Kitabı oku: «Teeträume»

Yazı tipi:

Digitale Erstausgabe (PDF) Mai 2014

Digitale Neuauflage (ePub) April 2021

Für die Originalausgabe:

© 2012 by Anna Martin

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Tattoos & Teacups«

Published by Arrangement with Anna Martin

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Umschlagillustration: Marek Purzycki

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: hanne's designküche

ISBN-13 (ePub): 978-3-95823-519-9

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

Anna Martin


Aus dem Englischen

von Uta Stanek

Liebe Lesende,

vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die*den Autor*in des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer*seiner Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der*des Autor*in und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

Vielen Dank!

Euer Cursed-Team

Klappentext:

Literaturprofessor Robert fühlt sich mit seinen zweiunddreißig Jahren eigentlich zu alt für die Liebe. Als waschechter Schottland-Auswanderer genießt er in den USA sein ruhiges, geregeltes Leben, seine Bücher und guten Tee. Bis Musiker Chris in sein Leben stürmt und wie ein Wirbelwind nicht nur Roberts Vorurteile über den Haufen wirft, sondern auch alles, was er zuvor für perfekt gehalten hat...

Für die ehrenwerte Stadt Edinburgh,

die im Sommer mein Zuhause ist,

danke für die Inspiration.

Prolog

Als ich einmal einen Ausflug nach New York City unternahm, blieb ich stehen, um einer Gruppe Hip-Hop-Tänzer zuzuschauen, die auf der Straße tanzte. Ich war von den knalligen Farben und dem hämmernden Rhythmus der Musik sowie von den Kunststücken und Saltos fasziniert, die sie offensichtlich mit Leichtigkeit ausführten. Obwohl ich mich in der Menge im Hintergrund hielt – zwei oder drei Zuschauer standen vor mir –, kam ich nicht umhin, gleichzeitig beeindruckt und eingeschüchtert zu sein, als einer der Tänzer direkt auf einen Mann in der ersten Reihe zuhielt. Er breitete seine Arme weit aus, drückte seine Brust heraus, sodass sie beinahe die des anderen Mannes berührte, und rief: »Boom!« Direkt in sein Gesicht!

Die schiere Frechheit des Tänzers brachte mich zum Lächeln, auch wenn mein Magen beim Gedanken an eine derartige Konfrontation einen Purzelbaum schlug. Zu meiner großen Überraschung lachte der andere Mann nur und machte ein lustiges Geräusch in seiner Kehle, als würde er die Rs rollen. Der Tänzer schien das als Ermutigung aufzufassen, aus dem Stand heraus einen Rückwärtssalto zu vollführen – und erntete lärmenden Beifall von der versammelten Menge.

Chris gab mir dasselbe Gefühl: eingeschüchtert und ein wenig beeindruckt. Er war in vielerlei Hinsicht wie der Tänzer: Laut und bunt wirbelte er mit einem lauten Boom! in mein Leben und verschwand ebenso schnell wieder daraus. Allerdings blieb ich wie bei den Hip-Hop-Tänzern mit dem unbestimmten Gefühl zurück, dass ich etwas vollkommen Neues erlebt hatte, und dadurch hatte ich mich unwiderruflich verändert.


Kapitel 1

September an der Nordostküste war eine farbenfrohe Angelegenheit. Im Stillen sage ich immer noch farbenfroh (und nicht bunt), um mir in Erinnerung zu rufen, niemals den umgangssprachlichen Amerikanismen zu erliegen, die mein tägliches Leben plagen. Trotz der Monate, die in Jahre übergegangen waren, seit ich meine Heimat Schottland verlassen hatte, mochte ich es, an meinem Erbe und an einem gewissen Maß an Etikette festzuhalten, wenn es um die richtige Aussprache, Zeichensetzung und Grammatik ging. Möglicherweise klingt das pedantisch, aber ich versichere Ihnen, das bin ich nicht. Ich weiß nur die korrekte Verwendung der englischen Sprache zu schätzen.

Ich war sechzehn, als wir von Edinburgh nach New Hampshire gezogen sind. Sechzehn Jahre in Schottland, sechzehn in Amerika. Der Sommer meines zweiunddreißigsten Lebensjahres auf diesem Planeten hatte mir ein rastloses Gefühl gegeben, als ob es an der Zeit wäre weiterzuziehen. Zeit, an einen neuen Ort zu wechseln, etwas anderes zu tun oder vielleicht einen neuen Weg für mich zu finden.

