Kitabı oku: «Die Hoffnungsvollen», sayfa 2

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Doch jetzt, hier in Linden schien dieser Reiz taub. Ihr stand deutlich vor Augen, dass Jörg, ihr Abenteuer, sie aus der Bedrückung ihres Alltags hatte befreien sollen. Er war die Lichtgestalt in der Tristesse der Neubaueinöde gewesen. Doch Jörgs Licht verblasste am Horizont.

Am ersten Studientag saß sie in einem holzgetäfelten Hörsaal, in dem jeder Schritt der Hereinkommenden hallte. Lange, halbrund geschwungene Stuhlreihen durchzogen das treppenförmige Auditorium, in dessen tiefer gelegenem Zentrum das Pult des Professors vor zwei Tafeln stand. Die Studenten zwängten sich in die engen Gänge zwischen den Stühlen. Mit knarrenden Geräuschen setzten sie sich und klappten ihre Tische hoch. Alexandra suchte ihr Schreibheft heraus, legte es auf ihren Tisch und platzierte einen Kugelschreiber akkurat darüber. Dann sah sie sich um.

Es saßen nur wenige Studenten im Saal. Zwischen ihnen blieben ganze Reihen leer. Alle Studenten schienen männlich zu sein. Mit den Augen suchte sie den Raum ab und entdeckte nur ein weiteres Mädchen. Ihr wurde mulmig. Hatte Professor Hinrich recht? War dieses Fach wirklich nichts für Frauen?

‚Quatsch!‘, dachte sie. ‚Im Kopf unterscheiden sich Männer und Frauen jedenfalls nicht.‘

Dann wurde es still im Raum. Durch eine Seitentür neben der Tafel trat Professor Hinrich ein.

„Guten Morgen, meine Damen und Herren.“ Seine Stimme klang hart und unfreundlich. Hatten die Studenten vorher noch gelacht, herrschte jetzt betretenes Schweigen.

„Ich sehe hier circa zwanzig Erstsemester im Fach Informatik. Sie haben sich einiges vorgenommen und nur ein kleiner Teil von Ihnen wird in zwei Jahren mit dem Vordiplom in der Tasche hier noch sitzen. Wie viele von Ihnen tatsächlich zu einem Diplom kommen, das wage ich nicht zu schätzen. Aber die meisten werden das Studium nicht schaffen. Über diese Prognose können Sie nun nachdenken.“

Alex schluckte. Sie hätte lieber gehört, dass er sich über seine neuen Studenten freute und sie herzlich willkommen hieß. Aber Hinrich schien die Neuen nicht in sein Fach einladen zu wollen. Mit unnachgiebigem Tonfall, als müsste er sie zu einer Strafarbeit verpflichten, dozierte er die nächste halbe Stunde über die Literatur, die für das Studium verwendet werden sollte. Viel zu schnell handelte er die Organisation des Semesterplanes ab und listete die zu besuchenden Vorlesungen und Übungen auf. Wenn er unvermittelt immer wieder auf die Anforderungen des Informatikstudiums zu sprechen kam, wurde sein Ton noch abweisender, als er so schon war. Alex sackte in sich zusammen. Sie sah in die erstarrten Gesichter ihrer neuen Kommilitonen. Angespannte Ruhe herrschte im Saal. Und als sich Hinrich verabschiedete, spürte sie deutlich ein Aufatmen durch alle Stuhlreihen gehen. Schnell packten die Studenten ihre Aufzeichnungen ein und verschwanden durch die Tür. Draußen bemerkte sie eine kleine Gruppe, die sich leise unterhielt. „Das kann ja was werden“, hörte sie einen Studenten, und die anderen nickten stumm. Dann nahm sie ihre Tasche unter den Arm und ging zur Ethnologie.

