Kitabı oku: «Colours of Life 3: Nebelschwarz»
Colours of Life 3
Nebelschwarz
Anna Lane
© 2021 Calad
Ein Imprint des Amrûn Verlag Traunstein
2/2021
Covergestaltung: Christian Günther | Atelier tag-eins
Lektorat: Nadine Stritzke, Anna Lane
Endlektorat/Korrektorat: Tatjana Weichel | Wortfinesse
ISBN TB 978-3-95869-163-6
Alle Rechte vorbehalten
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
v1/21
Für meine Leser. Wow, ihr seid noch da!
Prolog
»For he would be thinking of love
Till the stars had run away
And the shadows eaten the moon.«
W.B. Yeats, The young man´s song
Es heißt, Schatten kann man nicht lieben.
Doch wenn sie uns ihre Hand reichen und mit in ihren Tanz ziehen, dessen Takt nur von der Flüchtigkeit ihrer Berührung bestimmt wird, verlieren wir uns. In schönen Illusionen, in wunderbaren Träumen, in der Hässlichkeit unserer eigenen Gedanken.
Wir spüren nicht einmal, wenn wir uns plötzlich allein — losgelassen — um uns drehen, immer näher zum Abgrund, bis wir fallen. In ein Selbst, das uns ein Spiegelbild vorhält, welches nichts zurückwirft. Als wären wir niemals mehr gewesen als ein Nichts, als wären wir niemals mehr als unser fürchterlichster Albtraum. Der Schwärzeste von allen.
1. Kapitel
They are sadder than all tears;
Their lives ascend as a continual sigh.
Proudly answer to their tears:
As they deny, deny.
Be Not Sad – James Joyce
Crys
Es ist einfach, Brücken niederzubrennen.
Es ist nichts dabei, Menschen zu verlassen. Zu verraten. Der Weg aus ihren Leben ist kurz. Der Pfad hinein? Schwer zu finden.
Aber ich verschwinde nicht einfach. Schleiche mich nicht davon, wenn das Feuer zu lodern beginnt. Nein. Ich sehe zu, wie alles um mich herum von der Hitze verschlungen wird, bis nichts mehr übrig ist. Ich bin gut darin, Dinge hinter mir zu lassen, weil ich darin gut sein muss. Das erkenne ich auch daran, dass die Dinge mich hinter sich lassen. Dass sie mir nicht schreiend nachlaufen, sondern mich nur in mir verfolgen. Wie Schatten, die man nicht immer sehen kann, aber doch nur eine Nacht entfernt lauern.
Aber noch ist es Tag, auch wenn der verhangene Himmel draußen vor dem Fenster dem Raum jedes Quäntchen Licht raubt. Es ist anstrengend, in dieser angehenden Finsternis zu lesen, und ich klappe Krieg und Frieden in meinem Schoß zu. Auch wenn das Feuer im Kamin neben mir längst erloschen ist, bietet mir wenigstens meine Hand in seiner ein wenig Wärme.
Seine Haut ist rau. Vom Kämpfen, vom Überleben. Obwohl Letzteres gerade so funktioniert. Weil er nicht aufgeben will, obwohl der Tod schon angefangen hat, Erde auszuheben. Er und ich sind uns ähnlich, in gewisser Weise. Das Leben und der Tod wollen uns zu gleichen Teilen.
Das Bett quietscht, als ich kurz vom gepolsterten Stuhl aufstehe und mich auf die Matratze stütze, um ihm die Decke ein wenig weiter über seine Brust nach oben zu ziehen. Die Kälte des großen Zimmers schafft es sogar, unter die Ärmel meines weißen Wollpullovers zu kriechen und mir die Gänsehaut bis zu meinen Schultern hinauf zu treiben.
Ich streiche mit den Fingern über seine. Er und Cam sehen sich nicht ähnlich. Seine Haare sind heller, beinahe blond. Irgendwie warte ich darauf, dass er blinzelt und endlich meine Vermutung bestätigt, dass seine Pupillen in einem glasklaren Blau schwimmen. Aber er hat die Augen den ganzen letzten Monat nicht geöffnet. Wahrscheinlich wird er sie auch nie wieder öffnen. Das sagen zumindest die Ärzte.