Allerdings war ein Umzug unwahrscheinlich. Ich stand mit beiden Beinen fest im Berufsleben und man begann, mich auf meinem Gebiet für mein Wissen und meine Kompetenz zu schätzen. Ich wurde zu Veranstaltungen, Konferenzen und Vorträgen eingeladen, um über meine Forschungsarbeit zu Rudyard Kiplings Werken und seinen Einfluss auf die Kolonialgesellschaft zu referieren. Ab und an wiederholte ich diese Vorträge vor Collegestudenten aus dem dritten Jahr, die mit gläsernem Blick vor mir saßen, obwohl ich bezweifelte, dass sie zu schätzen wussten, was ich ihnen zu vermitteln versuchte. Jedenfalls reichte niemand von ihnen je einen von mir vorgeschlagenen Aufsatz ein.

Routine etablierte sich um mich herum, ohne dass ich es wirklich bemerkte. Meine Wohnung, mein Kater, mein Auto und meine Arbeit hatten ihren zugewiesenen Platz und ich war glücklich. Warum sollte ich irgendetwas ändern?

Allerdings war ich einsam. Der Kater milderte ein wenig das Ziehen in meiner Brust, abends in ein leeres Apartment nach Hause zu kommen, aber er war nicht mehr als ein Thunfisch stehlender Begleiter. Und das ist nicht nur so dahergesagt...

An der Liebesfront lag alles schmerzhaft brach. Und das bereits länger, als ich jemals, jemals zugegeben hätte. Als wir nach Amerika gezogen waren – Mum, Dad, ich und Jillian –, hatte ich gerade meinen Schulabschluss; die Qualifikation, die man in Schottland mit sechzehn Jahren erhalten konnte und die es einem Kind in diesem Alter erlaubte, das Schulsystem zu verlassen, wenn es das wünschte. Im Wesentlichen hatte ich damit im Niemandsland festgesessen, da es in den Staaten unmöglich war, irgendetwas ohne einen Highschool-Abschluss zu machen, obwohl ich die Schule meinem Heimatland zufolge bereits abgeschlossen hatte.

Da Jilly ebenfalls auf die örtliche Highschool gehen musste, hatte ich unter dem Vorwand, ihr moralischen Beistand zu geben, zugestimmt hinzugehen. Tatsächlich war Jilly mehr als fähig, auf sich selbst aufzupassen, und hatte schnell einen Nutzen aus ihrer jahrelangen Mitgliedschaft im Turnverein zu Hause in Schottland gezogen und sich geschickt in das Cheerleading-Team eingeschlichen. Die anderen Kinder auf der Schule schienen durch wechselnde Phasen gegangen zu sein, in denen sie mich wegen meines Akzents entweder verspotteten oder verehrten.

In einer Welt, in der sich einzufügen alles bedeutete, war ein Coming-out schlicht und ergreifend keine Möglichkeit. Das College hätte meine Rettung sein sollen, ein Ort, an dem ich mich stolz als schwuler Mann präsentieren und die Liebe, das Leben und einen anderen Mann umarmen konnte, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Die Wirklichkeit hatte ein wenig anders ausgesehen.

Obwohl es eine LGB-Vereinigung auf dem Campus gegeben hatte (damals war das T noch nicht angefügt gewesen), war sie von einer – offen gestanden – furchterregenden Lesbe geleitet worden und die einzigen Männer dort schienen auffallend schwul zu sein. Sie hatten mir sogar mehr Angst eingeflößt als die offenkundigen Machomänner, die mich im Studentenwohnheim umgeben hatten.

Immer und immer wieder hatte ich mir versprochen: Nächstes Jahr wird alles anders. Nächstes Jahr wirst du jemanden finden. Aber das hatte ich nie getan.

Jillian warf mir vor, dass ich nicht genug ausgehen würde, ebenso meine Freunde. Die traurige Tatsache war, dass ich mich selbst mit dem Etikett versehen hatte, nicht liebenswert zu sein; ein bewegungsloser, stoischer Junggeselle. Außerdem kamen ich und Flea, mein ungepflegter Kater, sehr gut allein zurecht, herzlichen Dank.

Und dann? Boom!