Der Hörsaal lag in den Räumen des Instituts und hatte eine familiäre Ausstrahlung. Kein treppenförmiges Auditorium trennte die Würde eines dozierenden Professors von der unterwürfigen Unbeholfenheit zahlreicher Studenten. Der Saal war ein schlichter großer Raum, in dem verschlissene Tische und Stühle standen. Dass er nicht renoviert war, verstärkte das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Wärme unter den Anwesenden, die sich unverkrampft miteinander unterhielten. Niemand schien zu bemerken, dass der Professor eintrat. Erst als er versuchte, sich Ruhe zu verschaffen, wendeten ihm nach und nach die Studenten ihre Aufmerksamkeit zu. Der grauhaarige Herr am Rednerpult stellte sich als Hans Ulrich vor, und er begann seine Vorlesung ähnlich wie Professor Hinrich: „Bislang (Er meinte wohl, zu DDR-Zeiten.) haben wir hier in der Ethnologie nur nach Bedarf ausgebildet. Immatrikuliert wurde nur jedes zweite Jahr und dann nur zwischen sechs und acht Studenten. Wer bei uns studierte, konnte persönlich in seinem Werdegang betreut werden und bekam später auch einen Arbeitsplatz angeboten, zum Beispiel an einem Museum, an einem Universitätsinstitut, in Verlagen oder Bibliotheken.“

Die eingemauerte DDR hatte wohl nicht mehr gebraucht, dachte Alex, schließlich war das Reisen ins kapitalistische Ausland für die Mehrheit der Bevölkerung untersagt gewesen. Ob das nun anders war? Eines jedenfalls war klar, einen dieser heiß begehrten Studienplätze in der Ethnologie hätte sie vor der Wende nicht bekommen. Ihr, beziehungsweise ihrer Familie, fehlte es eklatant an „Vitamin B“ und nicht zu vergessen, ihre Eltern waren dem DDR-System nicht nützlich gewesen. Es war ein Grund, sich zu freuen. Sie lebte in einer Zeit, in der jeder frei war, sich für einen Beruf zu entscheiden und sich für diesen Beruf auch ausbilden zu lassen. Mit dem Abitur in der Tasche konnte sie alles studieren. Und das fühlte sich richtig an.

Doch Professor Ulrich schien anderer Meinung. „Heute kann jeder hier studieren, der will. Sie sind dreißig Studenten in einem Jahrgang, das heißt zehnmal mehr, als es Bedarf an ausgebildeten Ethnologen in den neuen Bundesländern gibt. Ich kann Ihnen also ankündigen, dass es – optimistisch gesehen! – höchstens ein bis zwei von Ihnen bis zur Promotion schaffen, und Hoffnung auf einen Arbeitsplatz oder sogar auf eine Professur will ich niemandem hier machen. Mit Ihnen konkurrieren Tausende Studenten aus den alten Bundesländern, wo Hunderte jedes Jahr durch das Ethnologie-Studium gezogen werden. Ich lege Ihnen also ans Herz, sich gründlich zu überlegen, ob Sie tatsächlich dieses Fach studieren wollen oder ob Sie nicht doch lieber ein Fach mit Jobaussichten absolvieren, zum Beispiel in den Naturwissenschaften, die zu wenig Studenten haben und die deshalb eine wesentlich bessere Studentenbetreuung leisten können als wir.“ Und wie zum Überfluss folgten Alex’ Augen seinem aufsteigendem Zeigefinger. „Und wer meint, Ethnologie studieren zu müssen, weil er sich dafür interessiert, weil er einfach nur gern reist oder weil es ein Studium ohne große Mühe sei, der ist hier völlig falsch. Auch das Ethnologie-Studium ist harte Arbeit.“

Ulrich verlieh seiner Rede mit einer nachfolgenden Schweigesequenz zusätzlich Bedeutung. Doch die Stimmung im Hörsaal schien von seiner dramatischen Ansprache völlig unberührt. Gleichgültig und ohne den fröhlichen Optimismus in ihren Augen zu verlieren, verfolgten die Studenten seine Ansprache. Sie saßen auf ihren Plätzen, zum Sprung ins Studentenleben bereit. Was kümmerten sie Zukunftssorgen?

