Kitabı oku: «Circolare»

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Über dieses Buch

Mit ihrem Prosaband «Circolare» nimmt uns Anna Felder mit auf Reisen an ferne und nahe Orte. Wir reisen mit ihr nach Lugano, Sizilien, Olten, Bern und Spanien und anderswohin, und wir begegnen den unterschiedlichsten Menschen. Etwa einem Barmann in Italien, dessen Worte rund und sauber erklingen, einem pensionierten Versicherungsagenten beim Hundespaziergang, einer Frau, die sich beim Essen nicht ablenken lässt, oder Teresa, die barfuss in die Erzählung eintritt.

Überall mit dabei ist Anna Felders Gespür für das Besondere im Alltäglichen. Sie beschreibt in ihren kurzen Texten das Leben zwischen Bewegung und Innehalten, zwischen Beobachten und Weitergehen, und das alles in ihrer musikalischen, zerbrechlichen Sprache. Dabei entdeckt sie immer wieder im Fremden das Bekannte und im Bekannten das Fremde.

«Circolare» ist eine ganz eigene, innere, Geografie europäischer Orte und Unorte.

«Anna Felders Romane, Erzählungen, dramatischen Texte, stellen – musikalisch in den Mitteln, gelassen melancholisch in der Tonlage – immer den Menschen in seiner Verletzlichkeit und auch in seiner Vergänglichkeit dar.» Neue Zürcher Zeitung


Foto Yvonne Böhler

Anna Felder, geboren 1937 in Lugano, ­Literaturstudium in Zürich und Paris, Promotion über Eugenio Montale, ­danach ­Tätigkeit als Italienischlehrerin und Schriftstellerin. Lebt in Aarau und Lugano. 1998 Schillerpreis für das Gesamtwerk, 2004 den Aargauer ­Literaturpreis und 2018 den Schweizer Grand Prix Literatur.

Anna Felder

Circolare

Prosa

Aus dem Italienischen von Ruth Gantert, Maja Pflug, Barbara Sauser und Clà Riatsch

Limmat Verlag

Zürich

A Caterina, che sa quello zero perfetto

QUI

Wer ruft mich

Wenn ihr sie zur Stosszeit durch die Fussgängerzone laufen seht, ein wenig unzeitgemäss gekleidet wie jemand, der von ausserhalb kommt, ohne Tourist zu sein, wenn ihr seht, wie sie im Hin und Her der Menschen stehen bleibt wie jemand, der jemanden sucht, niemanden sucht da im Staub, dann ist sie es, ganz bestimmt. Marisa.

Wer ruft mich?, fragt sie sich. Suchend dreht sie sich nach der Stimme um.

Beim Namen gerufen, Marisa: mit langgezogenem i, wie sie es hier machen; sie hatte es nicht vergessen, sie hatte einfach nicht mehr daran gedacht.

Dort, in der Stadt draussen, hatte sie sich nie so Marisa nennen hören, wie es sich gehört. Hier schon, hier beharren sie auf dem i: seit ihrer Geburt, heute wie damals.

Jemand hat sie gerufen, halt, Tante Lia auf der Veranda von damals.

Alle rufen sich hier, grüssen von einem Bogengang zum anderen, schau sie an: Doch kaum drehst du dich um, verschwinden die Namen in den a der Strasse, in den i, in den Apfelsinen, auf den Stiegen, in den Sandalen.

Und Tante Lia? Hinter den Kamelien auf der Veranda rief sie, beobachtete die Passanten: die ausgestreckte Hand im Grün, eine grüssende Kamelie: Marisa … Dort, wo jetzt die frühere Gotthard-Bank von Botta rottet, man kann sie nicht verfehlen.

Erkennt man die Stadt noch, wenn man nach langen Pausen zurückkehrt?

Die Stimmen ja, die erkennt man, und die Kehren, den Lauf der Sonne, Osten Westen, See Gebirge: Niemand hat mit den Jahren postmoderne neue Berge, neue Seen, neue San Salvatori geschaffen.

Immer gleich geblieben unter dem Himmel, rufen sie sich zum Gruss ihre Namen zu: die in den Sandalen enden, ja klar, und unter Wasser, unter der Erde; auch heute werden die Gemüsehändler, die Architekten, die Neugeborenen wieder dafür sorgen, sie lebendig auf die Strasse zu werfen.