***

»Bis zur nächsten Woche…«, rief ich über den Lärm der Studenten hinweg, die nach ihren Taschen griffen und hastig niedergeschriebene Notizen darin verstauten, »… lest ihr bitte Der Mann, der König sein wollte! Bis auf Weiteres lassen wir die Lyrik hinter uns.«

Als Antwort erhielt ich ein allgemeines Murmeln, das ich als Zustimmung auffasste. Die erforderliche Lektüre für meinen Kurs war ausreichend im Voraus angekündigt worden, um meinen Studenten genügend Zeit zu geben, sich mit dem Material vertraut zu machen, aber es war immer ratsam, sie noch einmal daran zu erinnern.

Für heute war das meine letzte Vorlesung. Ein glücklicher Umstand sorgte dafür, dass das Collegesystem für die Aufstellung der Vorlesungen der Meinung war, dass meine Woche freitags bereits um vierzehn Uhr beendet war, sodass ich früh ins Wochenende gehen konnte. Nicht, dass ich das jemals tat. Meine Position ermöglichte es mir, ein schönes Büro zu beanspruchen, und nach drei Jahren war es mir endlich bewilligt worden.

Für eine derart angesehene Anstellung war ich jung, aber ich war mir nicht zu schade, daraus Vorteile zu ziehen. Der einzige Nachteil war der lange Marsch über den Campus zwischen dem Literaturgebäude, in dem ich arbeitete, und dem Geschichtsgebäude, in dem mein Büro lag. Natürlich hätte ich in das Literaturgebäude umziehen können, wenn ich dafür mein schönes Büro aufgegeben hätte. Demnach war der Spaziergang ein gutes Training.

Ich hatte den Raum in einem Stil dekoriert, den Jillian als mürrischer, alter Mann bezeichnete, und das passte zu mir. Eine Wand wurde von einem großen Bücherregal dominiert, das ich entzückt mit gebrauchten Büchern und Zweitausgaben der Bücher befüllte, die ich in meiner persönlichen Bibliothek zu Hause aufbewahrte. Ich hatte einen reizenden Lehnsessel aus Leder, der hinter einem antiken Schreibtisch stand, den ich auf einem Flohmarkt gefunden hatte, und eine lange, bequeme Couch, die ich kaum benutzte, außer um hin und wieder ein kurzes Nickerchen zu machen, wenn ich von morgens bis abends auf dem Campus war.

Nachdem ich meine Aktentasche und meine Notizen auf einem zunehmend bedrohlicher schwankenden Stapel in der Ecke meines Schreibtisches abgelegt hatte, setzte ich mich zurück, um meine E-Mails zu lesen, die während meiner Abwesenheit eingegangen waren. Sie waren mit dem üblichen Unsinn angefüllt: Studenten, die aufgrund des Todes ihrer Oma/ihres Hundes/ihres Cousins zweiten Grades in Peru um eine Verlängerung der Abgabefrist flehten, eine Einladung meiner Mutter zum Mittagessen am Sonntag, Nachrichten an die gesamte Fakultät, in denen um unsere Kooperation bei der Haltet den Campus sauber-Kampagne gebeten wurde, und eine von meinem Freund Adam mit der Frage:

Boot oder Vogel?

Ich lachte und schrieb zurück: Natürlich Boot.

Direkt am Campus gab es einen Pub, den wir mochten. Er hieß The Ship und es gab dort gutes Bier und besseres Essen. Auf dem Campus gab es noch eine größere Bar, in der auch die Studenten etwas trinken gingen: die Two Magpies.

Wir hatten den Bars Spitznamen gegeben in dem Versuch, vor den Studenten geheimzuhalten, wo wir an einem bestimmten Abend etwas trinken würden. Unglücklicherweise hatte jemand eine unserer Unterhaltungen mitangehört und inzwischen waren die Spitznamen in den allgemeinen Jargon der Studenten eingeflossen.

Einige Stunden lang arbeitete ich konzentriert, sodass ich Fortschritte mit meinem Stapel Arbeit auf dem Schreibtisch machte. Überrascht sah ich auf die Uhr, als Adam Punkt fünf an meine Tür klopfte.

»Hey«, sagte er, als er den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Bist du fertig?«

»Ja, fast. Komm kurz rein.« Ich winkte ihn herein.