„Hier wird man erst einmal überall demotiviert“, sagte beim Verlassen des Hörsaals eine brünette Studentin und blinzelte Alex an. „In der Soziologie haben sie uns dasselbe gesagt.“ Alex nickte. „Die Argumente dafür scheinen nur überall andere zu sein. Ulrich schickt uns in die Naturwissenschaften, aber in der Informatik hieß es, wir würden das Studium sowieso nicht schaffen.“

„Du studierst Informatik?“, fragte die Studentin.

„Wenn ich es bis zur Zwischenprüfung schaffe“, antwortete Alex und grinste verlegen. „Unser Professor scheint davon auszugehen, dass Frauen da eher weniger Chancen haben.“

„Ach, lass dich nicht entmutigen. Versuch es einfach!“ Die Studentin blieb neben Alex stehen und schenkte ihr ein Lächeln. „Jedenfalls scheint man nirgendwo auf uns gewartet zu haben.“ Alex stimmte ihr zu und stellte fest, dass ihr das Mädchen sympathisch war. Kurz überlegte sie, dann stellte sie sich vor. „Sabine“, erwiderte die, und beide besiegelten ihre neue Bekanntschaft mit einem Handschlag. „Schön, dass es noch andere gibt, die sich hier nicht willkommen fühlen.“ Langsam schlenderten sie durch den Flur entlang zur Sitzgruppe.

„Warum willst du eigentlich Ethnologie studieren?“, stellte Sabine die unvermeidliche Frage, die hier alle umtrieb. „Was soll man anderes studieren, wenn man aus der DDR kommt und ein Leben lang die Welt vermisst hat?“ Als Antwort grinste Sabine. „Ich komme aus München und will eigentlich Fotografie studieren. Aber ich hab’s nicht beim ersten Anlauf geschafft, muss Wartesemester leisten. Da hab ich mir gedacht, ich könnte die Zeit nutzen, um den Osten kennenzulernen. Also habe ich mich in Linden eingeschrieben.“ Nach diesem Bekenntnis strahlte sie Alex an. „Die Welt habe ich nicht vermisst!“, erklärte sie. „Nach dem Abitur bin ich für ein Jahr allein um den ganzen Globus gereist.“

Alex spürte ihre unverhohlene Verblüffung im Gesicht, riss die Augen weit auf und registrierte mit großer Verwunderung, die Normalität, mit der Sabine diese Sätze einfach so dahingesagt hatte. „Das ist ja mutig!“, setzte sie ihr Erstaunen in Worte. „Haben dir das deine Eltern erlaubt?“

„Meine Eltern? Die haben nur gesagt, ich soll meine eigenen Erfahrungen machen.“

War das möglich? Eine Achtzehnjährige, so alt wie sie selbst, reist allein um die Welt? Reist ein Jahr allein, egal wohin, ohne Geld, ohne Führer, ohne schützende Hand, ohne fremde Hilfe und Absicherung? Das war unerklärlich, und sie bewunderte uneingeschränkt Sabines Mut. Doch zugeben wollte sie das nicht, wenigstens nicht sofort. Deshalb leitete sie ihre Frage in eine ganz andere Richtung: „Und wie hast du das bezahlt?“

„Ach“, winkte Sabine ab, „das war kein Problem. Wenn mir das Geld ausging, bin ich eine Weile sesshaft geworden und habe gearbeitet. Meistens habe ich auf der Straße gesessen und den Leuten farbige Zöpfchen verkauft, die ich ihnen aus bunter Schnur in die Haare geflochten habe. Die gingen gut.“ Und Alex hörte ihr zu, als sie von Plätzen in Indien und in England erzählte, die Unterschiede zwischen ihren Kundinnen, der Witterung und ihren Problemen, das farbige Garn zu besorgen. Sabine schien vor unbekümmerter Lebenslust überzulaufen. Mit strahlendem Glanz in ihren braunen Augen schilderte sie ihre Reise. Was für Unterschiede zwischen dem kleinen provinziellen Leben in der Ex-DDR und der westdeutschen Freiheit, in der alles möglich war! Hatte Alex schon genügend vom Leben eingefordert, energisch genug nach dem Glück gegriffen? Woher nahm Sabine ihre Selbstverständlichkeit, mit der sie einfach tat, was ihr gerade in den Sinn kam? Warum zögerte sie nie und warum sagte sie nicht „aber“, wie Alex es stets von ihren Eltern gehört hatte?