Eine altmodische Marisa ohne Gepäck fühlt sich ­sofort gerufen, blitzschnell erkennt sie den Appell. Ginge sie dann in die andre Welt hinüber, werden sie sie im Glitzern der kühn geschwungenen Brücken von morgen – Fussgängerbrücken werden sie heissen – dennoch weiter rufen wie einen Hausschatten, wie eine von ihnen, Mariisa, Mariisa: wie eine, die immer da war, seht ihr nicht, dass sie sich umdreht?

Höflicher Helm

Sonne, See und Wind lenken meine Entscheidung, und ich merke, dass ich nicht die Einzige bin. Die Terrasse des Restaurants ist voll. Alle sitzen da und trinken etwas; sobald ein Tischchen frei wird, setze ich mich ebenfalls. Die Einkäufe werde ich später ­erledigen, einstweilen werfe ich einen Blick in die Zeitung, halte den Nachmittag bei den Segeln draus­sen im Offenen an; in Reichweite das prickelnde San ­Pellegrino, das der Kellner mir einschenkt, als wäre es sein Werk.

Die Segel draussen, alle weiss, könnte man für Klosterschülerinnen im Wettstreit halten, bereit für die Regatta: Sind sie nummeriert?

Am Nebentisch lässt sich ein Paar nieder: sportlich er und sie, braungebrannt. Er schielt nach meiner Zeitung, meinem Glas: Braucht er etwas? Rasch blättere ich die Seiten durch, und als ich ihm über die Überschriften hinweg einen flüchtigen Blick zuwerfe, fragt er mich schnell auf Französisch «c’est libre?» und legt sofort seinen glänzend blauen Motorradhelm auf den Stuhl gegenüber.

Vom Helm befreit, widmet er sich nun seiner blonden Gefährtin, beugt sich über das Tischchen, streichelt und küsst ihre Hände, als wären es zwei ihm hingestellte Tässchen. Auf Französisch bestellen sie dann nacheinander ihr Eis, komplizierte, unterschiedliche Sorten.

Doch unterdessen bittet mich eine distinguierte, grauhaarige Dame um die Erlaubnis, sich an mein Tischchen setzen zu dürfen, «ist hier frei?», sagt sie selbstsicher und schickt sich an, sich niederzulassen.

«Passen Sie auf, da liegt der Helm», warne ich sie und weise auf den verliebten Besitzer daneben; augenblicklich weicht die Dame zurück, entschuldigt sich gebührend bei dem Helm, und schon ist sie fort. Dieser kurze Augenblick der Ablenkung hat genügt, damit die halbe Zeitung mir rücksichtslos davonflog: Ich muss hinterherrennen, sie ausschütteln und ge­gen den Wind ohrfeigen, um sie wieder zu ordnen.

«Daran ist bloss der Wind schuld», erkläre ich dem Helm auf Italienisch; ich begreife, dass auch ich ihm ein bisschen Konversation schulde, das Wetter erleichtert jedenfalls den Kontakt, das kommt häufig vor, und ich füge noch ein paar Belanglosigkeiten hinzu, bevor ich den unterbrochenen Artikel wieder aufnehme.

Die Motorradfahrer haben inzwischen ihr Eis ­bekommen: wahrscheinlich Kirsche und ein Regenbogeneis er, sie Mokka und Torrone mit einem Schokoherz, oder Amaretto mit Herz.

Nun wendet sich ein junger Vater an mich, seine Frau und die Kinder setzen sich an einen Ecktisch, aber ein Stuhl fehlt: wenn der, auf dem mein Helm liegt, frei wäre …, und mit der Attitüde des Familienoberhaupts hat der eifrige Papi schon den glänzenden Helm hochgehoben, um ihn korrekt auf meinen Tisch zu legen. Dann trägt er den Stuhl mit erhobenen Armen über die Köpfe hinweg zwischen den noch stehenden Kindern zu Mami; beflissener als der Kellner.

Wer weiss, ob der Kellner Kinder zu Hause hat, die auf ihn warten. Ich frage ihn danach, als ich noch ein San Pellegrino und einen Espresso bestelle: nur so, um dem blauen Schädel, meinem Tischgenossen, der gutmütig daliegt, ohne gefragt worden zu sein, noch kurz Gesellschaft zu leisten. Man möchte daran lecken wie an einem Rieseneis: Blau kühlt, doch vielleicht glüht es, oder fiebert.