Adam ließ sich auf die Couch fallen und machte es sich gemütlich, während ich alles abspeicherte und zusammenpackte, was ich für das Wochenende benötigte.

»Dein Büro ist eine Müllhalde«, meinte Adam.

»Es ist keine Müllhalde. Das ist organisiertes Chaos«, korrigierte ich ihn.

Adam schnaubte, musste aber gleichzeitig lachen. Er war kein Dozent. Er arbeitete beim Campustheater als Techniker. Von den strahlenden Lichtern des Broadway zu den verstaubten Scheinwerfern des Collegeauditoriums. Seine Karriere hatte einen geringfügigen Abstieg erlitten, aber er hatte seine junge Familie aus der Stadt in einen der Vororte bringen wollen. Ich mochte sein gelassenes, unbekümmertes Wesen, das von einem wiegenden Gang unterstrichen wurde, der von seiner annähernd zwei Meter großen Gestalt herrührte.

»Na komm schon, das Bier wartet«, grummelte er, als ich endlich meine letzten Papiere in meinen Aktenkoffer schob.

»Ich komme.«

»So genau wollte ich's gar nicht wissen...«

»Adam, sei nicht so frech.«

Er wusste über meine Sexualität Bescheid und machte gelegentlich Witze darüber, nicht auf gemeine Art und Weise, sondern wie Freunde eben so sind. Einmal hatte er mich gefragt, ob ich ihn attraktiv fand. Ich hatte nein gesagt. Rotschöpfe waren nicht mein Typ.

Mein antiker, rostender Buick war ein weiterer Anlass für ihn, auf das scharfe Ende seiner gewitzten Zunge zurückzugreifen. Er war ein Relikt meiner eigenen Collegetage und ich mochte die Vertrautheit des Schrotthaufens, auch wenn es mich mehr kostete, ihn am Laufen zu halten, als er eigentlich wert war. Mit offenen Fenstern fuhr ich zum Ship und tat so, als läge noch ein warmer Hauch in der Luft, obwohl in Wirklichkeit der Herbst schnell heranrückte.

***

Ich hatte mich wider besseren Wissens überreden lassen, sehr viel länger im Ship zu bleiben, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Sobald ich über den Punkt hinaus war, an dem ich noch vernünftig hätte nach Hause fahren können, war es tatsächlich sogar beschämend einfach, mich zum Bleiben zu überreden. Während wir über die Gefahren des American Football debattierten, wippte ich auf dem Barhocker herum.

»Zum Beispiel Rugby«, sagte ich und schlug meine Hand unterstreichend auf die Bar. »Dassis' echter Männersport. Keine verweichlich'e Pols'erung, die ihr Amis alle anhabt.«

»Dein Akzent kommt durch, wenn du betrunken bist, wusstest du das?«, sagte Adam.

»Aye«, stimmte ich zu. »Tut er.«

»Aye«, plapperte er nach.

Eine Hand tippte mir leicht auf die Schulter. Ich wirbelte zu schnell herum; die Welt verschwamm vor meinen Augen, bevor sich mein Blick auf einen jungen, blonden Mann fixierte.

»Kann ich helfen?«, fragte ich ihn und versuchte, die schottische Aggression in meiner Stimme zu unterdrücken.

»Sorry«, sagte er. Langsam breitete sich ein lässiges Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Dachte für einen Moment, du bist Gerard Butler.«

»Butler!«, brüllte ich. »Verdammter Gerard Butler is' der verdammte Fluch meiner verdammten Existenz!« Durch mein wildes Herumgestikulieren kippte ich mir etwas Bier über mein Hemd. Eine Tatsache, die ich erst bemerkte, als die bernsteinfarbene Flüssigkeit bis auf meine Haut durchsuppte. »Un' der is' un'efähr zehn Jahre älter als ich!«

»Tut mir leid«, sagte Adam, als er sich über mich beugte. Seine Worte waren ein wenig undeutlich. »Er wird zum Rowdy, wenn er betrunken ist.«

»Ist mir aufgefallen«, sagte der Junge. Er hüpfte auf den Barhocker neben meinem und gab der Barkeeperin ein Zeichen. »Hast du einen Namen?«

»Mein Name«, sagte ich und richtete mich zu meiner vollen (sitzenden) Größe auf, »is' Robert Andrew McKinnon. Der Zweite. Wer zur Hölle bis' du?«

»Chris. Christopher Jacob Ford. Der Einzige. Mir gefällt dein Akzent.«

Adam fing an zu kichern und ich schüttelte die Hand des Jungen. Seine knallbunte, farbintensiv tätowierte Hand.

