Kitabı oku: «Sieben Farben»
Impressum
Sieben Farben
Anna J. Heeb
Copyright: © 2013 Anna J. Heeb
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-6273-5
Kapitel 1: Entdeckungen
Das Große Museum
Silberne Schneeflocken tanzten wie Wattebällchen durch die Straßen der kleinen Stadt. Die dunklen Dächer der dicht an dicht gedrängten Häuser trugen dicke, weiße Schneemützen und die Schornsteine hüllten sich in schwere Rauchmatten, die vom eisigen Wind immer wieder zerrissen wurden. Die Sonne hatte sich hinter einer dichten Wolkendecke versteckt, als würde sie ahnen, welches Unheil sich unter ihr zusammenbraute.
Ein kleiner, untersetzter Mann eilte schnaubend und kopfschüttelnd über den großen, verschneiten Museumsplatz inmitten der Stadt. Er hatte den Kragen seines dunklen Wintermantels hochgeschlagen und seine schwarze Mütze weit ins Gesicht gezogen. Tiefe Besorgnis lag in seinem Gesicht. Seine Augen zuckten unruhig. Leise vor sich hinmurmelnd ging er an einer Gruppe von etwa zwanzig Kindern vorbei, die laut kichernd wild durcheinanderliefen. Er nahm das fröhliche Treiben kaum wahr. So sehr war er in seine sorgenvollen Gedanken vertieft, dass er beinahe einen kleinen Jungen umgestoßen hätte, der ihm auf der Flucht vor einem beachtlichen Schneeball eines Kameraden vor die Füße gelaufen war.
„Wenn nicht schnell etwas passiert, endet das in einer Katastrophe“, presste der Mann zwischen seinen Zähnen hervor. Mit schnellen Schritten steuerte er schließlich auf das riesige Gebäude auf der anderen Seite des Platzes zu. Während er durch den Eingang eilte, fiel sein Blick auf ein kleines Zierbäumchen, das davor stand. Es war aschfahl. Er stutzte. „Das kann doch nicht sein“, murmelte er entsetzt, bevor er im Gebäude verschwand.
Von dieser Erscheinung gänzlich unbeeindruckt schaute Frau Schmitt auf das wilde Treiben ihrer Schüler. Sie war der Inbegriff einer alten Klassenlehrerin mit ihrer Nickelbrille, die immer ziemlich weit vorne auf ihrer spitzen Nase saß.
Mit hoher, fester Stimme sagte sie schließlich: „Sammelt Euch bitte!“ Nach einer kurzen Pause, die sie dazu nutzte, ihre Schützlinge noch einmal eingehend zu mustern, zeigte sie auf das große Gebäude auf der anderen Seite des Platzes und fuhr fort. „Da sind wir. Das Große Museum. Bitte denkt daran, was wir besprochen haben. Bleibt alle zusammen, seid leise und fasst nichts an.“ Und als hätte sie die bevorstehenden Ereignisse kommen gesehen, fügte sie hinzu: „Und bedenkt, wenn Ihr Euch die Bilder anschaut: Die Kunst ist das Tor zu einer anderen Welt.“
Lara stand neben Frau Schmitt und schaute dem kleinen, untersetzten Mann nach, der leise murmelnd an ihr vorbeigegangen war. Sein Verhalten kam ihr seltsam vor. Doch dann schüttelte sie den Kopf, zog die Schultern hoch und blickte mit strahlenden Augen über den Platz. Auf seiner gegenüberliegenden Seite lag ein imposanter, verschnörkelter Sandsteinbau mit einer großen, steinernen Treppe, auf der der abgetretene Schnee schmutzig grau schimmerte. Viele geschwungene Stufen führten hinauf zu einem riesigen, rötlichen Torbogen, der von zwei schwarzen eben so riesigen Türflügeln verschlossen wurde. In einem der Türflügel war eine kleinere Tür eingelassen. Darüber stand in goldenen Lettern „EINGANG“. Das war es also, das Große Museum.
Lara ahnte natürlich noch nicht, wie sehr dieser Museumsbesuch ihr Leben verändern würde. Aber für sie war er sehr wichtig. Schon lange hatte sie sich darauf gefreut.
Lara liebte Gemälde. Ihre Mutter war deshalb schon öfter mit ihr in kleineren Museen gewesen, die es in der Umgebung reichlich gab. Das Mädchen konnte sich nicht satt sehen an den vielen wunderschönen Kunstwerken und wollte bei diesen Ausflügen gar nicht mehr nach Hause. Doch das Große Museum hatte sie noch nie gesehen. Dabei hing dort ein Bild, das ihr Vater vor langer Zeit gemalt hatte. Sie wollte es unbedingt einmal sehen. Ihrer Mutter war es dort aber immer zu voll. Deshalb dachte sie sich jedes Mal eine neue Ausrede aus, um mit ihr nicht hingehen zu müssen.
