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Blackout

H. K. Ysardsson

Schrilles Läuten des altertümlichen Weckers riss sie aus dem Schlaf. Mit geschlossenen Augen tastete sie nach dem Ungetüm und schlug energisch mit der Hand drauf. Es gab noch einen klagenden Misston von sich, dann war es leise und Hannah blinzelte verschlafen. Im Haus war es noch finster. Neben ihr schnarchte Rainer. Sein Smartphone würde erst in einer halben Stunde ein Signal von sich geben.

Warum ist es so dunkel? Hannah streckte sich und schälte sich aus dem Bettzeug, um ins Bad zu schlurfen. Auch hier ging kein Licht an. Gibt es einen Stromausfall? Das würde erklären, warum im Haus die Rollläden noch nicht hochgezogen waren. Ebenso fehlte ihr der Duft des frischen Kaffees. Dafür zog ein eigentümlicher Geruch, den sie nicht zuordnen konnte, von unten hoch. Sie ignorierte es und freute sich an den Segnungen des Smarthomes, die sie in wenigen Minuten zurückerwartete. Wie lange kann so ein Stromausfall schon dauern? Sie drehte die Dusche auf und wartete auf warmes Wasser. Es kam keines, auch kein kaltes. Die Bewegungsmelder reagierten nicht, die Armatur reagierte nicht. Genervt drehte sie den Wasserhahn wieder zu.

»Rainer! Der Strom ist ausgefallen!«, rief sie auf halbem Weg zurück ins Schlafzimmer. Es kam keine Antwort. »Rainer! Steh auf, wir haben einen Stromausfall!«, schrie sie ihn an, während sie ihn heftig an der Schulter rüttelte.

»Ich schnarche nicht«, nuschelte er, grunzte und drehte sich zur Seite.

»Verdammt, kein Strom, Rainer!« Dieses Mal war sie schon lauter. Es war immer dasselbe mit ihm. Rainer wach zu bekommen, war mühselig und barg das Risiko, sich seiner schlechten Laune auszusetzen.

»Kein Internet!«

Das riss ihn aus dem Schlaf. Kaum hatte sie das Zauberwort ausgesprochen, saß er mehr oder weniger aufrecht da und starrte sie an. Hannahs Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt und sie konnte Umrisse erkennen.

»Wie, was meinst du? Kein Internet?«

»Kein Strom im Haus«, erwiderte sie im Tonfall der Lehrerin, die ihrem Schüler eine einfache Tatsache erklärt, die er eigentlich wissen sollte.

»Das kann nicht sein. Du hast bestimmt etwas falsch gemacht.«

»Klar, immer ich. Ich hab gar nichts gemacht. Schau doch selbst, wenn du mir nicht glaubst. Die Rollläden sind noch unten, kein Wasser …«

»Du musst die Temperatur nur richtig einstellen, wahrscheinlich hast du …«

»Jetzt hör mir doch mal zu und schalt dein Hirn ein!«

»Warte«, brummelte Rainer und stand ebenfalls auf. Das musste er seiner Frau beweisen. Nur mit Boxershorts bekleidet, schritt er zuerst ins Bad. Auch er bemerkte das fehlende Licht und später, dass es kein Wasser gab. Er mutmaßte, dass der Sicherungshauptschalter gekippt war. Entschlossen, das Problem sofort zu beheben, kehrte er ins Schlafzimmer zurück, holte sein Smartphone und schaltete die integrierte Taschenlampe ein. Damit ging er zum Sicherungskasten. Alles war in Ordnung. Mehrmals betätigte er den Schutzschalter. Kein Strom.

»Fuck! So eine gottverdammte Scheiße! Wie soll ich dann bitte die Präsentation fertig bekommen?«

Unten bekam er keine Antwort auf diese Frage, also kehrte er ins Schlafzimmer zurück. Dort stand Hannah und grinste verhalten. Sie wusste, dass sie jetzt besser schwieg.

Wütend schnaubte er. Bevor er etwas sagte oder tat, schlüpfte er in Hose und T-Shirt, anschließend stellte er die Weckfunktion ab und vorsorglich auch die Taschenlampe.

»Ich rufe beim Stromanbieter an. Hast du die Nummer?«

»Hm? Ich? Nein, du hast das alles.«

»Gut, ich suche sie selbst. Mach du Kaffee … Nein, der Scheiß geht ja auch nicht, dann richte eben ein kaltes Frühstück. Und such ein paar Kerzen. Ich ruf beim Anbieter an. Das Problem wird bestimmt gleich behoben sein.«

Rainer war ganz der befehlende Optimismus, etwas, das Hannah nervte. Trotzdem ging sie in die Küche und wollte sich um ein mickriges Frühstück kümmern.