»Ah, jedem g'fällt mein verdammter Akzent«, seufzte ich in mein Bierglas.

»Er sagt oft verdammt, wenn er betrunken ist«, fügte Adam hilfreich hinzu. »Hey, bist du schwul? Robert schon und er wurde seit Jahren nicht mehr flachgelegt.«

»Adam!«, rief ich aus und stieß ihn gegen die Schulter. Er fiel von seinem Barhocker.

Ich entschuldigte mich nicht – das hatte er verdient –, aber ich orderte eine weitere Runde Getränke, während er in Richtung des Klos marschierte. Der Toiletten. Der verdammten Toiletten.

»Also«, sagte ich an Christopher Jacob Ford gewandt, ermutigt von meiner Zurschaustellung brutaler, männlicher Kraft, »bissu schwul?«

Er grinste mich auf eine Art und Weise an, die ich als ein Ja interpretieren könnte. Auf eine Art und Weise, die ich vor langer Zeit einmal als ein Ja interpretiert hätte.

»Wenn du's wissen willst«, sagte er und schob eine schicke weiße Karte über die Bar in meine Richtung, »ruf mich an.«

Ich hob die Karte ans Gesicht. Zehn Zahlen und die Buchstaben C.J.F. (1) waren in einer ordentlichen Handschrift aufgedruckt. Ich steckte sie für später in meine Brieftasche.

***

Am nächsten Morgen wachte ich mit einem Fusselball auf meinem Kopf auf und einem weiteren, der sich zwischen meinen Zähnen zu bilden begann. Als ich versuchte, mich zu bewegen, bemerkte ich zwei Dinge: Der Fusselball auf meinem Kopf war Flea, der empört seine Krallen in meine Kopfhaut grub, als ich versuchte, ihn zu entfernen, und der Fusselball zwischen meinen Zähnen war mit Sicherheit ein Zeichen meines bevorstehenden Todes.

Durchzechte Nächte verstärkten meinen Sinn für Melodramatik.

Ich kroch aus dem Bett, in dem ich mit dem Gesicht nach unten und alle viere von mir gestreckt geschlafen hatte. Ich trug eine Socke, mein Hemd und meine Krawatte. Sonst nichts. Während ich ins Badezimmer ging (ich weigerte mich zu kriechen, obwohl das gewiss die bessere Alternative gewesen wäre), versuchte ich, die Macht des positiven Denkens anzuwenden, um mich zurück zur Besinnung zu bringen. Es funktionierte nicht, aber mit der dampfenden, heißen Dusche, Schmerztabletten, zwei Gläsern Wasser und der Durchführung eines Aktes der Selbstliebe befand ich mich auf einem guten Weg der Besserung.

Ich war gerade mit dem Rasieren fertig geworden und in meine Lieblingsjeans und ein kariertes Hemd geschlüpft, als die Gegensprechanlage summte. Ich hatte keine Zeit, meine Haare zu kämmen, bevor ich antwortete, was mich sehr verärgerte.

»Hast du nicht schon genug angerichtet?«, bellte ich Adam an, als sein unscharfes, graues Gesicht auf dem kleinen Bildschirm erschien.

»Dachte, du würdest mir und meiner Familie vielleicht gern beim Frühstück Gesellschaft leisten«, sagte er mit einem fröhlichen Lächeln. Ich schnaubte und betätigte den Summer.

»Ich habe durchaus auch noch andere Freunde, weißt du«, sagte ich, als er sich selbst durch die Eingangstür hineinließ, die ich letzte Nacht offensichtlich vergessen hatte abzuschließen.

»Ja, ich weiß«, erwiderte er. »Aber ich hatte vermutet, dass du heute einem Bären mit schmerzendem Kopf gleichst, und ein gutes Frühstück könnte eine Menge dazu beitragen, dass es dir besser geht.«

Ich murmelte und grummelte vor mich hin, während ich Schuhe anzog, mein Haar kämmte und einen hübschen Pullunder fand, den ich über meinem Hemd anziehen konnte.