Kein Eis mehr nebenan; die Motorradfahrer lutschen nun lange am Löffelchen, jeder an seinem, betrachten den See, jeder in seinem Schweigen: Niemand zweifelte daran, dass die Segel und der Wind heute extra für die beiden hergeweht worden sind, eine weisse Herausforderung, schon Vorahnung einer gemeinsamen Erinnerung.

«Ja, sicher, ich bin Vater eines Babys», antwortet der Kellner, während er mir das zweite Wasser einschenkt; doch jemand, ein Mädchen mit Rucksack, stösst gegen das Tablett, sorry, und er giesst fast alles über den Tisch, den Helm und die Zeitung.

Sie bringen mir ein drittes San Pellegrino und einen frischen Espresso, und als ich bezahlen will, weil ich noch einkaufen muss, sagt der Kellner zu mir, nein, es sei alles schon beglichen und bezahlt.

Mir fehlt die Zeit, mich mit Nachforschungen und Förmlichkeiten aufzuhalten, unwillkürlich wende ich mich an den Helm: Drei grosse San-Pellegrino-Tränen glitzern auf seiner Rundung, schimmern blau und lebendig in der Sonne, drei vollkommene Perlen, und ich danke ihm von Herzen für alles, für seine Höflichkeit, seinen azurblauen Charme, den Espresso samt Wasser; «falls er die Zeitung brauchen sollte …», ich schiebe ihm die Seiten unters Hirn, «trocknen tun sie im Nu», versichere ich ihm.

So mache ich mich geschwind auf den Weg, kehre den Segeln den Rücken, als wäre ich schon ein sausendes Auto oder Motorrad, radarbespitzelt rasend, sofort untergetaucht im frechen Lärm des Verkehrs.

Souvenir
(für die zwei Esskastanien in Aarau)

Wunderbar sind diese zwei nicht und auch nicht sonderlich in Form: Aber sie sind Zeugen des Tessins, sind Edelkastanien wie im Dorf meiner Kindheit, hinter Giornico gibt es ganze Wälder davon, und viel schönere.

Zu den Wäldern dort bringen mich diese zwei hinter dem Lattenzaun des Gartens zurück: Ich verlasse das Haus, noch ist kein Gedanke daran, nicht der Schatten einer Edelkastanie; auf dem Fahrrad biege ich in die Hohlgasse ein, fahre an den Gärten vorbei hinunter in die Stadt: nein, hinunter ins Tessin.

Denn im Nu auf der Hälfte der Hohlgasse, rechts die zwei zwischen anderen Bäumen, plötzlich zum Appell erschienen, festlich grün oder rostrot oder im winterlichen Garten schwarz und kahl, sagen sie ciao zu mir wie im Tessin.

Und schon habe ich auf meinem schnellen Rad durch den unvermittelten Gruss der zwei Edelkastanien eine ganze, lebendige Portion Vergangenheit zurückgewonnen, einen sicheren Vorrat an Mehl. Hatten sich die damaligen Leventiner bei der Schlacht in Giornico, der Battaglia dei Sassi Grossi, nicht ihre Portion Mehl gesichert, Kastanienmehl zum Überleben? 1478.

Echte Früchte tragen auch diese in der Hohlgasse, nach dem Feuerwerk ihrer langen Blütenkerzen bekommen sie Kastanien. Im Herbst wissen das die Kinder aus dem Viertel: Auf dem Weg von der Schule nach Hause oder zum italienischen Doposcuola halten sie an, um ein paar zu erbeuten. Aber auch an Ferientagen, bei Regen, bei Nebel bin ich welchen begegnet, die ihre Trottinette an den Lattenzaun lehnen und gebückt wie kleine Alte auf dem Trottoir mit erfahrenen Stiefeln die stachelige Schale zerdrücken, zerquetschen, zerstampfen, damit unter hellem Gelächter eine, zwei, drei Kastanien mit glänzend braunen Augen herausspringen.