Endlich fand die Schulklasse zu einer Ordnung und setzte sich knirschend auf der verharschten Schneeschicht in Bewegung. Vorneweg ging Frau Schmitt mit energischem Schritt und leicht verrutschtem Dutt, gefolgt von einem Lindwurm aus zwei Reihen Schülern, die sich jeweils paarweise an den Händen hielten. Ein sehr farbenfroher Lindwurm war das. Die vielen bunten Mützen, Handschuhe, Schultaschen und Jacken hoben sich deutlich gegen den grauweißen, winterlichen Museumsplatz ab. Den Abschluss bildete Herr Krenzler, der Referendar, ein unscheinbarer, schlanker Mann mit graumelierter Kurzhaarfrisur und Hornbrille. Er wirkte immer etwas unbeholfen, war aber wegen seiner freundlichen Art beliebt bei den Kindern.
Lara ging wie immer neben Peter. Er war ihr bester Freund seit sie denken konnte. Peter war sehr zierlich für seine elf Jahre und konnte nicht so schnell laufen wie die anderen Kinder. Aber er war der beste Kumpel, den man haben konnte. Leider war er manchmal sehr traurig. Vielleicht lag das daran, dass Peter seinen Vater nur sehr selten sah, weil er so oft auf Dienstreise war. Lara musste daran denken, wie sie seinen Vater einmal – das einzige Mal – gesehen hatte. Es war an Peters vorletztem Geburtstag gewesen. Da kam sein Vater ausnahmsweise einmal etwas früher nach Hause, wirkte aber sehr gehetzt in seinem verknitterten schwarzen Anzug. Er grüßte die Kindergeburtstagsgesellschaft knapp, legte Peter ein riesiges, wunderschön eingepacktes Geschenk auf den Gabentisch und verschwand dann wieder in seinem häuslichen Arbeitszimmer. Einige Minuten später hörte man ihn telefonieren. Er schien vollkommen vergessen zu haben, warum er früher nach Hause gekommen war. Peter wirkte danach sehr geknickt. Seine Mutter versuchte den missglückten Auftritt des Vaters durch noch lustigere Spiele wieder wett zu machen. Aber so richtig leuchteten Peters Augen an diesem Tag nicht mehr. Das taten sie sowieso eher selten.
Bei Lara war das anders. Und wenn sie doch einmal traurig war, erzählte sie das einfach ihrer Mutter oder ihrem Großvater und dann ging es ihr schon wieder besser. Ihrem Vater aber konnte sie nichts erzählen. Er war verschwunden, als sie zwei Jahre alt gewesen war. Damals war er mit ihrem Großvater in Südfrankreich unterwegs gewesen. Mehr wusste sie leider nicht. Ihr Großvater sprach niemals darüber und ihre Mutter wollte sie nicht fragen. Ihre Erinnerungen an ihren Vater waren nur schemenhaft. Eigentlich kannte sie ihn nur von Fotos, aber sie vermisste ihn sehr. Oft stellte sie sich vor, wie es wohl wäre, wenn er plötzlich wiederkäme. Sie glaubte fest daran, dass das eines Tages auch passieren würde.
Da stieß einer von Laras Mitschülern sie aus Versehen an und riss sie aus ihren Gedanken. Sie zupfte an ihrer bunten Wollmütze. Peter musste so etwas nie tragen. Er hatte immer schön weiche und kuschelig warme Sachen von irgendwelchen Edelmarken in ausgesuchten und aufeinander abgestimmten, gedeckten Farben der Saison. Das konnte sich ihre Mutter nicht leisten. Ihr Vater war ja Künstler gewesen, wie ihr Großvater. Leider hatte er damit aber kaum Geld verdient und deshalb auch nie etwas zurückgelegt. Ihre Mutter war Sekretärin in einem großen Betrieb. Lara hatte sie im letzten Winter einmal dorthin begleitet. Ihre Mutter arbeitete in einem klobigen Büroturm, der etwas außerhalb der kleinen Stadt in den Himmel ragte. Das dunkelverspiegelte Gebäude stand auf einem großen, grauen Platz. Auf der angrenzenden, wie ein Bach gewundenen Straße rasten unablässig Autos an ihm vorbei. Lara erinnerte sich, dass damals ein paar schwarze Krähen um den Turm gekreist waren, wodurch er noch bedrohlicher gewirkt hatte. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie daran dachte. Zu allem Übel war der Chef ihrer Mutter auch noch ein ziemlicher Grießkram. Er blickte immer aus stechenden, meist etwas rotunterlaufenen Augen auf die Welt. Ihre Mutter hatte einmal erzählt, dass er eigentlich ganz nett sei, nur eben oft überarbeitet.