»Ich bin mir sicher, Riley freut sich, dass du ihm vorliest.« Cynthias weiche Stimme dringt an meine Ohren, ehe sie in mein Blickfeld tritt. Die Geräusche des Beatmungsgerätes haben die der Tür in meinem Rücken übertönt. Keine Ahnung, ob mich Cams Bruder durch seinen Schlaf hindurch hören kann. Ob er mein Flüstern wahrnimmt, wenn ich ihm von Cam erzähle.
Die grauen Strähnen in Cynthias sonst mahagonifarbenem Haar glänzen sanft im fast verschwundenen Licht. Sie tritt an das Bett heran und streicht über das Gesicht ihres Sohnes.
Ich atme tief ein. Denk nicht an früher, flüstert etwas in mir. Der Wunsch nach einer Umarmung, einem gehauchten Alles-wird-Gut wird von Tag zu Tag mehr zu einer Sehnsucht, die Stiche durch mein Herz jagt. Ich muss den Blick abwenden, um irgendwie den Schmerz weg zu atmen, bevor er zu übermächtig wird.
Violet.
Meine Eltern.
Dann hatte ich Ace und Neptune, und für einen kurzen Augenblick auch Cameron. Zuerst ganz, dann nicht mehr. Jetzt bin ich allein. Nur Riley ist da, aber eigentlich auch nicht wirklich.
»Du vermisst Cameron sehr.« Keine Frage, sondern eine Feststellung.
Ich nicke nur. Cynthia sieht mich weiter an, doch ich starre auf den gewellten Rücken des Buches in meiner Hand.
»Irgendwann ist das hier vorbei und dann hast du dein ganzes Leben vor dir. Vielleicht sogar mit ihm«, versichert mir Cynthia, und diesmal trifft mein Blick den ihren.
Sie weiß, wozu ich fähig bin. Wieso Michail auf mich geboten hat. Will sie überhaupt, dass Cam und ich uns wiedersehen?
»Irgendwann«, stimme ich zu, obwohl dieses Irgendwann sich unerreichbar anfühlt.
Camerons Mutter blickt mir für einen Moment stumm in die Augen. Ich kann nur ahnen, was sie vor sich sieht. Ein Mädchen? Ein Monster? Die einzige Verbindung zu einem ihrer zwei verlorenen Söhne, die sie jahrelang nur aus der Ferne beobachten konnte, um sie nicht in noch größere Gefahr zu bringen?
Ich bleibe still und spiele wieder mit einem losen Faden am Bund meiner dunkelgrauen Wollhose.
»Michail möchte mit dir reden. Brauchst du noch einen Moment?«
Ich schüttle den Kopf. Mein Blick fliegt noch einmal zu Riley, der regungslos im Bett liegt und schon seit vier Monaten einen Kampf austrägt, von dem keiner weiß, wie er enden wird.
»Wir können gehen.«
Neptune
Nun, wenn es einen Star geben würde, der mir auch nur annähernd in Sachen Attraktivität das Wasser reichen könnte – was offensichtlich nicht der Fall ist – würde ich ihn daten. Obwohl, wie sagt man? Es kann nur einen geben!
»Okay, erklär’s mir nochmal.« Ich streiche mir über das Kinn.
Das Publikum wütet, johlt und grölt, als der Typ mit den blauen Haaren – ich, in der Vergangenheit anscheinend – sich zum wiederholten Male selbst beweihräuchert. Genau wie sich zum wiederholten Male meine Augenbraue irritiert kräuselt. Weil ich mich verdammt nochmal nicht an dieses Interview erinnern kann.