Wenn es regnet und ich zu Fuss vorbeilaufe, kommt es vor, dass ein vorsichtiges Kind seine Arbeit unterbricht: Es hebt den Kopf und grüsst mich, um sicherzugehen, dass nicht ausgerechnet ich die Besitzerin der Früchte bin. Da ich nicht in den Garten abbiege, sondern weitergehe, wechseln wir einen raschen, verständnisinnigen Blick, Komplizen bei einer gemeinsamen, privaten Errungenschaft: Auch heute haben wir drei Kastanien der Sassi Grossi gewonnen, die wir sofort für immer mitnehmen, das Kind auf dem Trottinett, ich als Souvenir.

Buona continuazione

Er wurde regulär pensioniert, der Versicherungsagent der Stadt in der Deutschschweiz, in die ich vor Jahrzehnten übersiedelt bin. Manchmal treffe ich ihn auf dem Hundespaziergang am Fluss, in Trainer, Mütze oder Béret, und ich frage mich, ob er mich bei seinem anstrengenden Lauf erkennt oder nicht. Die Andeutung eines Grusses höre ich ihn jedes Mal hervorkeuchen, ein unvermeidlicher Anfang, der vielleicht ausser meiner Hörweite seinen Abschluss findet, und ich möchte wetten, dass dieser pünktlich bei jeder Begegnung hervorgekeuchte Ansatz, nicht das alte Folgendes ist, mit dem er grüsste, als er noch berufstätig war.

Folgendes erklärte er bestimmt am Telefon, Folgendes anstelle von Namen und Guten Tag, Folgendes – machen wir eine Bestandesaufnahme –, um dann die Absätze der Versicherungspolice Punkt für Punkt zusammenzufassen.

Daheim nannten wir ihn den Folgendes: Herr ­Folgendes hat angerufen, richteten sie mir aus, wenn ich heimkam, und der Tag hielt kurz inne, erstarrte schauernd in der Gewissensprüfung, die Folgendes auferlegte, in den Paragraphen, den Zahlen zu den Risiken und Unglücksfällen, in die wir früher oder später alle hineinliefen, ich gestern am Fluss, du heute auf dem Platz.

Wenn Herr Folgendes wüsste, dass in der andern Stadt am See, wo ich geboren bin, in der Stadt im Tessin, wohin ich in mehr oder weniger langen Abständen zurückkehre und mich schon auf der Strasse als Einheimische fühle, schon wenn ich ein Ciao aufschnappe, wenn mein Folgendes, im Wettlauf mit dem Hund, wüsste, dass ein Doppelgänger, ein Kollege oder Komplize auch dort unten nicht aufhört, immerzu Bestandesaufnahmen zu machen in den Strassen des Zentrums, zuhanden eines jeden von uns, dem er auf Schritt und Tritt folgt, ohne Hund, in Mantel und Schal oder dunklem Anzug, unermüdlich, Herr auch über den See, die Seepromenade und Paradiso; niemals in Eile, aber auch nicht müssig, eine flache Mappe unter dem Arm oder die Zeitung oder auch ein Brot. Grossgewachsen, mit herausgedrückter Brust und vorspringendem Bauch, den Kopf immer gerade, damit die Brille nicht verrutscht: Man könnte meinen, er sehe nur auf grosse Distanz, nur sehr weit am Horizont, Folgendes, Folgendes, jenseits der Ampeln, von Campione und der Grenze; dabei kommt er, kaum gehe ich an ihm vorbei, eben vom Gotthard heruntergekommen, schnell meinem Gruss zuvor, schon verabschiedet er mich mit zwei Wörtern, mit Blick auf meine Abwesenheit, gar nicht überrascht von meiner Gegenwart: Buona continuazione wünscht er mir unvermittelt, ohne stehen zu bleiben, ohne Gruss und Einleitungsfloskeln, buona continuazione, wie er’s meinem Vater und meiner Mutter wünschte, als sie noch am Leben waren

Buona continuazione wiederholt er prompt, als er mir zwei Stunden später über den Weg läuft oder in aller Ruhe zwei Jahre später, und zählt mir so schon jetzt und jedes Mal endgültig, meine nächste Rückkehr ab, meine nächste Abfahrt, die sich eines Tages als die endgültige herausstellen könnte.

Amen in Olten

Im Lautsprecher wird meine Ankunft angekündigt, und schon komme ich; die Abfahrt wird angekündigt, und schon fahre ich wieder ab. Ein Zug bin ich, ein Personenzug: einer von vielen, effizient und pünktlich, im dritten Jahrtausend.