„Warum arbeitet er denn so viel?“ hatte Lara sie da gefragt.
„Na, weil er viel Geld verdienen will“, hatte die Mutter erklärt.
„Und was macht er damit?“ hatte Lara daraufhin wissen wollen. Die Mutter hatte nur mit den Schultern gezuckt und geantwortet: „Tja, ich schätze, er gibt es aus.“
Lara hatte aber nicht locker gelassen. „Wofür denn?“
„Ach je, Kind! Das weiß ich doch nicht. Ich schätze Autos, Häuser, die Alimente seiner zwei Ex-Frauen. Was halt so alles anfällt.“
„Mama, was sind denn Ex-Frauen?“
Die Mutter hatte kurz nachgedacht und dann erklärt: „Naja, das sind die Frauen, mit denen er mal verheiratet war.“
„Und warum ist er das jetzt nicht mehr?“
Da hatte die Mutter geschmunzelt. „Ich glaube, weil er zu viel gearbeitet hat und keine Zeit für sie hatte.“
„Und macht ihn denn die ganze Geldverdienerei glücklich?“
Da hatte die Mutter Lara verwundert angeschaut. Nachdenklich hatte sie dann entgegnet: „Nein, ich glaube nicht.“
‚Mhm, klingt irgendwie nicht sinnvoll’, hatte sich Lara da nur gedacht.
Naja, jedenfalls da ihre Mutter nicht so unglaublich wichtig wie Peters Vater war und sie deshalb nicht so viel Geld hatten, musste sie jeden Winter mit dieser hässlichen, knallbunten Mütze herumlaufen. Und wenn sie mal kaputtging, strickte Mama einfach eine neue, in knallbunt, natürlich...
Das blöde Ding kratzte ganz schön, aber ohne bekam man unangenehm kalte Ohren. Laras dunkle Haare lugten vorne aus der Mütze heraus. Hinten liefen sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre Hände waren ziemlich kalt, obwohl sie in dicken Fäustlingen steckten. Die hatte sie von ihrer Cousine geerbt. Sie waren noch etwas groß. Außerdem hatten sie an einer Stelle schon ein kleines Loch. Lara hatte das ihrer Mutter aber noch nicht erzählt, sonst bekäme sie wohlmöglich auch noch knallbunte Handschuhe und die violette Farbe der Fäustlinge gefiel ihr. Also lieber etwas frieren. Ihre Wangen leuchteten rot. Es war wirklich ein eisiger Wintertag. Ihr Atem gerann zu kleinen, weißen Dampfwolken, sobald er ihre Nase verlassen hatte.
Langsam kroch der Kinderlindwurm die Treppe zum Museum hinauf und schob sich kompakt durch die Eingangstür. Lara bestaunte die hübschen Bäumchen neben dem Eingang des Museums. Sie trugen kleine Schneemützen. Nur ein Bäumchen sah ganz traurig aus. Seine kleinen Blätter waren aschfahl mit einem leichten Lilastich. Lara stutzte. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Kaum war der Kinderlindwurm vollständig in die Eingangshalle eingetreten, löste er sich auch schon wieder auf und verwandelte sich erneut in ein buntes Kinderknäuel. Die leise plappernden Kinderstimmen hallten in dem großen Raum wider, hin und wieder übertönt von einem lauteren Gekicher oder einem piepsenden Mobiltelefon. Auf beides reagierte Frau Schmitt prompt mit einem strengen Blick über ihre Nickelbrille. Schon senkte sich der Lärmpegel der ganzen Gruppe etwas. Doch sobald sich die Lehrerin wieder wegdrehte, stieg er erneut an. ‚Also, so einen Radau hätte es früher nicht gegeben’, dachte sie. Stimmt, Mobiltelefone gab es zu ihrer Schulzeit noch nicht…
Als Lara drinnen angekommen war, atmete sie tief durch. Wärme durchströmte sie augenblicklich. Die weißen Atemnebelwolken waren verschwunden. Sie begann sich umzusehen und staunte nicht schlecht. Der Museumsbesuch versprach spannend zu werden und irgendwie kam ihr die Halle vertraut vor, obwohl sie hier ja noch nie gewesen war.
