Kitabı oku: «Colours of Life 2: Rosengrau»

Yazı tipi:

Colours of Life 2

Rosengrau

Anna Lane

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Rosengrau - Playlist

Danksagung

Zitate am Anfang der Kapitel,

wenn nicht anders angegeben, von Rudyard Kipling

© 2020 Calad

Ein Imprint des Amrûn Verlag Traunstein

Covergestaltung: Christian Günther | Atelier tag-eins

Lektorat: Nadine Stritzke, Anna Lane

Endlektorat/Korrektorat: Tatjana Weichel | Wortfinesse

ISBN TB 9783958693722

Alle Rechte vorbehalten

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1/20

Prolog

Home I came at wintertide,

But my silly love had died

Seeking with her latest breath

Roses from the arms of Death

Blue Roses

So sieht die Nacht also aus.

Wie all die schönen Dinge, die man liebt, obwohl sie Finsternis und Verderben bringen. Das grelle Licht der Freiheit wirkt so einladend, und doch gehen wir mit dem mysteriösen Fremden, ohne zu wissen, wohin er uns bringt und ob wir je wieder zu unserem wahren Selbst zurückkehren können.

Denn niemand kann die Nacht kontrollieren. Die Nacht hat sich schon längst deiner bemächtigt. Und sie wird so lange an den losen Fäden deines Verstandes ziehen, bis du dich losreißen kannst und das letzte deiner Rosenblätter verlierst, in einem finalen Versuch, nicht ganz der Dunkelheit zu verfallen.

Es ist schwer, sich nicht in den Irrgärten tief in unserer Seele zu verlaufen. Denn sie sind verworren, auf eine unvorstellbare Art. Wir stechen uns an jedem Dorn, aber wir bluten nicht. Gleich jeder Rose, die in den eigenen Erinnerungen wie Unkraut wächst, verdorrt das Gute in uns. Bis unsere Wurzeln vertrocknet sind. Unser Rückgrat brüchig. Und unsere Blüten tot. Grau wie Asche. Als wären wir nichts, als würden wir niemals etwas sein.

1

For things we never mention,

For Art misunderstood --

For excellent intention

That did not turn to good;

From ancient tales‘ renewing,

From clouds we would not clear --

Beyond the Law‘s pursuing

We fled, and settled here.

The Broken Men

Crys

Unter Wasser ist es friedlich. Hier scheint jede Bewegung meines rastlosen Geistes zur Ruhe zu finden. Hier gibt es keine Welt da draußen, nur die Gewissheit, dass mir die Luft ausgehen wird, dass ich auftauchen muss. Aber das Problem ist: Ich will nicht.

Ich möchte mich vor der Realität drücken und ihr entkommen, so lange es geht. Um nicht nachdenken zu müssen. Um alles vergessen zu können.

Doch ich kann nicht vergessen.

Ich sehe hoch, das Wasser macht meine Augen trüb. Da oben ist die Helligkeit gefangen in ihrem strahlenden Kreischen, doch hier unten … hier unten herrscht Stille. Luftblasen entwischen meinen Lippen, und der Druck auf meinen Lungen wird größer und größer. Wie lange sitze ich schon am Boden des Schwimmbades? Ich weiß es nicht. Es könnte eine Minute sein oder sogar schon mein ganzes Leben.

Der Rest des kostbaren Sauerstoffs dringt durch meinen Mund und ich steige mit den runden Bläschen auf, bis mein Kopf die Wasseroberfläche durchstößt.

»Ich hatte schon Angst, dass du ertrunken bist. Ernsthaft, ich habe eben überlegt, ob ich dir nachtauchen soll.« Neptune sitzt auf der Liege neben den vielen Grünpflanzen und schüttelt den Kopf.

Ich streiche mir die nassen Haare aus dem Gesicht und schwimme zum Rand des Beckens. »Du kannst nicht schwimmen.«

»Kann ich nicht. Und trotzdem wäre ich dir nachgesprungen. Bin ich nicht herzzerreißend selbstlos?«

Ich verziehe das Gesicht, zwinge ein Lächeln auf meine Lippen und hieve mich auf den Rand des Beckens. »Wenn ich ertrunken wäre, würde mein Körper oben schwimmen.«

Neptune bleibt still und reicht mir ein Handtuch. Seine Augen sind dunkel, und die ehemals stahlblauen Haare haben ihre natürliche Farbe zurück. Noch immer habe ich mich nicht an den Anblick gewöhnt. Er sieht einfach zu normal aus, zu bodenständig. Unscheinbar.