Das Surren des Kühlschranks fehlte ihr. So zielstrebig es in der Dunkelheit möglich war, ging sie durch die Küche, streckte schon die Hand nach der Tür aus, da trat sie in etwas Nasses. Angewidert sprang sie zurück.

»Igitt! Was ist das?« Gleich darauf bemerkte sie die Bescherung: Der Gefrierschrank mit all seinen Köstlichkeiten war abgetaut.

»Was ist denn jetzt los?«, brüllte Rainer von oben.

»Nichts, ruf bei denen an und sag ihnen, sie sollen sich beeilen, bei uns taut der Gefrierschrank!«

»Verdammt! Bin gleich unten!«

Sie fragte sich, was er gegen das Tauwasser unternehmen wollte. Doch schon hörte sie seine schweren Schritte auf der Treppe und kurz darauf betrat er die Küche, das Telefon am Ohr und mitten im Gespräch.

»Wir haben keinen Strom, was ist da los? – Wie? Wie lange? Wir … äh, ja. Ja. Kann jemand kommen? Smarthome. Blöd? Warum blöd? Sie wissen nicht … Wissen Sie überhaupt etwas? Gibt es denn keine Notstromversorgung? Wie? Nein, habe ich noch nicht. Ja, mache ich. Danke.«

Hannah hatte das Gespräch gespannt mitverfolgt aber nur die Hälfte davon verstanden. Die Körpersprache ihres Mannes konnte sie an diesem Morgen nicht deuten. Normalerweise erkannte sie Anzeichen schlechter Laune und ging ihm dann aus dem Weg. Doch an diesem Tag war alles anders. Sie sah zu wenig und er bewegte sich wie ein Holzpflock. Lediglich an der Stimmlage merkte sie, dass er verärgert war.

»Was ist jetzt, Rainer?«

»Anscheinend ein Blackout. Wir sollen die Nachrichten am Smartphone lesen oder ein batteriebetriebenes Transistorradio anstellen. Laufend werden Verhaltensregeln durchgegeben. Anscheinend soll das aber bald behoben sein.« Noch während er redete, tippte und wischte er auf seinem Telefon herum, bis er das Gewünschte gefunden hatte. Hannah konnte nur sein »Hm« hören, denn in ihrem Kopf geisterte die abgetaute Gefriertruhe. Genießbar war vom Inhalt bestimmt nichts mehr; vielleicht noch die halbe Torte, die sie von ihrem letzten Besuch bei Tante Hilde mitgenommen hatte.

Rainer setzte sich an den Tisch und gab nichts anderes als verärgerte Geräusche von sich. Das hielt Hannah nicht aus, sie wollte selbst wissen, was los war und lief ins Wohnzimmer, wo ihr Smartphone lag. Hastig entsperrte sie es, ignorierte die entgangenen Anrufe und widmete sich den neuesten Nachrichten. Sie berichteten von einem europaweiten Blackout. Die Bevölkerung solle sich im Haus aufhalten und auf Hilfe warten. Die Regierung arbeite mit Hochdruck an einer Lösung des Problems.

»Na toll«, murmelte sie, dann rief sie bei ihrer Mutter an, doch sie bekam kein Freizeichen. Natürlich, die alte Dame hatte noch ein Festnetztelefon, eines der letzten existierenden Exemplare. Also wählte Hannah die Nummer einer Nachbarin ihrer Mutter und bat sie, sich um die alte Frau zu kümmern, bis sich die Lage normalisiert hatte.

»Und jetzt gibt es Frühstück. Wir können es eh nicht ändern, Rainer.« Sie gab sich optimistischer, als sie sich fühlte. »Mit Mutti hab ich alles geregelt, da kümmert sich die Nachbarin. Wie wäre es mit Torte und Saft?«

»Wie? Spinnst du? Du kannst doch nicht zur Tagesordnung übergehen!«

»Sicher kann ich das. Die werden das Problem bald lösen und in ein, zwei Stunden läuft alles wie immer. Den Gefrierschrank muss ich nur sauber machen und den Kühlschrank. Aber danach können wir die freie Zeit doch etwas genießen.«

Hannah sah nicht ein, sich alles vermiesen zu lassen. Nun da sie wusste, was los war und an einer Lösung gearbeitet wurde, entspannte sie sich langsam.