Über Lara wölbte sich eine riesige, rötliche Kuppel, die an manchen Stellen mit goldenen Blättchen verziert war. „Das nennt man Mosaik“, hörte sie Sarah hinter sich flüstern, ein zierliches Mädchen, mit pechschwarzen Zöpfen. Sarah wusste immer alles. Jedenfalls fast immer…
Die Kuppel wurde von vier doppelten Säulen getragen, die in die vier Himmelsrichtungen deuteten. In goldenen, verschnörkelten Buchstaben stand oben an jeder Doppelsäule auf einer steinernen Platte, die wie eine Schriftrolle aus Pergament aussah, jeweils eine Himmelsrichtung. Demnach lag der Eingang zwischen Norden und Westen. Die Säulen bestanden in der Mitte aus grauweißem, und unten und oben aus rotem Marmor. Die Wände zwischen den Säulen waren aus dunkelgelbem Stein. Sie waren mit blumenförmigen Einlegearbeiten aus schwarzem und grauem Marmor sowie kleinen Spiegeln verziert. Die ganze Eingangshalle erinnerte eher an einen Tempel als an den Vorraum eines städtischen Museums. Auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite führte eine ausladende Treppe mit schneeweißen Stufen hinauf zu den Ausstellungssälen. Sie teilte sich. Ein Gang bog nach rechts ab, einer nach links und einer führte geradeaus. Neben dem Eingang war ein Glashäuschen. Darin saß eine Dame mit grüner Uniform und ziemlich roten Lippen. Frau Schmitt wandte sich ihr zu, um die Eintrittskarten zu besorgen. Nach kurzer Zeit kam die Lehrerin wieder zurück und rief mit hoher Stimme: „So, Ihr Lieben! Jetzt gehen wir erstmal zur Garderobe. Folgt mir bitte.“
Als Lara sich zum Gehen umdrehte, zuckte sie vor Schreck zusammen. Sie sah zwei düstere Gestalten am Ende der Treppe. Die Gestalten trugen tiefschwarze Mäntel, die bis zum Boden reichten. Die Kapuzen hatten sie ins Gesicht gezogen. Mit grimmiger Miene schauten sie in die Vorhalle. Ihre gelben, habichtartigen Augen schienen einen förmlich zu durchbohren. Dann drehten sich die Gestalten um und gingen mit steifem Schritt in einen der Ausstellungssäle. Lara wandte den Kopf, um ihnen nachzuschauen. Niemand sonst schien sie bemerkt zu haben. Das Mädchen wunderte sich. Was waren das für Kreaturen und was wollten sie hier? Das war doch alles sehr merkwürdig.
Das kunterbunte Kinderknäuel trabte hinter Frau Schmitt leise lärmend her. Sie gingen zu einem Gang, der dem Kassenglaskasten gegenüber lag. Am Ende des Ganges war ein großer Raum. Darüber stand „GARDEROBE – SCHULKLASSEN“. Im Raum gab es mehrere Reihen mit langen hakenbewehrten Kleiderstangen. Die Kinder legten ihre dicken Wintersachen ab und hängten die Jacken auf die Haken, nicht ohne dies mit entsprechender Lautstärke zu kommentieren. Es folgte wieder ein strenger Blick von Frau Schmitt und der Knäuel bewegte sich zurück in die Haupthalle. Herr Krenzler folgte den Kindern mit ungelenkem Schritt.
Die alte Lehrerin erhob erneut ihre Stimme. Etwas heißer sagte sie: „So, wir teilen uns jetzt auf. Heute Morgen habe ich Euch doch rote und lila Aufkleber verteilt. Die holt Ihr jetzt mal hervor und klebt sie Euch gut sichtbar auf Eure Pullover. Die lila Gruppe geht mit Herrn Krenzler, die rote Gruppe kommt mit mir mit.“
Lara und Peter freuten sich. Sie waren beide in der lila Gruppe. Das bedeutete, sie gehörten zu den harmloseren Schülern und es hieß, der Museumsrundgang würde spaßig werden.
In der Ausstellung
„Also, los geht es. Wir nehmen als erstes den mittleren Gang.“ Herr Krenzler winkte etwas ungelenk mit seinen dünnen Armen, um seine zehn Schützlinge zum Aufbruch zu motivieren. Beinahe hätte er sich dabei mit der einen Hand, die beim mit-den-Armen-Wedeln etwas zu nah am Kopf vorbeistreifte, die Brille von der Nase gestoßen. Im letzten Moment fing er sie aber mit der anderen Hand noch auf und rückte sie hektisch wieder zurecht. Dabei wippte er wie eine Gummipuppe hin und her. Dann schaute er die Kinder etwas verlegen an. Er drehte sich um, stolperte dabei fast über seinen linken Fuß und setzte sich schließlich in Richtung des ersten Ausstellungsraums in Bewegung.