Im Dienst der Öffentlichkeit fahre ich auf Schienen kreuz und quer durch die Welt, CH ist meine Welt: mit irdischer Gewissenhaftigkeit, in amtlichem Auftrag; mit Decrescendo und Crescendo, kreischenden Bremsen, ratternden Rädern, wechselnden Menschen, die aus- und einsteigen; dann los, mit Höchstgeschwindigkeit unter jedem Himmel die tausend Schicksale zu befördern, die in einem einzigen vereint sind: meinem. Für eine Wegstrecke, für eine Portion Leben, registriert in Stunden, Minuten und Sekunden, verkörpere ich das Los meiner Passagiere: Ich nehme sie auf und übernehme die Verant­wortung, die Sache ist nicht ohne, und das wissen sie. Man braucht nur die Signora anzusehen, die in Wagen 3 eingestiegen ist; kaum hat sie sich ans Fenster gesetzt, noch nicht einmal den Mantel ausgezogen, nicht einmal die literarischen Zitate überflogen («Moi, le mauvais poète qui ne voulait aller nulle part, je pouvais aller partout.» Blaise Cendrars) oder das Gepäck der anderen beachtet, wendet sie sich in Gedanken schon den letzten Dingen zu, die plötzlich drohen, endgültig, keinen Blick wirft sie mehr auf den winkenden Enkel noch auf die Uhr am Bahnhof, in Olten: Schon formuliert sie in Gedanken ihr Gebet, gnädig sei ihr die Stunde, vielleicht die letzte, ihr wie jedem.

Dass sie betet, den Annehmlichkeiten abhold, die ich ihr bieten könnte, erkennt man an dem starren Blick; an den gefalteten Händen, am Zittern der Lippen. Wir vom Zug würden alles tun, damit ihr Köfferchen aufrecht zu ihren Füssen stehen bleibt, damit Handtasche und Schirm ihr nicht von den Knien rutschen. Ich persönlich würde gern zu ihr sagen Amen, Amen, und weiter geht’s. Allen von der Reise und der Unerbittlichkeit der Reise schwer geprüften Damen, allen verloren in der Riesengrösse des Zugs sitzenden Damen sage ich mein riesengrosses Amen; ihnen zuallererst: so häuslich fürs Jenseits eingerichtet, mit gezücktem Billett.

Der Habitué dagegen, und solche gibt es in jedem Wagen, zeigt, dass er keine Minute seiner An­we­senheit, seiner Reise, seiner Chance verpassen will. Alles nutzt er: belegt zwei Plätze, am liebsten oben, für sich und für die Zeitungen; wirft durchs ganze Abteil prüfende Blicke auf die Blätter der Mitreisenden, um sie sich anzueignen, sobald jemand aufsteht; sofort liebäugelt er mit dem Sitz gegenüber, den er einnehmen wird, falls gelegentlich die Richtung wechselt, in Luzern zum Beispiel. Und vor allem sichert sich der Habitué auf seinem Beobachtungs­posten die schöne Aussicht: nein, nicht auf die Weiden, die Wälder, das Röhricht von Sempach, mit dem Glockenturm im Hintergrund zur Erinnerung an den Sonntag; das alles ist selbstverständlich. Nein, unfehlbar reserviert er sich, schräg aus dem Augenwinkel, über und neben der aufgeschlagenen Zeitung, den Blick auf das schöne Mädchen, das telefoniert, die Wiesen betrachtet, liest, träumt, das Mobiltelefon kitzelt, sich schminkt, Tagebuch schreibt, kaut, die Tage zählt, sich eigensinnig die Haarspitzen abschneidet, anscheinend schielt es.

Gut, sage ich zu diesem ungeduldigen Mann: Du, der du die Zeit in der Hand hast, der du dich so genau auskennst, dass du beinahe vor mir am Ziel bist, und dann den Zug von dir abstreifst, wie man sein Jackett ablegt, gut, dass du im Ausschnitt über der Zeitung den langsamen Rhythmus eines Mädchens wahrnimmst, zwischen einem bedruckten Blitz und dem nächsten, in einer Andeutung ohne Überschrift die glatten Zeiten einer Julia erreichst, nennen wir sie so; ruhig gleiten ihre Gedanken über den See, wie die seidigen Haare einzeln durch ihre Finger, über den verzauberten Augen.