Ich reibe mir das Gesicht trocken und wringe meine Haare aus, dann wickle ich mich in das halbfeuchte Badetuch.

»Wie lange ist er schon weg?« Neptunes Tonfall ist vorsichtig.

Meine Schultern spannen sich unwillkürlich an. Ich kann nichts dagegen tun, dass sich meine Finger plötzlich fest in das Frottee krallen. »Ein … ein paar Tage. Ich habe nicht mitgezählt.«

Neptune seufzt und folgt mir, während ich durch die Glastür und über die Stufen nach oben zu meinem Zimmer gehe. »Ich dachte, dass es eher Wochen sind. Aber er sagt nie Bescheid, wenn er weggeht.«

Als wir durch die große Flügeltür ins Stiegenhaus gehen, jagt mir die kalte Luft ein Frösteln über den gesamten Körper. Ich lasse Neptunes Bemerkung unkommentiert. Was soll ich darauf auch sagen? Dass es ohne Cam beschissen hier ist? Dass das verkommene Hotel noch glanzloser wirkt, wenn er nicht hier ist? Aber ich schweige und blicke nur auf meine nackten Füße hinab, die zu blass auf dem knallroten Teppichboden aussehen.

»Nein. Sagt er nie«, flüstere ich. Der Schmerz, der beim Aufeinanderpressen meiner Zähne durch meinen Schädel zuckt, tut beinahe so weh, wie hier eingesperrt zu sein. Allein. Während Cameron schon seit siebzehn Tagen weg ist. Er ist einfach gegangen, irgendwohin. Einen Auftrag ausführen oder was weiß ich, doch nie … nie kommt ein Wort über seine Lippen.

Carter schüttelt nur den Kopf, wenn ich ihn frage, wo Cameron sich gerade befindet.

Dieses Warten macht mich krank. Die Ungewissheit, wann er wiederkommt und wie es hier weitergehen soll. Mit uns, mit allem. Mit den anderen, mit unserer Zukunft – falls wir eine haben. Seit wir hier sind, hat sich so vieles geändert. Wir waren töricht, zu glauben, nun frei zu sein.

Wir sind für immer die Sklaven unserer Erinnerung.

Cameron ist so gut wie nie da, Ace spricht kaum mit mir und verlässt nur selten sein Zimmer. Neptune wurde verboten, irgendwie aufzufallen, und das hat ihn gekränkt. Er passt nicht in die Gewöhnlichkeit, in das normale Leben, in das wir uns hier einfinden mussten.

»Die ganze Langeweile bringt mich noch um«, hat er kopfschüttelnd gesagt, nachdem Carter ihm seine blau-blonde Mähne abrasiert hat.

»Glaub mir, noch viel eher tötet dich etwas anderes«, hat Carter geantwortet, und Neptune hat den Mund gehalten. Ich glaube, mit jedem Haar, das zu Boden gefallen ist, zerbrach sein Herz ein wenig mehr. Neptune ist noch nie in seinem Leben normal gewesen. Und jetzt, ohne Vorwarnung, hatte er keine andere Wahl.

Tyler hat sich nicht geändert, aber so wie Neptune von der Bedeutungslosigkeit zerfressen wird, hat die Wut von Tyler Besitz ergriffen. Hin und wieder, wenn ich nachts umherwandle, komme ich am Sportraum vorbei. Das Licht brennt, und ich schleiche mich auf nackten Füßen an, um durch den offenen Türspalt zu blicken. Meistens hämmert Tyler auf irgendetwas ein – einen Sandsack, eine Matte. Eine Weile sehe ich ihm dann zu, weil ich ihn heimlich um seine Wut beneide. Er kann sie rauslassen, kann sich die Fäuste wund schlagen und dann völlig außer Atem sein.

Aber ich … ich bin nur schlaflos. Ich irre umher wie ein Geist, der kein Zuhause hat, und wenn ich ehrlich bin, dann könnte ich selbst dort keine Ruhe finden. Ich suche etwas, das nicht zu finden ist, und zähle still die Stunden, die ich rastlos und allein im Dunkel verbringe. Zu oft bin ich einsam. Die Nacht ist zu meinem besten Freund geworden.

»Um sieben gibt es Abendessen. Vergiss das nicht«, erinnert mich Neptune, als wir in unserem Stockwerk angekommen sind.