Die Kinder folgten ihm kichernd die Treppe hinauf. Peter schnaufte leise. Er litt unter Asthma und bekam deshalb oft schlecht Luft. Endlich waren sie oben. Ein weiter Gang öffnete sich vor ihnen. Rechts und links gingen mehrere Türen ab, die jeweils in einen Ausstellungssaal führten. Manche Räume hatten hinten Durchgänge zu zusätzlichen Räume. Es war gar nicht so leicht, sich hier nicht zu verlaufen.
Herr Krenzler führte die Gruppe in den ersten rechten Ausstellungssaal. Direkt neben dem Durchgang stand eine Wachsfigur, ein zauseliger Typ mit wuscheligem, verfilztem, dunklem Haar, breiten Augenbrauen, einer dicken Nase, einem unrasierten Kinn und einem dicken Fellumhang. Lara blieb am Eingang des Saales stehen und musste lachen. „Der sieht ja wie mein Onkel Gustav aus“, flüsterte sie Peter zu. Der grinste zurück. Ja, die Ähnlichkeit zu ihrem Onkel war unverkennbar. Wenngleich er diesen noch nie mit einem Fellumhang bekleidet gesehen hatte. Aber die Frisur und der missmutige Blick stimmten schon überein.
Plötzlich hörte Lara, wie jemand mit schweren, energischen Schritten hinter ihr den Gang entlang lief. Sie drehte sich um und sah zwei Museumsmitarbeiter, die mit besorgtem Gesichtsausdruck vorbeieilten. Der ältere von beiden – es war der kleine, untersetzte Mann, der an ihr draußen vorbeigegangen war – murmelte in Richtung des zweiten, jüngeren Mannes: „So etwas habe ich in den 35 Jahren meiner Tätigkeit noch nie gesehen. Und glaub mir, ich hab schon viel gesehen. Wenn das so weiter geht, haben wir wirklich ein Problem.“
Der andere Mann nickte vielsagend. Hinter den beiden kam plötzlich noch ein weiterer Museumsmitarbeiter schnaufend herbeigelaufen. „Warten Sie bitte, meine Herrn!“ rief er sehr aufgeregt. Seine Wangen leuchteten von der ungewohnten Anstrengung ganz rot. Man sah, dass er nur sehr selten lief. Er schwitzte. „In Raum 2b haben wir noch ein befallenes Bild!“ Während er das sagte, wedelte er wild mit den Händen. Die beiden anderen Männer drehten sich energisch um, sahen den dritten Mann entgeistert an und machten sich im Laufschritt auf den Weg. Der dritte Mann tupfte sich derweil mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und hatte nun Mühe, den beiden anderen zu folgen. Schnaubend wankte er ihnen hinterher.
Lara schaute den dreien nachdenklich nach und runzelte die Stirn. Nach einem kurzen Moment zuckte sie dann aber mit den Schultern und wandte sich wieder dem Ausstellungsraum zu. Sie ging weiter hinein.
Der Raum enthielt Nachbildungen vorgeschichtlicher Bilder von Wildtieren. Einige Abbildungen sahen eher aus wie dahin gekrakelte Strichmännchen, andere waren sehr schön ausmodelliert. Sie strahlten in erdigen Tönen. Die Tiere schienen förmlich aus ihrer urzeitlichen Umgebung in die heutige Zeit hinüber zu springen. Lara legte den Kopf in den Nacken. Da entdeckte sie, dass auch die ganze Decke mit urzeitlichen Bildern verziert war. Eine ganze Herde schien da über ihren Kopf hinweg zu traben. Desto länger sie nach oben sah, desto lebendiger wurden die Tiere. Sie konnte förmlich hören, wie sie mit ihren Hufen scharten, sich langsam in Bewegung setzten und mit jedem Schritt leise klapperten.
Peter schaute sich derweil die Strichmännchen an der linken Seitenwand an. Ja, das konnte er auch. „Schon komisch, wenn ich so etwas male, interessiert es niemanden, und wenn das jemand anderes vor tausenden von Jahren an eine Felsenwand gekrakelt hat, dann wird es hier ausgestellt“, murmelte er etwas verärgert.
Leises Kichern durchzog die Kindergruppe. Offensichtlich hatte der urzeitliche Wachsmensch mit noch mehr Verwandten eine gewisse Ähnlichkeit, was nachhaltig für Heiterkeit sorgte.