Helena reibt sich mit einem Seufzen über die Augen, ehe sie mit der Fernbedienung das Video anhält. »Das warst du.«
»Ich war ziemlich selbstverliebt.«
»War?«
»Ich erkenne mich nicht wieder.« Nicht in diesem und in keinem der anderen zwanzig Videos, die wir uns angesehen haben.
»Du bist nicht mehr der Kinderstar von damals«, sie fuchtelt in Richtung Fernseher und legt dann die Hand auf meinem Arm, »und genauso wenig bist du dieser Typ da.«
Wenn ich mir den schrecklichen, aber doch sehr kunstvoll um meinen Hals geknoteten Paisley-Schal ansehe, an den das Mikrofon geklippt ist, ist das vielleicht gar nicht so schlecht.
Helena ist traurig, das kann ich sehen. Oder vielmehr zermürbt, genau wie ich auch. Sie tröstet mich, berührt mich, gibt mir mit ihrer Anwesenheit Nähe, aber sie kann eines nicht zurückbringen – mich.
Wütend macht sie das auch. In ihren Augen schimmern Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann. Anscheinend waren wir so etwas wie Freunde.
Offensichtlich kann ich aber nichts dafür, dass ich mich an die letzten drei Jahre meines Lebens nur spärlich – oder besser gesagt, gar nicht – erinnern kann. Ist ja nicht so, als würde es mir Spaß machen, hin und wieder eine gegen den Latz geknallt zu kriegen.
Plötzlich durchfährt mich ein Zittern. Scheiße. Was ist, wenn ich mich nie wieder erinnern kann?
Der Gedächtnisverlust reicht aber nicht. Da wäre auch noch die Winzigkeit, dass ich in die Gehirne anderer Menschen dringen kann!
»Halt die Klappe!«
Ich beiße die Zähne aufeinander. »Sorry.«
»Du kannst Leute deine Gedanken mithören zu lassen. Glaub mir, das ist nicht nur für dich belastend«, fügt sie murmelnd hinzu, ehe sie sich erhebt. »Streng dich doch mal an!«
»Ich versuch’s.«
»So fest kannst du dir den Kopf ja gar nicht gestoßen haben«, murmelt sie und verdreht die Augen. »Es ist jetzt schon einen Monat her.«
Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Meine Traurigkeit nimmt mein schlechtes Gewissen an die Hand, und wenn sie so ihrem aufflackernden Zorn gegenüberstehen, werden die beiden – ich nenne sie insgeheim Flint und George – zu einem riesigen, fetten Klumpen Wut. »Ich wollte Chris retten, verdammt.«
»Crys. Sie heißt Crys, und wir glauben, dass du sie retten wolltest. Immerhin kannst du uns ja nicht sagen, was wirklich passiert ist.«
Touché.
Ihre Augen funkeln, als würde sie mich am liebsten schlagen. Auf den Kopf. Wär gar nicht mal so schlecht, vielleicht macht das ja den Gedächtnisverlust rückgängig. Oder den schrecklichen Zufall, dass ich hier gelandet bin. Oder mein ganzes Leben. Naja, am besten nur den unangenehmen Teil.
Ich wende mich von Helena ab, starre wieder auf den Fernseher. Nehme die Fernbedienung, schalte ihn ein, aber ohne Ton. Meine Lippen bewegen sich noch immer. Lächeln so überheblich, wie der Triumph aus meinen Augen trieft. Und ich kann sehen, dass ich andere beeindruckt habe.
Der Moderator wirft lachend den Kopf in den Nacken, bevor sie die Kamera von meinem zufriedenen Grinsen auf die Zuschauer schwenken, die mich anhimmeln. Wie einen Eisbecher mit extra Streusel oben drauf.
Helena bewegt sich nicht, ich bewege mich nicht, wir sitzen nebeneinander und ich stelle mir vor, dass die Vulkane in unseren Inneren, die zum gleichen Feuerring gehören, langsam wieder zu Stein werden und die Flammen in sich begraben.