2

Jeden Morgen, wenn er sein Wohnheimzimmer verließ, atmete Tilo an der frischen Luft auf. Die drei Mediziner, mit denen er das kleine Zimmer teilte, hatten ihm früh gezeigt, dass die Flucht aus dem Raum in die Vorlesungen oder in die Bibliothek die einzige Möglichkeit war, der Enge zu entrinnen. Er war froh, wenn das erste Seminar am Morgen begann, und gehörte immer zu den ersten Studenten im Raum. Und auf dem Weg zur Uni machte er stets einen kleinen Umweg, um sich an der frischen Luft noch die Zeit zu vertreiben und hing dabei seinen Gedanken nach.

Auf eine bedrückende Weise war die Enge seines Wohnheimzimmers ein Teil seines Lebens, das schnurgerade verlief. An diesem Morgen wunderte er sich über diese Parallelität und darüber, dass es ihn immer wieder in dieselben Situationen zurückwarf. Warum hatte er bereits in der Schule ein Nischendasein geführt, weit entfernt von der Gruppe der beliebtesten Mitschüler, denen er sich doch so gern angeschlossen hätte? Warum packten ihn andere immer wieder in die Schublade der Bedeutungslosigkeit, genauso wie er sich jeden Abend freiwillig in die untere Hälfte des Doppelstockbettes legte?

In der Schule war er Klassenbester, besonders in den Naturwissenschaften. Die Mathematik hatte er mit Leichtigkeit durchschaut. Die anderen kamen zu ihm, wenn sie Hilfe brauchten. Doch wenn sie Spaß haben wollten, dann ließen sie ihn in der Ecke stehen, und er hatte sich stets gefügt. Er war hilfsbereit, in der Freizeit drückte er sich die Wände entlang. Und nun absolvierte er genauso diszipliniert – wie früher die Schule – sein Studium. Es würde ihn keine große Mühe kosten, ein guter Informatiker zu werden, und wenn er erst einen Job hatte, dann würde er so viel verdienen, dass sich ein gutes Leben ganz von selbst ergab und vielleicht eine Frau, eine Familie und zwei Kinder, für die er dann die wichtigste Person im Leben wäre.

Doch an diesem Morgen überkamen ihn Zweifel. Wo blieb auf dieser vorbestimmten Linie die Lebenslust, das Abenteuer und das Unwägbare, das den Tag zu einem spannenden, flirrenden Ereignis machte? Sollte es einfach immer so weitergehen bis zur Rente? Und was kam danach? Missmutig stieß er eine Weile einen Kiesel auf den Gehwegplatten vor sich her und beobachtete, wie viele Felder er schaffte, ohne nach links oder rechts abzudriften.

Als er den Kopf wieder hob, sah er plötzlich das blonde, locker nach hinten gebundene Haar einer Studentin vor sich. Die schlanke Mädchengestalt trug Jeans und einen blauen langen Jeans-Parker darüber. Lässig schlenkerte an ihrer Seite eine typische Studententasche, in die Hefter und Bücher passten.

‚Alex!‘, dachte er und betrachtete aufmerksam den burschikosen Gang, mit dem sie auf die Ampel vor der Universität zusteuerte. Die zeigte Rot, und Tilo blieb einige Meter hinter seiner Kommilitonin stehen.

Sie war ihm gleich am ersten Tag aufgefallen, eine für das Fach viel zu hübsche Studentin, die selbstbewusst erzählte, dass sie eigentlich Ethnologie studieren wolle, und dass sie ihr Informatikstudium nur ihren Eltern zuliebe begonnen hatte. Wie zu erwarten, hatte sie Probleme im Studium. Zwar brachte sie in den Mathematikseminaren die Leistungen wie die besten Mitschülerinnen seiner ehemaligen Klasse, aber sie schien überhaupt keinen Zugang zur Informatik selbst zu haben.