Ich öffne die Tür zu meinem Zimmer und nicke. »Bist du heute mit Kochen dran?«

»Wie immer.« Neptune verdreht die Augen.

»Dann verzichte ich.« Ich versuche, ein kleines Lächeln auf meine Lippen zu zwingen, doch es gelingt mir nicht wirklich. Ich habe schon vor einigen Wochen aufgehört, Neptune vormachen zu wollen, dass ich okay bin. Er akzeptiert es. Genauso, wie ich seine Angst vor dem Nichts-Sein als das hinnehme, was sie ist.

»Es gibt aber …«

»Nudeln? Wer hätte das gedacht«, vervollständige ich seinen Satz. Dann schließe ich die Tür hinter mir und lasse mich dagegen sinken.

Von draußen höre ich: »Kohlehydrate und Fett, was willst du mehr?« Dann fällt Neptunes Tür mit einem Klicken zu.

»Was tun wir hier?«, flüstere ich und mache für einen kurzen Moment die Augen zu.

Fast hätte ich es nicht geschafft. Aber nicht die Anstalt hätte mich gekriegt oder Preston. Ob er wohl noch immer denkt, ich sei tot?

Nein, beinahe wäre ich durch die Hand eines Freundes gestorben.

Mein Rücken schmerzt, als die Erinnerung an den Schlag mich erschaudern lässt. Kurz vor dem Ablegen von Noahs Schiff wollte ich noch einen Blick in das alte Haus meiner Familie werfen. Einen letzten Augenblick für mich, den ich der Vergangenheit schenken würde, bevor meine Zukunft beginnen würde. In Freiheit. Mit Cam.

Aber dann … Mir wird der Hals eng, ich presse die Lider aufeinander. Instinktiv fliegen meine Hände zu meiner Kehle, während die Bilder auf mich einstürzen.

»Was tust du da?«, frage ich, ringe um Luft.

Daniel steht hinter mir. Der Lauf seiner Pistole gleitet beinahe liebevoll von meinem Kiefer zu meiner Schläfe. Angst breitet sich in meiner Brust aus wie ein Fegefeuer. Er lacht kurz auf, es klingt bitter. Der Wahnsinn hat ihn nun ganz zu sich genommen, aus einem Schock ist eine Manie geworden.

»Crys!«, brüllt jemand, ich glaube, es ist Cam, doch ich bin mir nicht sicher. Dan hat meine volle Aufmerksamkeit. Sein Mund ist nahe an meinem Ohr, er flüstert Worte, die ich nicht verstehe. Als wolle er mich umarmen, gleitet sein linker Arm langsam um meinen Körper herum, seine Fingernägel graben sich in meinen Hals.

»Lass los!«, knurre ich und versuche, mich zu befreien. Aber anstatt mich loszulassen, drängt er mich nur näher zum Abgrund. Ein paar Zentimeter, und ich bin tot. Zerschlagen auf den Felsen, die vom Meer zu spitzen Messern geschliffen wurden.

»Das ist das Ende.« Ich kann an seiner Stimme hören, dass er lächelt. Wieso tut er das? »Sag Lebewohl zu deinem Leben. Ich werde deines zerstören, wie du meines zerstört hast.«

»Wieso?« Ich drehe meinen Kopf zu ihm.

Grob reißt er mein Gesicht wieder nach vorne. Er weiß, dass ich ihn so nicht beeinflussen kann.

Dan presst die Worte hervor: »Du hast Zare getötet. Du hast ihr nicht geholfen. Du und Cameron … ihr habt sie umgebracht.« Ich will ihm ins Wort fallen, doch er lässt mich nicht. »Und jetzt … jetzt werde ich dich umbringen.«

Er schiebt mich noch näher an den Abgrund, dann tritt er einen Schritt zurück. Der Pistolenlauf ruht nun in meinem Rücken. Ich schließe die Augen, mache mich bereit zu sterben.

Cameron ist zu weit weg. Ich bin Daniel ausgeliefert.

Ehe ich ein weiteres Mal einatmen kann, zerreißt ein Schuss die Luft.

Cam hat mich gerettet. Und Daniel ist tot. So tot, wie er mich am Ende unserer Flucht sehen wollte. Ich fröstle. Cam …

Cam ist immer unterwegs, hat offensichtlich eine größere Aufgabe, und wir … Was tun wir hier?

Diese Frage stelle ich mir in letzter Zeit zu oft. In den drei Monaten, die wir bereits in Edinburgh sind, haben wir rein gar nichts getan.