»Ich weiß nur mehr, dass ich Gitarre gespielt habe.« Meine Stimme ist ruhig, als ich nach ein paar Minuten schaffe, nicht gleich wieder loszubrüllen. »Oft. Lange. Da war auch eine Bühne. Riesig, unter freiem Himmel. Aber ich habe keine Ahnung, ob jemand da war.« Mein Ton ist zu einem Flüstern herabgefallen.
Gleich am Anfang meiner Karriere – die letzten paar Wochen, an die ich mich noch erinnern kann – hat Rich mir gesagt, ich solle nie mehr flüstern, um die Stimme zu schonen. Aber in letzter Zeit bleiben mir oft die Worte weg. Oder zumindest finde ich nicht die Kraft, sie laut auszusprechen. Und das macht mir Angst. Denn ich verbringe bereits Wochen damit, mir Tag für Tag Videos über mich anzusehen. Live-CDs mit dem verstaubten Gerät anzuhören, das einmal Helenas Mutter gehört hat. Aber ich finde mich nicht. In keiner Sekunde Filmmaterial. In keinem Ton, nicht mal in meinen eigenen Texten.
Ich blinzle ein paarmal. Irgendjemand hat mal zu mir gesagt, dass ich nicht weiß, was ich mit mir anfangen soll. Doch wenn das damals schon der Fall war, wie soll ich dann jetzt klarkommen?
»Die Frage lautet eher – wer war nicht da?« Helena schüttelt den Kopf, und der saure Ausdruck in ihrem Blick verschwindet. »Alle, die keine Karte bei deinen vier ausverkauften Konzerten im Wembley Stadion gekriegt haben, haben sich ganze zwei Stunden nicht vom Fernseher wegbewegt, um dich sehen zu können.« Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: »Für weniger als siebzig Pfund pro Person.«
Bevor ich mich noch darüber wundern kann, dass jemand tatsächlich so viel in Kriegszeiten hingeblättert hat, um meine Visage live schwitzend zu sehen, lässt uns beide ein Krachen in die Höhe fahren.
Die Tür schlägt zu, und nach einer winzigen Sekunde, in der uns Helena und ich erschrocken ansehen, lockt uns heftiges Atmen in den Flur. Ich schlinge die Arme um mich und kralle die Finger in die Ärmel meines roten Sweatshirts, während ich Helena folge.
»Scheiße, Cam!«, zischt sie. Beinahe krache ich in sie hinein, weil sie mitten in der Tür stehen bleibt. »Wieso musst du immer den verdammten Küchentisch vollsauen!«
Oh, das schon wieder. In den letzten Wochen zieht Cam ständig solche Nummern ab. Er blutet in das Waschbecken im Bad oder hinterlässt rote Flecken auf der Türmatte. Graf Dracula hätte seine Freude.
Die Kapuze seines schwarzen Pullovers bis über den Kopf gezogen, stützt Cam sich auf den alten Tisch.
Kopfschüttelnd nehme ich den Erste-Hilfe-Kasten entgegen, den Helena aus dem Badezimmerschrank geholt hat, und setze mich zu ihm an dem Tisch. »Du kannst echt froh sein, dass ich das nicht vergessen habe.« Ich ziehe seinen Arm sanft zu mir heran und sehe mir das Massaker aus der Nähe an. Irgendetwas rührt sich in mir. Splitter … Ich runzle die Stirn und luge Möchtegern-Obdachloser an.
Cameron reagiert nicht. Sein flacher Atem macht mich irgendwie ganz hibbelig, und ich fuchtle mit der Hand zu einem der wackeligen Stühle. »Kannst du dich bitte setzen? Wenn du umkippst, muss ich dich Mund zu Mund beatmen.« Ich kann mir einen kurzen Seitenblick auf seine zerzausten, irgendwie zu langen Haare nicht verkneifen. »Bei dem Urwald, den du in deinem Gesicht züchtest, würde ich wahrscheinlich nicht mal deine sinnlichen Lippen finden.«
Er setzt sich, ohne weiter zu reagieren.