»Kommen die Kinder mit?«, fragte ich.

»Sie sitzen schon im Auto. Genau wie Marley. Alle warten auf dich.«

»Schon gut, schon gut«, murrte ich, da ich den Hinweis verstand. Dann warf ich einen Blick in meine Brieftasche und zuckte angesichts des Inhalts zusammen – oder des Mangels eben dessen. Stirnrunzelnd betrachtete ich die kleine Karte mit Eselsohr, die hinter meinem Führerschein steckte. Schließlich verließ ich das Haus, als Adam mich mit einem Klaps auf den Hinterkopf zur Eile antrieb.

Marley heißt Marlene, Adams ebenso große wie ausgesprochen hübsche Ehefrau, die er geschwängert hatte, während sie in Romeo und Julia getanzt hatte.Und dann hatte er sie auch noch überredet, ihre hohen Druck ausübende und superschlanke Welt des Balletts für das Mutterdasein in der Vorstadt aufzugeben. Zwei Kinder später und ich glaube, sie sind das glücklichste Paar, das ich jemals getroffen habe.

»Ich treffe mich später mit Chloe«, sagte ich, als ich auf das Bitten von Tia und Charlotte hin auf den Rücksitz des Wagens zwischen die zwei Mädchen kletterte.

»Gut, du siehst sie viel zu selten«, sagte Marley, als sie sich durch die Lücke zwischen den beiden Vordersitzen beugte, um mir einen Kuss zu geben.

Das erste Mal, als ich mit Adams Familie unterwegs gewesen war, hatte ich mich wie das dritte Rad am Wagen gefühlt, das ohne jegliches Recht in private Familienzeit eindrang.

Allerdings war dieses Gefühl bald vorübergegangen. Marley war zu herzlich und liebevoll, um nicht mit ihr warm zu werden, und andere Freunde schlossen sich uns oft genug an.

Nachdem wir es uns an unserem Tisch im Diner gemütlich gemacht hatten, zog ich meine Brieftasche erneut hervor, entschlossen, mir diese verdammte Karte genauer anzusehen. Während ich sie inspizierte, begann Adam zu lachen.

»Freut mich, dass du die eingesteckt hast«, sagte er immer noch glucksend.

»Was ist das?«

»So ein Kerl hat dir seine Nummer gegeben.«

Die Erinnerung kehrte in aufleuchtenden Standbildern zurück: ein junger, blonder Mann, Adam, der von seinem Barhocker gestoßen wurde, Tätowierungen. Wenn du's wissen willst, ruf mich an.

»Oh Scheiße«, murmelte ich und ließ meinen Kopf auf die Tischplatte sinken, was die Mädchen zum Lachen brachte.

»Lass mich mal sehen«, sagte Marley. Ich schob ihr den Zettel zu, ohne meinen Kopf anzuheben. Ihre Fingerspitzen strichen durch mein Haar und massierten sanft meinen Nacken. »Was bedeutet C.J.F. in Klammern eins?«

»Es bedeutet«, sagte ich, sammelte die Scherben meiner Würde ein, und setzte mich wieder aufrecht hin, »Christopher Ein-Name-mit-J-am-Anfang Ford oder Frost oder… nein, ich glaube, es war Ford, der Erste.«

»Und Einzige«, warf Adam hilfreich ein.

»Ja. Der Erste und Einzige.«

»Rufst du ihn an?«

»Nein!«, rief ich aus. »Ganz bestimmt nicht. Er dachte, ich wäre Gerard Butler.«

Mitfühlend zuckte Marley zusammen. Sie wusste, dass Butler älter war als ich und dass ich den Vergleich hasste. Besonders, wenn die Leute dazu sagten: »Oh, ich dachte, Sie wären in etwa demselben Alter…«

»Allerdings ist Butler ziemlich verwegen, Robert. Du solltest anfangen, es als Kompliment aufzufassen. Alle Mädchen mögen ihn.«

»Ja, nun, ich bin nicht gerade daran interessiert, dass alle Mädchen mich mögen.«

Tia, die bis eben ihren Orangensaft mit einem Strohhalm umgerührt hatte, sah auf. »Onkel Robert, warum willst du nicht, dass alle Mädchen dich mögen?«

»Neues Gesprächsthema!«, sagte Marley laut und enthusiastisch, während sie in die Hände klatschte und strahlend lächelte. Adam beugte sich zu Tia, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, das sie die Stirn runzeln ließ, ehe sie erneut heftig in ihrem Saft rührte. Ich vermutete, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte.