Herr Krenzler schaute etwas unsicher. Dann begann er doch zu reden. „So, jetzt stellt Euch mal hierhin… Äh… Also, was Ihr hier seht, sind die Anfänge der Kunst. Diese Zeichnungen hier“, er deutete auf mehrere Nachbildungen, die an der Längswand hingen, „also diese Zeichnungen… oder auch Bilder, stammen aus europäischen Höhlen.“
Tobias hob die Hand. „Ja, bitte, Tobias, Du hast eine Frage.“
„Warum haben die denn damals auf Höhlenwände gemalt?“
„Das ist eine sehr gute Frage“, entgegnete Herr Krenzler. „Also, zum einen haben sie ja in Höhlen gewohnt…“ Lara verdrehte die Augen und schüttelte sich. Das musste im Winter ja richtig kalt gewesen sein. „… und zum anderen waren das kultische, magische Orte für sie.“
„Was ist das?“ fragte Sybille, ein Mädchen mit roten Haaren, einer roten Brille und einem roten Wollpulli. Genau genommen war alles an ihr irgendwie rot.
„Also, äh, das waren Orte, die sehr wichtig für sie waren. Dorthin haben sie sich zurückgezogen, wenn sie sich zum Beispiel für die Jagd vorbereitet haben. Das war damals ja eine große Sache… äh… und nicht gerade ungefährlich. Und da haben sie sich eben von ihren Göttern oder Ahnen… so genau weiß man das nicht, war ja keiner dabei… äh… die Kraft erbeten, um ihre Jagd erfolgreich durchführen zu können. Man vermutet, dass sie… äh… hauptsächlich ihre Beutetiere an die Wände gemalt haben, um sie irgendwie zu bannen. Auf alle Fälle hing diese Malerei wohl mit… ähm, äh… kultischen Handlungen zusammen. Ganz sicher ist man sich da aber auch nicht. Gut möglich, dass der ein oder andere auch einfach aus Freude an der Malerei gemalt hat.“ Herr Krenzler gönnte sich ein vorsichtiges Grinsen.
‚Was der wohl gedacht hat’, fragte sich Lara, ‚als er das erste Bild gemalt hat. Der Urmensch. Ob er so bei sich dachte, Mensch, heute ist mir langweilig, heute mal ich einfach mal ein kultisches Bild? Schon komisch. Erst haben die Menschen einfach so vor sich hingelebt, und plötzlich, Knall auf Fall fingen sie an, Farbe auf Wände zu verteilen. Das muss doch aufregend gewesen sein, als dieser Urmensch erkannte, dass er etwas real Existierendes auf die Wand gebannt hatte…’
Die Gruppe ging weiter. Im nächsten Raum hingen Nachbildungen von Wandmalereien aus unterschiedlichen frühen Hochkulturen. Insbesondere die ägyptische Kunst war hier vertreten. Diesmal musste Peter kichern. „Die sehen ja alle wie Freaks aus“, raunte er Lara zu. Sie nickte grinsend. Die Ägypter hatten wirklich einen sehr eigenwilligen Malstil. Die Körper waren in sich verdreht. Das Gesicht wurde im Profil gezeigt, der Körper dagegen war frontal abgebildet, und die Beine und Füße waren dann wieder von der Seite zu sehen. Die Augen waren schwarz umrandet. Neben Menschen zeigten diese Bilder auch seltsame Mischwesen mit Krokodils- oder Vogelköpfen. Manche Nachbildungen waren in wunderbaren Farben ge-staltet.
Als Lara sich gerade eine der Abbildungen genauer ansehen wollte, bemerkte sie, wie mehrere Personen an dem Durchgang zu dem Ausstellungsraum hörbar aufgeregt vorbeiliefen. Einer der Männer sagte mit gepresster, abgehakter Stimme:
„Wenn das so weitergeht, können wir den Laden dichtmachen!
Was haben denn Ihre Analysen ergeben?
Wofür bezahle ich Sie überhaupt?!“
Als Lara um die Ecke auf den Flur hinter dem Durchgang schaute, waren die Männer schon weitergegangen. Sie schüttelte den Kopf und ging zurück in den Ausstellungssaal.