Nach einem tiefen Ein- und Ausatmen fange ich an, ihn zusammenzuflicken. So läuft das immer. Ich repariere Cameron. Helena hält sich schweigend im Hintergrund. Irgendwie schafft sie es immer, ihre Schimpftirade so lange für sich zu behalten, bis ich den Verband angelangt habe. Dann platzt es aus ihr heraus, und nichts kann sie mehr aufhalten.
Deswegen stähle ich mich innerlich schon gegen ihre hohe Stimme, die Cam ziemlich gemeine Dinge an den Kopf wirft, während ich die Mullbinde mit ein wenig medizinischem Klebeband befestige, damit sie nicht verrutscht. Glücklicherweise wurde das Blutbad doch nur von einem kleinen Schnitt verursacht, der dafür auf theatralischer Ebene alles gegeben hat.
Cams und mein Blick treffen sich. Das Schwarz seiner Pupillen glänzt matt. Wie wenig muss man schlafen, um solche Augenringe zu kriegen?
Er bricht die Verbindung ab und sieht dann Helena an, die mit verschränkten Armen an der Küchenzeile lehnt.
Aber sie bleibt still.
Schnell verstaue ich die Schere und den Rest des Verbandes in der kleinen Box. Anschließend wandert mein Blick in dieselbe Richtung wie Cams.
Mein Herz setzt kurz aus.
Anstatt Cameron nieder zu starren, liegen ihre graue Augen auf mir. Doch das ist es nicht, was mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Stumme Tränen laufen über ihr blasses Gesicht.
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch er bleibt mir offen stehen. Keine Ahnung, ob ich Helena schon jemals weinen gesehen habe. Aber irgendwie kann ich es mir nicht vorstellen. Das Mädchen mit der bösen Zunge versteckt ihre Traurigkeit hinter ihrer gefährlich großen Klappe. Und wenn ich mir den Zug um ihren Mundwinkel ansehe, dass wohl schon seit einer ganzen Weile.
Ich schließe die Augen. Nicht nur ich habe alles verloren. Auch für Helena ist nichts mehr, wie es vorher war. Während ich mir stundenlang selbst im Fernsehen zusehe, wie ich wie eine Mannhure mit einer Unzahl von Bands schäkere, habe ich noch kein einziges Mal gefragt, wie es ihr geht.
»Du kannst nicht bleiben. Nicht mehr.« Helenas Worte sind kaum hörbar.
Was? Ich soll aus der Wohnung verschwinden? In den letzten Wochen war das mein Schutzwall vor der Außenwelt. Wie eine Hauskatze habe ich mich vor all den Menschen versteckt, die nun von mir wissen. Ich bin in Tageszeitungen. Seitenlange Artikel in Klatschmagazinen spekulieren, wohin ich verschwunden bin. Ob der Straßenmusiker überhaupt ich war oder nur ein schlechter Gag vom Management, um die Verkäufe wieder anzukurbeln.
Meine Augenbrauen schießen in die Höhe und ich will protestieren, flehen, wenn nötig auch auf Knien herumrutschen, damit sie mich weiter hierbleiben lässt.
Wo sollte ich in dieser Welt auch hin, wenn mir eine Zielscheibe mitten auf der Stirn klebt?
Doch sie dreht den Kopf zu Cam. Mit flinken Fingern wischt sie sich die Tränen von den rosigen Wangen und stemmt dann mit neuer Energie die Hände in die Hüften. »Mit jedem Mal, dass du blutend zur Tür hereinstolperst, wird die Chance größer, dass das Apartment entdeckt wird. Du jagst einem Geist nach, Cam. Und merkst dabei gar nicht, dass du selbst immer mehr dabei verschwindest!« Sie zieht eine trotzige Schnute, obwohl ihre Körpersprache genau das Gegenteil von Trotz ist. »Du treibst dich tagelang in der Stadt und Gott weiß wo noch herum, um dich mit irgendwelchen Typen anzulegen, die dich entweder verprügeln oder irgendwie anders verrecken sehen wollen.« Sie verzieht die Lippen. »Ich muss mich um Sebastian kümmern. Was denkst du, ist los, wenn sie ihn entdecken? Hier? Ich habe dir die letzten Male schon gesagt, dass es so nicht weitergehen kann. Ich will dir helfen, wirklich, aber du lässt mich nicht. Mein Rat: Vergiss sie. Auch wenn es wehtut.«
Während ihres Vortrags hat Cam den Kopf gesenkt, die Hände lose in seinen Schoß gelegt und dennoch zu Fäusten geballt, lauscht er ihren Worten.