Wir wohnen, wir schlafen, wir essen, wir langweilen uns, wir erledigen unsere kleinen Aufgaben. Wir leben einfach, aber ohne irgendetwas wirklich zu tun. Wir sind nur, ohne etwas zu schaffen. Ohne etwas zu erreichen. Und was Cam betrifft …

Seit wir hier angekommen sind, hat er mich nicht mehr so angesehen wie auf der Flucht. Er hat mich kein einziges Mal geküsst. Wie konnte ich auch denken, dass diese durch Angst erzwungenen Gefühle anhalten würden? Wie konnte ich denken, dass er jemanden wie mich will? Ich bin nicht klug. Ich bin nicht schön. Ich bin nicht mal mutig, sondern nur leichtsinnig, und am Ende muss ich immer gerettet werden. Selbst wenn ich die sein will, die jemand anderen rettet. Auf ganzer Linie verkorkst, so bin ich.

Ich schäle mich aus dem Handtuch und gehe unter die Dusche, der Dampf beschlägt die Fliesen des kleinen Badezimmers. Das ganze Zimmer ist so leer wie meine Seele. Keine Heimeligkeit. Kein Wohlbefinden. Kein Besitz. Nichts, das mir Freude bereitet. Als hätte man mein Inneres nach außen gestülpt, spiegelt die nachlässige Sterilität die Trostlosigkeit meiner Gedanken wider. Die Bettdecke ist nie aufgebettet und liegt meist zurückgeschlagen auf dem Doppelbett. Die hellbeige Tapete löst sich in den Zimmerecken schon leicht, und das dunkle Holz ist ausgeblichen.

Doch leider ist das hier kein Hotel, in dem ich nur übernachte, weil ich gerade auf einer Weltreise bin und hier als Zwischenstopp vor meiner Nordpol-Expedition halte. Hier leben wir. Hier sind wir frei, und auch wieder nicht. Man – die Mitglieder des Requiems – hat uns angewiesen, hauptsächlich im Fountains zu bleiben und die Hausarbeiten zu erledigen.

Ich komme mir vor, als wäre ich von einem Gefängnis in das nächste gesteckt worden, doch ich darf mich nicht beklagen. Hier geht es mir gut, das Requiem sorgt für uns. Um ehrlich zu sein, weiß ich noch immer nicht, wer hinter dem Requiem eigentlich steckt. Die einzigen Erwachsenen, die sich hier regelmäßig sehen lassen, sind Carter und Dr. Willem Sanders, der uns nach unserer Ankunft untersucht hat. Hin und wieder kann ich nachts beobachten, wie fremde Frauen und Männer in Carters Büro ein- und ausgehen. Und manchmal höre ich dann Dinge, die ich wahrscheinlich nicht hören sollte.

Denn hinter einem Mauervorsprung verborgen lausche ich den Gesprächen, wenn Carters Besuch das Büro verlässt. »Du solltest deine Leute besser kontrollieren, Geoffrey.« Das Schnauben der gänzlich in schwarz gekleideten Frau ist mir noch lebhaft in Erinnerung. »Wenn sie sich nicht an deine Regeln halten, wie kann man dann sicher sein, dass sie Befehle korrekt ausführen?« Mit etwas mehr Schwung als nötig drückten ihre Finger den Knopf neben der Fahrstuhltür.

Carter war ihr mit ausdruckslosem Gesicht gefolgt. »Ich habe diese Beziehung bereits unterbunden. Mach dir keine Sorgen, Karen. Er tut, was man ihm aufträgt.«

»Aber tut das Mädchen das auch?«, hat Cams Tante gefragt. »Sie erinnert mich an Cynthia. Die beide haben es gemeinsam, auf das Wohl der anderen keine Rücksicht zu nehmen.«

Im dumpfen Licht der Deckenleuchte huschte einen Moment lang ein Schmerz über Carters Gesicht. Doch er schwieg, bis sie ohne Verabschiedung im Fahrstuhl verschwand.

Ich steige aus der Dusche, der Dampf strömt mit mir aus der Kabine in den Raum. Ich trockne mich ab, das Handtuch kratzt auf meiner Haut. Schnell schlüpfe ich in meine Unterwäsche, dann fahre ich mit einer Hand über den beschlagenen Spiegel. Ich schlucke.

Die Ringe unter meinen Augen sind dunkel wie reife Pflaumen. Ein wenig habe ich zugenommen, was gut ist. Jetzt sehe ich wenigstens nicht mehr wie eine Verhungernde aus, meine Rippen zeichnen sich nur noch leicht unter meiner Haut ab, wenn ich mich bewege.