Herr Krenzler bat die Gruppe, in der Mitte des Raumes halt zu machen. „Also, das ist die Kunst aus einigen so genannten frühen Hochkulturen. Äh… Wie Ihr seht, hat sich der Malstil stark verändert…“ Peter gähnte. Er musste wieder einmal Medikamente gegen sein Asthma nehmen und war deshalb schon müde. Lara versuchte ihn mit ein paar Faxen aufzuheitern. Herr Krenzler bemühte sich derweil redlich, den Kindern die Schönheit der Ausstellungsstücke zu verdeutlichen. Die meisten konnten ihnen aber nichts Interessantes abgewinnen.
Der Referendar spürte die Langeweile seiner Schützlinge und kürzte seine Ausführungen ab. Nach kurzer Zeit führte er die Gruppe in den nächsten Raum. Sie passierte dabei einen breiten Flur. An den Wänden hingen Nachbildungen, die Menschen dabei zeigten, wie sie über Stiere sprangen. Der anschließende Raum war voll gestopft mit allerlei Vasen. Sie waren mit roter oder schwarzer Farbe verziert. „Das sind griechische Vasen aus unterschiedlichen Epochen“, setzte Herr Krenzler an und langweilte die Kinder diesmal mit Ausführungen über Ursprung und Entwicklung der verschiedenen Stilrichtungen. Als er endlich fertig war, war Peter bei weitem nicht mehr der einzige, der gähnte. Lara schaute sich einige Exemplare genauer an. Seltsame Muster zeigten sie. Wäre nicht auf den kleinen Plexiglasschildchen, die neben den Ausstellungsstücken standen, der Zeitpunkt ihrer Entstehung vermerkt gewesen, man hätte fast meinen können, einige wären gerade erst jetzt fertig geworden…
Aber was war das denn?
Lara drückte die Nase an die Vitrine.
Das war ja seltsam…
Sie wollte gerade Herr Krenzler auf ihre Entdeckung hinweisen, da schickte dieser die Gruppe schon in den nächsten Saal und bemerkte Laras Versuche, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, gar nicht. Sie ging noch mal zu den Vasen… und tatsächlich… das war ja komisch… Aber Herr Krenzler winkte sie mit einer hektischen Handbewegung herbei. Lara folgte unwillig.
„Herr Krenzler…“, hob sie an und zeigte zurück auf eine der Ausstellungsvitrinen. Der Referendar nickte ihr lächelnd zu und entgegnete: „Na, Lara, gefallen Dir die Vasen?“ Dann wandte er sich von ihr ab, um die anderen Schüler nicht aus den Augen zu verlieren. Lara verzog das Gesicht und schwieg. Etwas sehr Merkwürdiges ging hier vor sich.
Der nächste Raum zeigte römische Kunst. Man konnte hier Nachbildungen von Bildern aus Pompeji und allerlei Mosaike bestaunen. Die Kinder bewunderten die aus kleinen bunten Steinchen zusammengesetzten Kunstwerke.
‚Wie lange da wohl einer dran gesessen hat?’ dachte Peter. Lara stand derweil gedankenverloren neben ihm. Er bemerkte, dass sie etwas sehr beschäftigte. Doch ihm blieb keine Zeit nachzufragen, denn schon ging es in den nächsten Raum.
Dieser war sehr groß und dem Mittelalter gewidmet. Bilder mit christlichen Themen hingen hier. Durch ihren goldenen Hintergrund strahlten die Bilder in einem eigentümlichen Glanz. Sie wirkten feierlich, manchmal ein wenig traurig. Ihr Anblick ließ Peter schwer atmen. Weiter hinten gab es dann aber zum Glück Erfreulicheres. In einem breiten Zwischengang, der diesen und den nächsten Ausstellungssaal verband, hingen einige Winterlandschaften. ‚Das passt ja’, dachte Peter und schüttelte sich, weil er an die Kälte draußen denken musste. Lara schien weiterhin nicht ganz bei der Sache zu sein. Beinahe hätte sie ihn im Gehen umgestoßen, weil sie so in ihren Gedanken versunken war.
„Was ist denn los? Hat Dich die Kunst so tief beeindruckt?“ fragte er schließlich mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht.
Lara schüttelte den Kopf. „Nichts. Weiß auch nicht. Muss nachdenken…“
Peter schaute irritiert und dacht: ‚Hoffentlich heckt sie nicht schon wieder irgendwas aus…’
Nun kamen sie in einen weiteren sehr großen Ausstellungssaal. Hier hingen Bilder aus der Renaissance. Wunderschön waren sie. Peter atmete auf. Das gefiel ihm. Die Farben sprangen ihn förmlich an. Er spürte, wie er wieder besser Luft bekam. Auch das Gähnen der restlichen Kinderschar ließ merklich nach.