Tilo musste über die Naivität, mit der sie das Studium anging, lachen. Er selbst besaß seit mehreren Jahren einen Computer und hatte einige seiner Anwendungen selbst programmiert. Ja, er hatte sogar kleine Programme verkauft. Sein Zimmer zu Hause bei seinen Eltern war ganz auf Computertechnik ausgerichtet. Dort standen aufgeschraubte Gehäuse, es lagen Bauteile und Werkzeuge herum, und jeder sah dem Zimmer an, dass hier jemand wohnte, der seine ganze Freizeit damit verbrachte, an seinem Computer zu basteln und alte mit neuer Technik aufzurüsten. In Alex’ Kinderzimmer stand bestimmt nur Belletristik, und er hatte ihr vor einigen Wochen erklären müssen, wie sie den Computer im Pool hochzufahren hatte. Sie hatte bislang kaum mit Computern zu tun gehabt, außer in der Schule, wo sie einfache Additionsprogramme mit Basic geschrieben hatte. ‚Lächerlich!‘, dachte er.

Doch dann betrachtete er ihr wildes Haar, und ihm wurde klar, dass sie in den Händen trug, was er so schmerzlich vermisste. Sie war Leben! Die Leidenschaft, mit der sie von ihren Plänen in der Ethnologie berichtete und die Vorstellung, sie würde einst wirklich in einem Dorf irgendwo auf der Welt und weit weg von hier mit den Einheimischen reden und die Geschichten aufschreiben, die sie zu erzählen hatten, reizte ihn plötzlich, dass es ihn wie ein Blitz durchfuhr. In diesem Augenblick schaltete die Ampel auf Grün, eilig folgte er Alex in wenigen Metern Abstand, bis sie plötzlich an der Litfaßsäule stehen blieb und begann, ein Plakat mit einer Konzertankündigung zu studieren. Auch Tilo blieb stehen, dann entschloss er sich.

„Alex!“, rief er und ärgerte sich über die Unsicherheit in seiner Stimme. Sie drehte sich um und sah ihn erst verblüfft und dann über das ganze Gesicht strahlend an.

Sie hatte sein Zittern wohl nicht bemerkt. Kurz entschlossen gab er sich einen Ruck und reichte ihr die Hand: „Na, auf dem Weg zum Pascal-Seminar?“

„Ja, aber wir haben noch Zeit!“

Tilo nickte und betrachtete neben ihr das Plakat. Er selbst war stets an der Litfaßsäule vorbeigeeilt, ohne sich nach den Ankündigungen umzusehen. War das ein Fehler? Und während er mit Befremden das Foto der Band musterte, schien Alex plötzlich das Interesse an dem angekündigten Konzert verloren zu haben.

„Ich kriege schon wieder Bauschmerzen, wenn ich an das Seminar denke. Im Prinzip müsste ich schon programmieren können. Es wird einfach vorausgesetzt.“

Tilo nickte. Er wusste, dass Alex’ Chancen, das Studium zu bestehen, schlecht waren. Doch offen wollte er das nicht aussprechen, deshalb hörte er ihr weiter zu.

„Leider habe ich überhaupt keine Ahnung von den Programmiersprachen, die wir können sollten. Ich habe ja nicht mal einen Computer, um mir selbst etwas beizubringen.“

„Du solltest einfach einen Einführungskurs besuchen“, erwiderte er, obwohl er zweifelte, ob das in ihrem Falle helfen könnte. Ein Mädchen wie sie gehörte nicht in die Informatik. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Alex – mit ihrer Lebenslust – Stunden vor dem Computer sitzen würde, um Programme zu schreiben, die dann auch noch die Qualität hatten, um damit Geld zu verdienen.