Aus dem Gefrierschrank roch es Übelkeit erregend nach dem aufgetauten Fisch, den Rainer erst vor ein paar Tagen aus dem nahen Fluss geangelt hatte. Sie hielt die Luft an, griff die Torte und schloss den Schrank rasch wieder. Der Gestank des Siffs, der den Boden verunstaltete, reichte ihr allemal, war aber noch angenehmer als der offene Tiefkühler. Der Kühlschrank gab noch eine halbe Packung lauwarmen Orangensaft her.

Den Tisch zu decken, dauerte etwas länger, weil sie erst nach den Kerzen suchen musste. Am Ende sorgte eine Friedhofskerze für Licht.

»Sieht doch gleich freundlicher aus, findest du nicht? Aber es wird langsam etwas frisch hier drinnen«, meinte sie nach getaner Arbeit. Rainer reagierte nicht.

»Mensch, Rainer, jetzt mach nicht so ein Gesicht. Das ist bestimmt bald vorbei, du hast es selbst gesagt. Erst frühstücken wir, dann ziehen wir uns warm an und machen einen Spaziergang. Nutzen wir die Zeit doch für uns.«

Rainer lachte freudlos. »Du hast vergessen, dass die Haustür automatisch auf- und zugeht. Sie hängt am Stromnetz. Wir sitzen fest, bis der Blackout vorbei ist.« Seine Stimme war leiser als normal, auch seine Haltung wirkte zusammengesunken. Hannah fand, dass sie ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt hatte. Seine Worte und sein Anblick drückten ihre Laune zurück in den Keller. Daran hatte sie nicht gedacht. Es war so eine praktische Tür, besonders, wenn sie schwerbeladen vom Einkaufen kam oder noch diverse Unterlagen, Ordner und Kisten von der Arbeit mitbrachte, die sie zuhause abarbeiten wollte. Einfach Tür auf sagen und die Stimmerkennung erkannte sie und öffnete. Jetzt war das sehr unpraktisch. Gewiss löste sich alles bald auf. Bis der Strom wieder lief, mussten sie sich eben mit etwas anderem beschäftigen, irgendetwas würde ihr schon einfallen. Sie versuchte, optimistisch zu bleiben.

Die Stunden schlichen dahin. Rainer suchte nach alternativen Lösungen, während Hannah den Gefrierschrank leerräumte und reinigte. In der Küche stank es fürchterlich. Das hielt der empfindliche Magen ihres Mannes nicht aus. Unauffällig verzog er sich in sein Arbeitszimmer. Wenigstens eine Weile konnte er sich am Laptop ablenken, doch sobald der Akku leer war, kehrte er zurück.

»Hier stinkt’s ja noch immer wie auf dem Fischmarkt!« Angewidert wedelte er mit der Hand vor dem Gesicht.

»Kein Wunder, ich kann nicht lüften! Wir brauchten ja unbedingt die stabilen, einbruchssicheren Fenster, die sich nicht öffnen lassen, weil die Wohnraumlüftung für Frischluft sorgt … sehr smart, mein Junge!« Ein mordlüsterner Blick traf ihren Mann. »Ist der Akku deines Laptops leer?«

»Frag nicht so blöd. Wäre ich sonst hier? Es ist richtig langweilig mit dir.«

»Mann, dann tu doch was! Lies ein Buch oder putz den Wohnzimmerschrank! Sortiere deine Klamotten aus oder was auch immer, aber geh mir nicht auf die Nerven! Du siehst doch, dass ich hier viel zu tun habe!«

Schon jetzt, nach nur wenigen Stunden, war die Stimmung im Haus angespannt. Aber Rainer ging tatsächlich und nahm ihren Vorschlag mit dem Schlafzimmer auf. Hannah blieb in der Küche und putzte weiter. Einfach aufsprühen und wischen, wie in der Werbung. Das Ergebnis konnte sie nicht sehen, aber riechen. Zum Fischgeruch gesellte sich jetzt der künstliche Lavendelduft, der ihrem Lieblingsreiniger beigemengt war.

»Blackout … Es ist ein absoluter Supergau«, murmelte sie. Die Anspannung durch die aktuelle Lage, addiert mit dem Gestank, bereitete ihr Kopfschmerzen. Verärgert warf sie den Lappen auf die Theke und ging ins Wohnzimmer, wo sie sich auf das breite Sofa fallen ließ. Hierher war der Mief noch nicht gezogen, aber es wurde langsam kühl. Sie zog sich eine Kuscheldecke heran und machte es sich gemütlich. Jetzt einen Film schauen. Ihr Blick richtete sich auf den überbreiten Flatscreen, der an der Wand ihr gegenüber befestigt war. Doch dort tat sich nichts. Sie schloss die Augen und schlief prompt ein.