Kurz darauf erschien die Kellnerin und nahm unsere Bestellungen auf.

***

An diesem Abend machte ich es mir mit indischem Essen, das ich von unterwegs mitgebracht hatte, gemütlich und versuchte, nicht an Chris, seine Nummer und den Zettel zu denken, der ein Loch durch meine Brieftasche in meine Arschbacke brannte. Pobacke.

Schließlich, während ich die Küche aufräumte, zog ich den Papierschnipsel aus meiner Brieftasche und befestigte ihn mit einem Magneten, der wie eine Tomate geformt war, an meinem Kühlschrank. Lange Minuten starrte ich ihn an und fragte mich, was zur Hölle ich damit anstellen sollte.

***

Ich schloss die Augen und wählte blind seine Nummer, wobei ich mir von den Pieptönen sagen ließ, dass ich die richtigen Zahlen drückte. Ich biss die Zähne zusammen, als es klingelte. Mir war speiübel.

Ich räusperte mich. »Hallo, ähm, Chris? Hier spricht Robert.«

»Hm. Robert. Robert, Robert… oh! Gerard Butler.«

Das hier war eine schlechte Idee. »Ja.«

»Hey! Ich hab gehofft, dass du anrufst.«

»Oh. Nun, das habe ich. Wie geht es dir?«

»Gut, Mann, alles bestens.« Ein Geräusch, als würde er irgendetwas durchsuchen, drang durch den Hörer. Es klang, als läge er noch im Bett. Es war fast zwei Uhr am Nachmittag! Ich rief in meiner Mittagspause an!

»Was machst du gerade?«

»Ich habe gerade Mittagspause.«

»Cool. Willst du dich später auf ein Bier treffen?«

Mein Herz machte einen Satz. »Ja. Ja, das klingt gut.«

»Super. Tja, ich hab ja jetzt deine Nummer. Ich schreib dir später, wenn ich losgehe.«

»Okay. Dann sehen wir uns später, Chris.«

»Jep. Bis später.«

Dann legte er auf. Einen langen Moment starrte ich mein Telefon vollkommen schockiert an. Ich hatte eine Verabredung. An einem Dienstagabend. Ich klappte meinen Laptop zu und rannte über den Campus, um Adam zu finden.

***

Nach meiner letzten Vorlesung des Tages blieb keine Zeit mehr, ins Apartment zurückzukehren und mich umzuziehen, sodass ich gezwungen war, im Anzug auszugehen (Obwohl ich meine Krawatte gelöst und zusammen mit meinem Jackett im Wagen liegen gelassen hatte. Es war der Versuch, leger auszusehen, bei dem ich, wie ich fürchtete, kläglich scheiterte).

Ich hatte eine SMS von Chris erhalten, dass er zu einem Coffeeshop gegangen war; ich war erleichtert, dass es nach unserem letzten Zusammentreffen nicht wieder eine Bar war. Ich parkte nur ein paar Häuser weiter und wischte zwanghaft meine Hände ein paar Mal an meinen Oberschenkeln ab, in dem Versuch, die Bedenken zu zerstreuen, die an meinem Magen nagten. Ich hatte keine Verabredung mehr gehabt seit… viel zu lange.

Sobald ich durch die Tür trat, stand Chris auf und winkte mich zu sich.

»Ich hab schon gedacht, du würdest mich sitzenlassen«, sagte er neckend.

»Oh, nein, so etwas würde ich nie tun«, sagte ich. »Ich wurde im Büro aufgehalten. Es tut mir leid.«

»Kein Problem«, sagte er und schenkte mir sein jungenhaftes Grinsen, ehe er sich zurück in den tiefen Ledersessel sinken ließ.

Ich holte ihm eine zweite Tasse Kaffee und mir einen entkoffeinierten, in dem Bemühen, meine Nerven zu beruhigen. Die heiße Flüssigkeit verbrühte meine Zunge, als ich von ihr trank, und zwang mich dazu, mein schmerzverzogenes Gesicht zu verbergen.

»Wo arbeitest du?«, fragte Chris, als ich mich in meinem Sessel zurücklehnte. Sorgsam stellte ich meine Tasse auf die Untertasse zurück.