Schnell wende ich meinen Blick ab und tappe aus dem Bad zum Kleiderschrank. Er ist voll, ich besitze mehr Kleidungsstücke als je zuvor. Das Requiem versorgt uns damit, wie auch mit Essen, anscheinend hat es genug Ressourcen, um uns zu unterstützen, obwohl wir nichts beitragen. Carter hat erwähnt, dass viele namhafte Politiker Mitglieder des Requiems sind und hohe Summen an Kapital zuschießen, ohne das gewisse Aktionen unbezahlbar wären.

Die meisten meiner Sachen hat Neptune ausgesucht, ich habe nur anprobiert und auf seinen Geschmack vertraut. Verwundert über meine mangelnde Freude, die ein Mädchen beim Einkaufen seiner Meinung nach an den Tag legen sollte, hat er es ausgenutzt, um mir Kleidung aufzudrängen, die mir wahnsinnig gut stehen würde. Seiner Meinung nach.

Zwischen all den Kleidern krame ich nach meinen Lieblingsjeans, hellblau verwaschen, und nach einem grauen, weiten T-Shirt. Hätte ich bei unserem Shoppingtrip etwas zu sagen gehabt, bestünde meine Garderobe bloß aus diesen Shirts.

Meine Haare kringeln sich wegen der Feuchte, und ich verziehe das Gesicht, als der Versuch, sie durchzubürsten, Stiche durch meine Kopfhaut jagt.

Dann liege ich auf dem Bett. Weil ich nichts anderes zu tun habe, außer auf den Geruch von Nudeln zu warten, der sich nach fast einer Stunde endlich unter der Tür hereinschlängelt.

Spaghetti in Butter geschwenkt. Was anderes bringt Neptune nicht zustande. Manchmal, wenn er gut gelaunt ist, klatscht er noch Ketchup oben drauf. Oder irgendeine andere Fertigsauce, die Dave im Supermarkt besorgt hat.

Mit einem langen Seufzen kämpfe ich mich in eine sitzende Position. Der Stoff der weißen Bettdecke kratzt an meinen Fingern, während ich mich in die Höhe drücke. Könnte ich doch einfach nur liegenbleiben. Schlafen. Aber ich muss essen. Damit wenigstens irgendetwas Spannendes heute passiert und man mich nicht in fünf Jahren mumifiziert zwischen den Laken findet. Obwohl es gar kein schlechter Gedanke ist, sich für immer im Bett zu verkriechen.

Gerade legen sich meine Finger auf die Türklinke, da verschwimmt mir die Sicht.

»Jeder hat eine Lieblingsband. Man kann nicht keine Lieblingsband haben. Also?«, fragt Neptune.

Ich gehe neben ihm her und zucke mit den Schultern. Ich war zwei Jahre von der Außenwelt abgeschnitten. Was erwartet er? Leider kann ich mich auch nicht mehr daran erinnern, was ich vor dem Krieg mochte. Vielleicht die Lieder, die meine Mutter beim Arbeiten manchmal gesummt hat? Mir wird warm und ich muss lächeln, bis mir klar wird, dass ich mich nicht mehr an die Melodien erinnern kann.

Mein Blick schweift zu einem kleinen Café, das wir passieren. Ein paar Leute sitzen in der warmen Sonne, sie werden von einem Kellner mit dunkelblonden Haaren bedient. Ich sehe ihm zu, wie er sicher das Tablett balanciert, den Rücken immer noch zu mir gedreht.

Und dann dreht er sich um.

Erst nach ein paarmal Blinzeln bin ich wieder zurück. Es dauert einen Moment, bis der Schwindel aus meinem Körper weicht.

Ich habe schon gedacht, ich hätte es verlernt, in die Zukunft zu sehen.

Gehofft, eher. Doch als sich mein Atem beruhigt, sehe ich die Bilder noch immer. Sogar die wärmenden Sonnenstrahlen kann ich noch im Gesicht spüren.

Doch die Sache ist – ich will keine Visionen mehr haben. Immerhin haben sie sich jedes Mal bewahrheitet.

Preston hatte uns – wie ich es vorhergesehen habe. Aber einiges konnte ich nicht vorhersehen.