„Ich habe Rowold schon gefragt. Er hat nur geantwortet, ich solle mich selbst einarbeiten. Einen Anfängerkurs könne er nicht anbieten, weil die meisten Studenten schon programmieren könnten. Er müsse sich nach der Mehrheit richten.“

„Das ist ja eine Frechheit!“ Tilo staunte über Rowolds Ignoranz. Doch dann sah er eine unwiederbringliche Gelegenheit gekommen. Das war seine Chance, Alex kennenzulernen.

„Besuch mich doch mal. Dann können wir die Hausaufgaben durchsprechen. Vielleicht kann ich dir auch irgendwann mal eine kleine Einführung in Pascal geben, die Sprache kenne ich gut. Aber erhoffe dir nicht zu viel. Man muss lange arbeiten, um Programmieren zu lernen, und dazu brauchst du einen Computer.“

Glücklich nahm er ihr Lächeln entgegen, und um seinen Plan zu besiegeln, fügte er hinzu: „Komm doch nächsten Freitag bei mir vorbei. Ich fahre übers Wochenende nicht nach Hause. Ich habe Zeit.“

3

Zwei Wochen hatte die Entscheidung des BAföG-Amtes gedauert und nun erfuhr sie, dass ihr Antrag auf Bundesausbildungsförderung abgelehnt wurde, da der Betrag, der ihr nach der Verrechnung der Einkommen ihrer Eltern zustehe, fünfzig D-Mark nicht überschreite.

Alex hatte als Kind der DDR nie über Geld nachdenken müssen. Geld war einfach da gewesen, wenn man auch manches dafür nicht kaufen konnte. Wovon sollte sie nun leben? Ihre Eltern hatten ihr zugesagt, ihr monatlich dreihundert Mark zu überweisen und sich darüber hinaus abhängig zu machen, das kam für Alex nicht infrage, sie war zu stolz, um mehr Geld zu bitten.

Nur allzu gut erinnerte sie sich daran, wie sie im Sommer ihre Zukunftspläne gestanden hatte.

„Ich werde in Linden studieren“, hatte sie knapp erklärt und mehr eine Information gemeint als eine Absprache in der Familie.

Mit versteinerten Mienen hatten sich ihre Eltern angesehen, eine Weile geschwiegen, dann hatte der Vater gesagt: „Es ist besser, wenn du hier Informatik studierst und bei uns wohnen bleibst.“

Dieser Satz hatte ihr die Kehle zugeschnürt. Mit achtzehn Jahren wollte sie ihr Elternhaus verlassen.

„Nein, ich werde nach Linden gehen. Ich möchte als Nebenfach Ethnologie studieren!“ Trotzig war ihre Antwort gewesen.

„Ethnologie?“ Wie erwartet, hatte sich ihre Mutter entsetzt gezeigt. „Das Studium ist kein Spaß! Du sollst einen Beruf für deine Zukunft lernen!“

„Wo ich studiere, das ist meine Entscheidung!“

„Mit deinen Träumereien kannst du dich später nicht ernähren!“

Und zu Alex’ Überdruss erklärte sie, wie stets in solchen Diskussionen: „Ich habe Jahre daran gearbeitet, dass ich jetzt einen guten Verdienst habe! Und sicher ist meine Arbeit noch lange nicht. Nichts ist mehr sicher!“

„Ja, Mama, ich weiß, du hast dich selbst weitergebildet und wurdest deswegen genommen. Ich weiß! Du hast mir das schon zwanzig Mal erzählt. Aber ich möchte nun mal Ethnologie studieren, wenigstens als Nebenfach.“

Ihre Mutter, das mathematische Talent der Familie, hatte sich nach einem Pädagogikstudium autodidaktisch das Programmieren beigebracht. Doch Alex hatte ihr Talent nur zum Teil geerbt.

„Du hast doch selbst gesagt, heute ist nichts mehr sicher. Selbst wenn ich Informatik als Diplom studiere, muss ich nicht unbedingt einen Job bekommen. Du hattest doch auch nur Glück! Zwei Drittel deiner Abteilung wurden abgewickelt.“

„Gerade deshalb musst du studieren, was auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist!“, dozierte ihre Mutter hartnäckig, und wie erwartet, kam ihr der Vater zu Hilfe.