Seidenweich fügen sich dabei für sie jedes Ja, jedes Nein aneinander, die sie in ihrem Leben schon gesagt, schon erobert hat, seit sie sich erinnern kann. Manche davon kassiert sie, als löschte sie sie am Computer, delete, andere speichert sie und ordnet sie neu ein, mit politischem Instinkt, ohne Kamm, rechts oder links vom Scheitel; schon will sie sie mit dem Gummiband hinten zusammenbinden, da besinnt sie sich eines Besseren, sie schüttelt sich, wirft das Gewicht nach vorn, zerzaust alles vor den Augen und beginnt von vorne, schielender denn je.

Für sie, für die Julias, würde ich die Fahrt verlangsamen, ich täte das Unmögliche, führe endlos rund um den See. Leicht würde ich dahingleiten, zusammen mit den Schwänen, die paarweise auf dem Wasser hoch erhobenen Hauptes die Mücken zählen, ohne Julia von ihrer privaten Berechnung abzulenken. Die Minuten denken daran, sich zu verdoppeln, gespiegelt auf der Oberfläche: das Weiss dem Weiss treu, die 2 der 2 treu, so dass man nicht sicher ist, was dann wirklich stirbt, die Zahl oder ihre Spiegelung. Aber nichts da, kaum habe ich mir eine harmlose Abschweifung ausgemalt, höre ich schon, wie mich der unausbleibliche, erklärte Feind verflucht: dickbäuchig, aber jugendlich in der Kleidung, Sonnenbrille und Mütze mit Schirm nach hinten, als sässe er am Steuer eines Rennwagens. Auch die Schlüssel knallt er mir auf die Ablage, Schlüssel und Zigaretten: damit mir nur ganz klar wird, dass der Zug nichts ist für ihn.

«Hätte ich das Auto genommen, wäre ich jetzt schon in Fanta», gibt er mir zu verstehen.

Superpünktlich fahren wir durch Scienza: keine Verspätung angekündigt, milder Winter, null Reklamationen. Nur er: Der fingierte Jugendliche protestiert, misst die Zeit im Negativen: Wo wir nicht sind, wie spät es nicht ist.

«Nicht einmal in Finte wärst du.»

Er nimmt die Mütze ab, setzt sie wieder auf; steckt die Schlüssel wieder in die Tasche; sucht Schnee, wo keiner ist.

«Versteht ihr, wie langweilig Zugfahren ist.»

Rundherum findet er keine Zustimmung. Die meisten Leute schlafen, zu zweit, zu dritt, zu Telefonmusik; zwei Kinder lachen laut mit vollem Mund.

«In einer halben Stunde wäre ich da.»

Er schaut auf die Uhr, fügt hinzu, zieht ab; sein Knie wippt ungeduldig, das eine, das andere.

Würde er doch erkennen, mit wie viel Geschick, mit wie viel Elan ich mich in die Kurven lege, gerade schräg genug, um den Zug voranzubringen, ohne den Schwung zu verlieren, um schon Tunnels, Weichen, Stationsvorsteher vorauszusehen, die mir freie Fahrt geben, und meine Passagiere zufriedenzustellen. Ihn inbegriffen.

«Fanta», spuckt er ins Mobiltelefon.

«Finte», erwidere ich, im Vorsprung.

Auf der Autobahn stehen die Autos im Stau.

Finta, hier Bahnhof Finta: Der Lautsprecher erklingt im Ticken der Uhr; er wiederholt die Ansage auf Deutsch, mit grossem Erfolg: Eine Frau steigt ein, ganz Überschwang, die Arme voller knospender Kame­lien, Stechpalme und Calycanthus, ein Sonnentransport. Niemand hilft ihr, doch lächeln die Blumen in ihrem Arm, dem Garten treu; Verstimmtheit kennen sie nicht, der Hecke eingedenk werden sie die Möglichkeit haben, auf der Reise ihre Reifezeit zu vollenden, im Zug aufzublühen, als wäre der März schon fortgeschritten, als brächte mir schon der Osterverkehr in voller Fahrt den Fahrplan des ganzen Jahres durcheinander.

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