Dass Cam eine Vision erzeugt. Von mir. Und von sich selbst. Hat es tatsächlich geschafft, zwei Visionen gleichzeitig zu erzeugen. Er hat die Kuppel aus Unsichtbarkeit aufrechterhalten und ein Bildnis von mir und eines von ihm erschaffen, die zusammen gegen Preston standen und er hat mich aufgehalten. Mich zurück unter den schützenden Schirm aus Gedanken geholt, ehe ich mich selbst opfern konnte. Und er hat uns alle gerettet.

»Denkst wohl, du bist was Besseres, was?«, spuckt Preston aus.

Die Crys aus Camerons Vorstellungsvermögen zuckt nicht mit der Wimper, geht nur auf ihn zu. Sie weiß, dass Stille Preston beunruhigt. Er hat es schon früher gehasst, wenn ihm nicht geantwortet wurde.

Mein zweites Ich geht immer weiter, schließt die Distanz zwischen Preston und ihr rasch.

»Bleib weg, du verdammtes Miststück!«, brüllt er und lädt mit einem einzigen, flinken Handgriff seine Pistole nach. Jetzt. Jetzt wird er richtig wütend.

Crys lächelt nur schwach, immer noch ihren Kopf hoch erhoben, als wären alle anderen weniger wert als sie.

Und dann erreicht sie Preston. Die anderen Soldaten blicken sich gegenseitig an, geben jedoch ihre resolute Haltung nicht auf. Auch sie haben die Pistolen angelegt und alle auf dasselbe Ziel gerichtet: mein Abbild aus Camerons Gedanken.

Prestons und ihr Atem berühren sich fast, als er in weißem Dampf aus ihren Nasen steigt. Ihre Stimme ist leise, kaum mehr als ein Flüstern, doch der Wind hat sich inzwischen gelegt, und wir hören jedes einzelne Wort.

»Denkst du …«, fängt sie an, sie wiegt den Satz genüsslich auf ihrer Zunge ab, »denkst du, das hat dein Vater auch zu deiner Mutter gesagt? Kurz bevor sie gegangen ist, um sich das Leben zu nehmen?«

Dann formt sich ein herausforderndes Lächeln auf ihren Lippen. Könnte ich wirklich jemals so sein? So bösartig? So schadenfroh? Ich weiß es nicht. Das Böse ist auch nur ein Teil unserer Seele. Auch, wenn diese Crys nicht echt ist.

Prestons Augen weiten sich kurz. Dann holt er aus und schlägt mein zweites Ich mitten ins Gesicht. Ich höre, wie seine Hand auf ihre Wange klatscht. Die unechte Crys taumelt zurück, fällt auf die Knie und stützt sich mit den Händen im Schnee ab. Sie atmet laut ein und aus, fast so, als wäre sie überrascht. Blut tropft aus ihrem Mund. Und ich weiß, dass ihr die folgenden Worte das Leben kosten werden.

»Das war alles?«, fragt sie und hebt den Kopf. Sie starrt Preston einige Sekunden ins Gesicht, ehe er mit seiner Waffe erneut ausholt und sie endgültig zu Boden schlägt. Ihr Oberkörper hebt sich bebend, doch sie sieht ihn an.

»Letzte Worte?«, bellt er, sein Auge bereits zugekniffen, die Hand am Abzug.

Mein zweites Ich schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken, ein japsendes Geräusch dringt durch ihre Lippen. Es ist totenstill, bis auf dieses Geräusch, das sich langsam zu einem Lachen formt. Crys lacht aus ganzem Herzen, lacht über Preston und seine Männer, über alles, was sie durchgemacht hat. Von ihren Augen lösen sich kleine Tränen, doch sie lacht immer weiter. Sie macht sich lustig, weil sie nichts mehr zu verlieren hat.

Die Soldaten starren sie an, als wäre sie verrückt – und vermutlich ist sie es auch. Ich bin gebannt von ihrem Lachen, das mich irgendwie mitzieht. Als würde der Wahnsinn nach mir greifen.

Ein Schuss durchreißt die Luft, und ich stöhne überrascht auf, meine Hand fliegt zu meinem Mund.

»Wer lacht jetzt?«, fragt Preston, seine Miene frei von jedem Hohn und Spott.

Jetzt liegt sie im Schnee, blutend. Wie der falsche Cameron, mit einem Loch im Herzen. Tot.

»Gehen wir!«, brüllt Preston.

Und dann gehen sie.

Es ist vorbei.

Vorbei. Dabei wird es nie vorbei sein. Nicht nach dem, was uns passiert ist. Die grausigen Bilder schleichen sich immer wieder in unsere Gedanken. Machen sich selbständig in unseren Albträumen. Eigentlich … nicht nur dann.