»Ich bin Professor an der Universität.«

»Oh, echt?« Er klang interessiert. »Was unterrichtest du?«

»Kolonialliteratur mit dem Schwerpunkt auf Kipling. Sag mir bitte, dass du kein Student bist.«

Chris lachte gelassen. »Ich bin kein Student, Rob.«

»Robert«, korrigierte ich automatisch, ehe ich zusammenzuckte. »Entschuldige.«

»Ich hatte einen Onkel, der Robert hieß«, sagte Chris und winkte meine Entschuldigung einfach beiseite. »Er war pervers und ein Alkoholiker. Rob klingt… jünger.«

»Für gewöhnlich erlaube ich nicht, dass man mich bei diesem Spitznamen nennt.«

»Ist mir aufgefallen.«

»Ich denke, für dich könnte ich eine Ausnahme machen.«

Mir wurde ein weiteres Lächeln geschenkt. Das Zugeständnis an meinen Namen war nichts im Vergleich dazu, dieses Lächeln noch einmal zu sehen.

»Und du?«, fragte ich und nippte an dem immer noch kochend heißen Kaffee. »Was machst du?«

»Ich bin Percussionist«, sagte er.

»Ein Schlagzeuger?«

Chris runzelte die Stirn, verdrehte die Augen und warf die Hände in die Luft. »Nein, kein Schlagzeuger, ein Percussionist.«

»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich.

»Schon okay. Na ja, um ehrlich zu sein, ich besitze tatsächlich ein Schlagzeug. Aber ich arbeite außerdem auch frei für Philharmonien und Sinfonieorchester und den ganzen Kram.«

»Wow«, sagte ich beeindruckt. »Wie lange machst du das schon?«

»Trommeln? Seit ich acht bin. Das ganze andere habe ich angefangen, als mir bewusst wurde, wie viel Geld man verdienen kann, wenn man das anspruchsvolle Zeug auch mitmacht. Ich bin in einer Band«, fügte er prahlend hinzu, aber es passte zu ihm. »Jep. Deshalb sind wir hier gelandet. Wir sind seit anderthalb Jahren auf Tour.«

»Woher kommst du?«

»Ursprünglich aus Florida«, antwortete er und beugte sich vor, um seinen Becher vom Tisch zu nehmen. Das dünne, weiße T-Shirt, das er trug, spannte sich dabei straff über seinen Rücken. »Als Kind bin ich ziemlich oft umgezogen und schließlich nach Tallahassee gekommen, wo ich die anderen kennengelernt hab. Ein paar Monate lang haben wir im Süden gespielt und dann beschlossen, auszuziehen.«

»Wo bist du schon gewesen?«, fragte ich. »Entschuldige – ich wollte dich nicht mit Fragen bombardieren, es interessiert mich nur.«

»Ach, schon okay«, sagte er und lächelte wieder. »Ich bin ein arroganter, kleiner Bastard, ich mag es, über mich zu sprechen. Auf dem Weg hierher haben wir in den meisten Großstädten an der Ostküste Halt gemacht. Atlanta, D.C., Baltimore, New York… dann Boston, und hier bin ich nun.«

»Boston ist nicht annähernd so eindrucksvoll wie die Städte, in denen du zuvor gewesen bist«, sagte ich in dem Versuch, die Frage nicht wie eine Frage klingen zu lassen.

»Ach, John ist sentimental«, sagte Chris. »Unser Mann für die Streichinstrumente. Er ist hier aufgewachsen und wollte vorbeischauen, ein paar Gigs machen und sich mit Leuten treffen, die er kennt. Wir werden noch ein paar Monate hierbleiben.«

»Klingt gut.«

»Kann ich dich etwas fragen?«, wollte Chris wissen und ich nickte. »Wie alt bist du?«

»Zweiunddreißig«, antwortete ich.

»Oh. Nicht schlecht.«

»Du wirst mich ins Grab bringen, wenn du sagst, dass du dachtest, ich wäre älter.« Ich spürte eine verräterische Röte an meinem Hals hinaufkriechen.

»Nein, das ist es nicht«, log er. »Es ist nur… du bist ziemlich süß, Rob, weißt du das?«

»Nein, bin ich nicht«, murmelte ich und errötete noch mehr.

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