Fast frage ich mich, ob er eingeschlafen ist, doch dann knallt seine unverletzte Hand so hart auf die Tischplatte, dass ich zusammenzucke. Bevor ich überhaupt blinzeln kann, ist er auf den Beinen und steht dicht vor Helena.
»Beruhige dich, Mann!« Ich erhebe mich. Auch wenn er mit dem Rücken zu mir steht, kann ich deutlich sehen, wie schwer sich sein Brustkorb hebt und senkt.
Ich trete näher an Helena heran, um notfalls einschreiten zu können. Sollte ich Cameron zuvor niemals misstraut haben, ist wohl nun der passende Zeitpunkt, mir eine gesunde Portion Skepsis zuzulegen.
Doch wie der winzige Löwe, der Helena ist, lässt sie sich weder von Cams Größe noch von seinem bedrohlichen Blick einschüchtern.
»Ich habe alles verloren.« Cams Stimme ist rau. Belegt. Brüchig. Wie seine gesamte Person. Einfach nicht so, wie sie sein sollte. »Sollte ich Crys nicht finden-«, er stockt und schließt die Augen, »was habe ich dann noch?«
»Deinen gesunden Menschenverstand!« Helena schnappt Cam beim Kragen seines Sweatshirts und schüttelt ihn einmal. »Verlorene Dinge kann man nicht immer zurückholen, und wenn das so ist, muss man es einsehen.« Sie verpasst ihm einen letzten Schubser, der ihn nicht sonderlich zum Wanken bringt, und verschränkt dann wieder die Arme. »Oder man geht daran kaputt. Ich habe Mom kaputtgehen sehen. Ein zweites Mal halte ich das nicht aus. Du bist auch Familie, Cam. Du kannst zurückkommen, wenn du dich und uns nicht mehr ständig in Gefahr bringst.«
Cam reißt den Mund auf, doch er wird von einem ohrenbetäubenden Knall vom Widerspruch abgehalten.
»Was zur – versteckt euch!« Cam reißt ein Messer aus dem Block auf der Anrichte und stürmt auf die Tür zu. »Wie haben mich die Scheißkerle gefunden?«, flucht er und stürzt aus der Küche, zur gleichen Zeit, wie das löchrige Holz nach innen aufschwingt.
Ich erstarre.
»Runter!« Helena zerrt zischend an meinem Ärmel aus ihrem Versteck hinter dem Mauervorsprung zum Wohnzimmer.
Mein Atem setzt aus. Ich kann mich nicht bewegen. Nur mein Herz schlägt wie gestört gegen meinen Brustkorb, als ich ihn anstarre.
Das letzte Fünkchen Verstand, das ich noch habe, verschwindet, während ich warte, dass er irgendetwas tut. Mit der Pistole in seiner Hand.
Oder dass er spricht. Wahrscheinlich mit einer Stimme, die so sexy ist wie sein Äußeres. Oder noch schärfer.
Meine Kehle wird trocken.
Wir starren uns an. Seine braunen Augen lassen keine Regung erkennen.
Und ich täusche mich nicht. Seine Lippen öffnen sich langsam, während er einen Arm ausstreckt, um Cam Einhalt zu gebieten. Doch weiter beachtet der blonde Kerl mit den breiten Schultern den angehenden Meuchelmörder nicht.
Weil er nur mich im Blick hat.
Zwei Worte rollen dunkel von der Zunge des Fremden. »Sebastian Corraface?«
Heilige.
Scheiße.