Vor mir erstreckt sich der Speisesaal des Hotels, die Wand zur Küche wurde durchbrochen, sodass sich die Essensgerüche durch den ganzen Saal ziehen.

Neptune steht noch am Herd, leert gerade den Großteil der Ketchup-Flasche in eine Pfanne und rührt die Soße mehr oder weniger fachmännisch zusammen. Eindeutig ein guter Tag für ihn, wie’s aussieht.

»Doch hungrig?« Er grinst über seine Schulter hinweg, aber irgendwie ist sein Grinsen merkwürdig, und kostet dann von der Soße, verbrennt sich aber die Zunge und beginnt zu jammern. Ich lächle verhalten und schüttle den Kopf. Tyler und Lynn sind bereits da, und ich beschließe, mich zu Lynn zu gesellen.

Er ist zurück, ertönt Neptunes Gedanke in meinem Kopf, und ich werfe ihm einen raschen Blick zu, den er mir mit einem Schulterzucken beantwortet. Vor einer Minute zur Tür herein.

In dem Moment schlägt die Kühlschranktür zu, und meine Augen huschen zu der Person dahinter. Ich friere in meiner Bewegung ein, die Hand immer noch auf einer Stuhllehne.

»Hallo, Crys.« Camerons Stimme ist dunkel, seine Haare sind kürzer als beim letzten Mal. Er ist es. Er ist wieder hier.

»Hallo.« Ich schlucke und schlage meine Augen nieder. Ich will ihn nicht ansehen. Mein Kiefer verkrampft sich, ich nehme Platz und starre anschließend meinen Teller nieder.

Cam setzt sich zwei Plätze von mir entfernt, als hätte er Angst, sich mir zu nähern. Er öffnet eine Getränkedose und fängt ein Gespräch mit Tyler an, um die plötzlich eingetretene Stille zu brechen.

»Ich höre, du trainierst?«, sagt er, seine Stimme kratzt ein wenig, als wäre er heiser.

Tyler nickt, erwidert aber nichts darauf, sichtlich nicht an einem Gespräch interessiert.

»Wenn du willst, könnte ich Nick fragen, ob er dich coacht. Wir können gute Kämpfer gebrauchen.«

Das macht er immer. Cameron geht und kommt, wann er will. Ist plötzlich wieder hier und dann nicht mehr und erwartet trotzdem, dass man so tut, als wäre er nie weg gewesen. Nicht mit mir.

Weil Tyler immer noch schweigt, werfe ich ihm einen kurzen Seitenblick zu. Gedankenabwesend spielt er mit einer Gabel, seine Knöchel sind aufgeschürft.

»Na dann«, wirft Neptune ein, um die peinliche Stille zu beenden. »Bereit für die besten Spaghetti, die ihr jemals gegessen habt?« Küchenhandschuhe an beiden Händen, nimmt er die Pfanne und stellt sie in die Mitte des Tisches.

»Das hast du letzte Woche auch schon gesagt. Und die Woche davor, wenn ich mich recht erinnere.«

Der Stuhl neben mir wird nach hinten gezogen, Ace lässt sich darauf nieder. Zwischen Cam und mir. Dort, wo er wahrscheinlich gerade am wenigsten sein will. Wie immer ist er in ein helles Hemd und eine passend geschnittene Jeans gekleidet, wohl ein Überbleibsel an Eleganz und Reichtum aus seinem früheren Leben. Cameron hingegen trägt ein schwarzes T-Shirt und eine dunkle Hose. Ace sieht beinahe so schrecklich aus wie ich, und insgeheim mache ich mir Sorgen um ihn. Auf seiner Stirn liegt ein dünner Schweißfilm und er wirkt erschreckend blass.

Neptune will gerade ansetzen, um zu protestieren, doch da poltert Dave die Stufen herunter.

»Hey, wen haben wir denn da? Der böse Junge ist zurück!« Er geht unumwunden mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf Cam zu und klopft ihm auf die Schulter. Als ich sie beobachte, streift Cams Blick meinen, und schnell starre ich auf das Tischtuch.

»Ich bin nicht so leicht totzukriegen«, sagt Cam, die Mundwinkel hochgezogen.

»Klar, Mann. Sind wir alle nicht!« Dave richtet sich auf, streckt dann die Nase in die Luft wie ein Suchhund. »Mann, schon wieder Nudeln und Ketchup?«, fragt er, seine Stimme ist zu laut für meine Ohren. Er beäugt die Pfanne.