„Was willst du denn mit – Ethnologie?“ In seiner Stimme lag ein abfälliger Ton. „Du studierst etwas Ordentliches, damit du später Arbeit findest. Wir können dich nicht ewig ernähren.“

Müde hatte er mit seinem Finger gewedelt und den Kopf geschüttelt, eine hilflose Geste, wie Alex erstaunt festgestellt hatte.

„Deshalb studiere ich Informatik als Hauptfach.“ Dann war sie vom Abendbrottisch aufgestanden und demonstrativ in ihr Zimmer gegangen.

Kurz darauf hatte ihr der Vater einen Zeitungsausschnitt unter die Nase gehalten. „Wenn du dich nicht belehren lässt, dann will ich dich darauf hinweisen, dass wir von Gesetzes wegen nicht verpflichtet sind, dir Unterhalt zu zahlen, wenn du in Linden ein Studium beginnst, das du auch in deiner Heimatstadt absolvieren kannst.“

Und nun war ihr BAföG-Antrag abgelehnt. Alex grübelte. Ihr Vater sparte auf einen Neuwagen, und da war ja auch noch ihre kleine Schwester. Erst seit zwei Monaten hatte er wieder einen Job. Den Schock hatte sie nicht vergessen, als er 1990 völlig deprimiert nach Hause gekommen war und seiner Familie mitgeteilt hatte, dass sein Betrieb abgewickelt und er entlassen worden sei. Doch das war noch nicht der härteste Schlag. Wenige Wochen später erzählte er, dass im Gebäude seiner ehemaligen Firma jetzt das Arbeitsamt untergebracht sei. In derselben Etage, in der sein Büro gelegen hatte, saß nun seine Arbeitsvermittlerin, nur ein paar Türen weiter.

Und Alex dachte an die groteskeste Ironie, die die Arbeiterstadt Sachsens mit der Ansiedlung ihres Arbeitsamtes ausgebrütet hatte. War das die Absicht einiger ehemaliger Parteigenossen gewesen, oder war es doch nur Zufall? Jedenfalls wurden einige Jahre die Büros der Arbeitsvermittler im Gebäude der ehemaligen SED-Bezirksleitung, hinter dem überdimensionalen Karl-Marx-Kopf untergebracht. Blickte man damals auf die Fassade hinter dem „Nischel“, dann sah man in großen roten Lettern Logo und Schriftzug des Arbeitsamtes und rechts daneben das riesige Relief, das in deutscher, englischer, französischer und russischer Sprache einen Satz aus dem Kommunistischen Manifest zitierte: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ ‚Das habt ihr nun davon!‘, hieß das Bild für Alex ins Alltagsdeutsch übersetzt, und sie musste jedes Mal grinsen, wenn sie daran vorbeilief.

Als Alex früher ihren Vater im Betrieb besucht hatte, hatte sie immer über die großen Reißbretter der Konstrukteure mit den feinen, detaillierten Bleistiftzeichnungen gestaunt. Er selbst hatte während der Arbeit aufrecht an einem der tafelgroßen Bretter mit beweglichen Winkellinealen gestanden und akkurat und sauber Teile von Drehmaschinen gezeichnet, die er dabei quasi erfand.

Eigentlich war er in Alex’ kindlicher Fantasie ein Erfinder gewesen, und sie war stolz auf ihn, wenn er ihr von seinen Patenten erzählte. Doch diese Reißbretter und das Zeichnen an ihnen waren längst überflüssig geworden. Seit zwei Jahren arbeitete er mit Konstruktionsprogrammen am Computer.

Kurz überschlug sie ihre Ausgaben. Das Doppelzimmer im Wohnheim kostete hundert Mark im Monat. Das hieß, sie hatte zweihundert Mark für andere Ausgaben zur Verfügung, fünfzig Mark pro Woche. Das war eindeutig zu wenig. Der einzige Ausweg war ein Job.

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