„So“, hob Herr Krenzler wieder an. „Hier haben wir ein Bild von Botticelli. Schaut mal, er hat den Frühling gemalt.“
„Was sind das denn für Frauen, die da so komisch im Kreis tanzen?“ fragte Christian mal wieder etwas vorlaut.
Herr Krenzler lächelte. „Das sind… äh… die Göttinnen der Schönheit und der Anmut… Und seht mal hier. Das ist ein Bild von Leonardo da Vinci. Die Madonna in der Felsengrotte. Schaut Euch mal an, wie meisterhaft… äh… der alte Leo mit den Farben umgehen konnte…“
Nach ein paar weiteren Ausführungen des Referendars zog die Gruppe weiter.
Im nächsten Raum hingen barocke Gemälde. Auf den Bildern waren auffällig viele wenig bekleidete, füllige Frauen zu sehen.
„Kinder, bleibt mal bitte hier… äh… an der Bank stehen. Genau… Sehr schön… Also, das hier sind Gemälde von Rubens. Äh… Wie Ihr seht, hatte er eine Vorliebe für…“
Lara stand ziemlich weit hinten. Wie immer. Sie war im Drängeln nicht gerade gut. Naja, egal. Sie schaute sich im Raum um und träumte vor sich hin. ‚Der hat ja ziemlich große Bilder gemalt, dieser Rubens’, dachte sie.
Der Referendar führte die Gruppe weiter in den nächsten Raum. Hier hingen ebenfalls Barockbilder, allerdings zeigten sie Gegenstände und Obst und so. „Na, weiß einer, wie man diese Art von Bildern nennt?“ Tobias meldete sich eifrig.
„Ja, bitte.“ Herr Krenzler schaute den Jungen an.
„Ich weiß es. Das sind Obststückchen.“
Die Gruppe lachte. Tobias schaute etwas betreten und grummelte in sich hinein: „Weiß gar nicht, was daran so lustig ist. Man nennt Bilder, auf denen das Meer zu sehen ist, ja auch Seestücke. Dann sollten Bilder, auf denen Obst ist, auch Obststücke heißen. Und wenn sie so klein sind, nennt man sie wohl eher Stückchen…“
Herr Krenzler lachte nicht, er schaute Tobias nur aufmunternd an und sagte. „Nicht ganz, es ist aber trotzdem gut, dass Du Dich getraut hast.“ Dann hob er wieder den Blick über die Gruppe und rief: „Noch jemand?“ Er blickte in zehn erwartungsfrohe Kindergesichter, die alle keine Lust hatten, sich zu melden…
„Na gut, also, das sind so genannte Stillleben.“
„Ihh!“ Marina zuckte zurück.
„Was ist denn passiert?“ fragte Herr Krenzler erschrocken.
„Da ist ein Käfer auf dem Bild!“ Marina konnte vor Ekel kaum an sich halten. Herr Krenzler ging auf das Bild zu und fing an zu lachen.
„Mensch, Marina, da bist Du aber auf das Bild richtig hereingefallen. Äh… Das ist doch kein echter Käfer. Der ist nur gemalt.“
Marina schaute ihn ungläubig an. Widerwillig näherte sie sich dem Bild und erkannte ihren Irrtum. Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Warum malen die denn so was auf ansonsten so schöne Bilder?“ fragte sie ungläubig.
„Insekten sind ein Zeichen von Vergänglichkeit“, entgegnete Herr Krenzler. „Die Bilder sollen den Menschen an die Vergänglichkeit allen Seins erinnern.“ Die Kinder schauten ihn irritiert an.
Herr Krenzler dirigierte seine Schützlinge in den nächsten Raum. Hier hingen sehr elegant aussehende Gemälde von Damen und Herren in pastellfarbenen Kleidern. Den Mädchen gefiel das gut. Die Jungen fanden es ziemlich öde. Lara stand mal wieder ganz hinten. Sie wurde fast an die Wand gedrückt. Tobias schaukelte vor ihr unruhig hin und her. Sie machte einen weiteren Schritt nach hinten und merkte, wie sie mit ihren Schultern die Wand berührte. Es knarrte leise. Da war gar keine Wand, sondern eine Tür, die sich unter ihrem Gewicht langsam öffnete. ‚Oh je’, dachte Lara. Aber da war die Tür schon auf. Sie konnte durch einen Spalt in den dahinter liegenden Raum schauen. Nun wurde ihre Neugier geweckt. Sie zwängte sich durch den entstandenen Spalt hindurch. Peter schaute ihr ängstlich hinterher. Er verdrehte die Augen. „Was stellt sie denn jetzt schon wieder an?“ flüsterte er mit besorgter Miene.