Neptune sieht ihn mit hochgezogener Augenbraue an. »Beschwerst du dich etwa, obwohl du nie zum Küchendienst eingeteilt bist? Wenn ja, wirst du heute wohl ohne Nachtisch ins Bett gehen müssen, Sahneschnittchen.«

Dave, der auf Neptunes Anmachen immer mit einem Lachen reagiert, wackelt mit den Augenbrauen. »Es gibt Nachtisch?«

Neptune stützt eine Hand in seine Seite. »Ja. Mich.«

Kurz ist es still, doch dann lacht Lynn leise los, und auch ich kann nicht anders, als zu schmunzeln.

Dave, etwas irritiert von der Antwort, schüttelt den Kopf. »Du bist so ein Freak, Mann.«

Neptune zuckt mit den Schultern. »Ach was.«

Tyler schaufelt sich als Erster den Teller mit Nudeln voll.

»Wie viel möchtest du?«, fragt mich Ace betont höflich, als er sich eine Portion nimmt.

»Bloß wenig. Ich bin nicht hungrig, danke«, erwidere ich im gleichen Tonfall und sehe zu, wie er mir die Spaghetti auf den Teller legt. Nie hätte ich gedacht, dass es jemals so kalt zwischen uns sein könnte. Wir wissen nicht, wie wir miteinander umgehen sollen.

Wir essen still vor uns hin, Neptune wirft uns abwechselnd Blicke zu, als würde er die Stille nicht ertragen. »Wo ist Mr Zu-schnell-für-seine-Schuhe?«, fragt er schließlich.

Lynn atmet tief ein, wischt sich kurz mit der Serviette über den Mund und faltet dann die Hände in ihrem Schoß zusammen. Sie trägt ein dunkelgrünes Top, das ihre zarten Züge unterstreicht. Die Haut, wo einst ihr Tattoo prangte, ist nun glatt und makellos, ohne ein Zeichen des früheren Leids. »Er packt gerade.«

Cameron lässt den Löffel sinken und starrt sie über den Tisch hinweg an. »Shinji tut was?«, fragt er, seine Augen aufgerissen. Braun. Ohne Sonne und ohne Mond. Nur dunkel, wie eine sternenlose Nacht. Vielleicht tauchen die Planeten nur auf, wenn er mich ansieht. Sofort verwerfe ich diesen Gedanken wieder. Ich bin keinen Sternenhimmel wert.

Lynn atmet ein, als hätte sie sich lange auf diese Konversation vorbereitet. »Es ist schon mit Carter besprochen. Shinji und ich … morgen früh. Wir haben die Erlaubnis, nach Hause zu gehen.«

Cameron beugt sich über den Tisch, seine Muskeln sind angespannt. »Nach Hause … nach England?«

»Nein. Nach Hause wie zu Hause in China.«

Meine Augen weiten sich geschockt. Ich blicke zwischen ihr und Cam hin und her. Jetzt ist sogar das Klackern von Besteck verstummt. Neptunes und mein Blick kreuzen sich.

Hast du davon gewusst?, fragt er mich in Gedanken. Ich schüttle leicht den Kopf.

»Das werdet ihr nicht überleben. Zwischen hier und China gibt es gerade mal zwei Länder, die neutral sind und in denen kein Krieg herrscht.« Cam ist außer sich.

Lynn verzieht den Mund. »Wir sind uns dessen bewusst, doch wir werden es trotzdem versuchen. Wir sind dankbar für alles, Cameron, aber du musst es verstehen. Das hier ist nicht unser Zuhause.«

Cams Kiefer verkrampft sich, eine Hand krallt sich in das Tischtuch. »Das ist idiotisch.«

»Kriege sind auch idiotisch.« Mit diesem Satz erhebt sich Lynn und geht aus der Tür, lässt ihren halbvollen Teller zurück. Ich seufze leise, eine leichte Wehmut steigt in mir hoch. Auch wenn ich die meiste Zeit mit Neptune verbringe, ist mir Lynn doch sehr ans Herz gewachsen. Ich kann nicht glauben, dass Carter ihnen erlaubt hat zu gehen. Dennoch: Sie hat recht. Wenn ich könnte, würde ich auch gehen. Aber das englische Militär hat laut Carters Informanten in der Stadt bereits großräumige Suchaktionen gestartet – nicht nur im Wald, sondern auch im ganzen Norden Englands.

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