf dem Arbeitsmarkt steht es zunehmend den Menschen grundsätzlich frei, sich ein Einkommen über verschiedene Wege zu verschaffen. Dies gilt auch für Frauen, die als weniger aufmüpfige Arbeiterinnen vor allem in der Textilindustrie gerne eingestellt werden.[8]

—Es differenzieren sich industrielle Berufsbilder aus. Neben den preußischen Beamten und Unternehmer*innen etablieren sich Ingenieure, Buchhalter, Korrespondenten, Registratoren, Werkstattschreiber, Meister, Zeichner, Kassierer und andere als Angestellte, die als innerbetriebliche Gruppen bereits in der ersten Phase der Industrialisierung klar identifizierbar sind. Ihr Sonderstatus gegenüber der Arbeiterklasse zeigt sich an ihrer finanziellen Absicherung, der geringeren Anzahl an Arbeitsstunden und der relativen Arbeitsplatzsicherheit, da sie an ihre Person gebundene Fähigkeiten besitzen. Viele verstehen sich als Privatbeamte. Über die Jahre organisieren sie sich immer stärker überbetrieblich, um sich weiter abzusichern und als Mittelstand von den Arbeiter*innen abzuheben, die sich zunehmend auch organisieren und sozialpolitische Forderungen stellen.

—Das Beamtenbild, bestehend aus Macht, Bildung, Pflichtethos und sozialer Sicherheit, war für viele Männer erstrebenswert, da dem ausgeprägten Selbstbewusstsein der Beamten generell Anerkennung gezollt wird. Dieses bürokratische Organisations- und Verhaltensmuster findet so Eingang in die frühen Unternehmen, denn Manufakturen und Fabriken sind arbeitsorganisatorisch komplex aufgebaut und benötigen vielfältige Koordinierung. So entstehen erste Hierarchien unterhalb der Unternehmensführung, die sich ausdifferenzieren, um die Herausforderungen einer kompetitiven, am Gewinn orientierten Organisation zu meistern. Große Fabriken wie Siemens, Krupp und weitere bauen arbeitsorganisatorische Strukturen vergleichbar mit dem staatlichen Beamtentum aus, was die Schwerfälligkeit mancher heutiger Konzerne erklärt.

—Die Gewerbefreiheit ab 1871 ermöglicht schließlich neue berufliche Gestaltungsmöglichkeiten für Unternehmen, die selber ihre Gesellen ausbilden können und dafür keinen zünftigen Meisterbrief mehr vorweisen müssen. Die betriebliche Konkurrenz wächst entsprechend, sodass auch vom Handwerk immer mehr Personen in die Industrie ziehen. Die Phase der Hochindustrialisierung startet durch.

«Bürokratische Traditionen der deutschen Industrialisierung trugen damit zu einem Überschuss an hierarchischer Differenzierung und sozialer Ungleichheit bei, die immer weniger funktional gerechtfertigt waren, die aber dazu dienten, den Status quo mithilfe eines Minimums an Zugeständnissen zu erhalten und es vorübergehend ermöglichten, auf tiefergreifende, für die Herrschenden kostspieligere Reformen zu verzichten. Durch die Verschärfung und vorläufige Zementierung einer immer weniger durch Eigenarten des ökonomischen Prozesses bedingten Gesellschaftsgliederung trugen sie zur Aufrechterhaltung traditioneller, in gewissem Sinne vorindustrieller, hierarchischer, ‹mittelständischer› Erwartungen bei, die in Krieg, Inflation und Depression um so schärfer in Widerspruch zu unaufhaltsamen, auf Abbau überholter Statusunterschiede drängenden ökonomischen Entwicklungen traten und ‹mittelständische› Proteste auch in den abhängigen Mittelschichten auslösten, die den angelsächsischen Ländern – in dieser Stärke und Form – erspart blieben.»[9] Auch wenn es sehr soziologisch ausgedrückt ist, sehen wir bereits hier, wie kapitalistische Verwertungsinteressen, ständisches Statusdenken und sozioökonomische Veränderungsdynamiken immer weiter auseinanderdriften und ein kulturelles Spannungsfeld schaffen, das schließlich in zwei Weltkriege mündet. Chaos bricht aus, ein barbarisches Gemetzel findet statt und alles organisiert sich neu. Nun, so halb neu. Am beruflichen Duktus ändert sich wenig.

—In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führt der immer weiter sich beschleunigende technologische Wandel zu sich ständig wandelnden Arbeitsplatzanforderungen und zu einem Bruch mit der Idee des einen sinnstiftenden Berufes. Man hält zwar lange daran fest, möglichst mit Aktentasche einem geregelten Leben nachzugehen, vorzugsweise in einem Job mit unbefristetem Arbeitsverhältnis. Aber die Verhältnisse ändern sich, spätestens seit den 1970er-Jahren, als Ölkrise, soziokulturelle Veränderungen infolge der 1968er-Bewegung und die globale Netzwerkgesellschaft langsam beginnen, das Rad zu drehen.

—Die benötigten Qualifikationen und Kompetenzen in den Industrieländern wandeln sich immer schneller. Hinzu kommen jede Menge Disruptionen. Dazu später mehr. Nichtsdestotrotz hält man bis heute im deutschsprachigen Raum an der Berufsausbildung als einzig geeigneten Startpunkt in die Gesellschaft fest. «Nach wie vor besteht in Deutschland die Auffassung, dass mit dem vor dem Hintergrund eigener Interessen ergriffenen Beruf eine lebenszeitlich definierte Tätigkeit verbunden ist, der Beruf und die mit ihm erworbenen Fähig- und Fertigkeiten einen in die Lage versetzen, gesellschaftliche und berufliche Wandlungen zu meistern und darüber hinaus seinen Platz in der Gesellschaft zu finden.»[10]

—Auch in der Schweiz bleibt das Erlernen eines Berufes ein Kernelement der Lebensbewältigung, um Status und Lebensglück zu finden. Überhaupt zeichnet sich die Schweiz im Vergleich zu anderen Industriegesellschaften durch eine starke Verberuflichung der Arbeitswelt aus. Dies hängt vor allem mit der Etablierung der Berufslehre am Ende des 19. Jahrhunderts zusammen.[11]