Lautes Lachen von oben weckte sie. Warum lacht Rainer? Er lacht doch nie. Ihr Hirn war noch träge vom Schlaf, deshalb sagte sie sich dann auch, dass sie das geträumt haben musste. Dann hörte sie das Gelächter erneut. Jetzt stand sie auf und ging hoch.

»Was ist los?«, fragte sie ihn, doch er deutete nur auf ein altes Fotoalbum und winkte sie zu sich heran.

»Weißt du noch?« Feixend hielt er ihr das Buch unter die Nase. Sie nahm es, setzte sich zu ihm und grinste ebenfalls. Eine ihrer ersten Reisen, kurz nachdem sie sich kennen gelernt hatten. Damals hatten sie viel Unsinn zusammen angestellt und Mallorca durchwandert. Bald schon schwelgten sie in Erinnerungen und vergaßen die prekäre Situation für eine Weile.

Stunden später waren die Fotoalben angeschaut, der Weinvorrat geschrumpft und die Kerze heruntergebrannt. Noch vor wenigen Minuten hatte Hannah herzlich über die alten Bilder gelacht, jetzt weinte sie.

»Ich will aus diesem verdammten Haus.« Durch ihr Schluchzen war sie kaum zu verstehen. »Wie lange dauert das noch?«

»Nicht mehr lange. Es kommt uns nur so vor, weil wir nichts tun können«, erwiderte Rainer. Um sie zu beruhigen, nahm er sie in den Arm und küsste sie. Plötzlich herrschte eine knisternde Intimität zwischen den beiden, wie seit Jahren nicht mehr.

Draußen brach ein weiterer Tag ihrer Isolation an, doch sie wussten es nicht. Die Zeit, die sie allein im dunklen Haus verbrachten, dehnte sich. Eine Minute fühlte sich wie Stunden an. Keine Änderung war in Sicht.

Mehr und mehr strapazierte Rainer Hannahs Nerven. Sie hatte nicht gewusst, dass er so laut atmete oder die Füße beim Gehen nicht richtig anhob, sondern mehr schlurfte als ging. Aber es war nicht nur das. Auch sein Geruch störte sie plötzlich, sogar seine Stimme. Jetzt saß er wenigstens in seinem Arbeitszimmer und belästigte sie nicht mit seiner Anwesenheit. Sie konnte ihn hören, wie er in alten Akten kramte und schimpfte.

»Hannah!«, brüllte er. Erschrocken über den plötzlichen Lärm, zuckte sie zusammen. »Schau mal auf deinem verfickten Handy, ob du irgendetwas Neues erfahren kannst!«

Als ob ich noch ausreichend Saft auf meinem Smartphone hätte. Aber sie probierte es trotzdem. Kein Strom, kein Internet, keine Nachrichten. Sosehr sie sich auch darum bemühte, das Telefon zu starten, das Display blieb schwarz.

»Der Akku ist leer«, erwiderte sie leiser.

Langsam wurde die Sache ungemütlich. Während der zahlreichen Corona-Lockdowns, damals war sie ein Kind gewesen, konnte sie auch nicht alles tun. Zu der Zeit durfte sie weder Kindergarten noch Freunde besuchen. Aber sie ging wenigstens mit ihrer Mutter spazieren und war vor allen Dingen nicht in einem abgedunkelten Haus eingesperrt. Sie hatten Fernsehen, Internet und konnten jederzeit mit anderen Leuten reden, zwar oft nur über den Balkon, aber immerhin.

Jetzt war jede Kommunikation nach außen weg. Ihr blieb nur Rainer. Diese Erkenntnis frustrierte sie.

»Du blöde Kuh!«, blaffte er sie zornig aus dem Arbeitszimmer heraus an.

Als ob ich etwas für die Umstände kann!

In ihren Gedanken kreisten verschiedene Krimis und Thriller, die sie in der Vergangenheit gelesen hatte. Sogar auf diese schöne Beschäftigung musste sie verzichten; es war zu dunkel dazu und Licht hatten sie keines mehr. Die Taschenlampe war im Auto, das vor dem Haus stand. Ihr war zum Heulen zumute.

Wie lange waren sie nun schon zusammen eingeschlossen? Hatte es jemals zu ihren Wünschen gehört, mit ihrem geliebten Rainer auf einer einsamen Insel oder wochenlang in einem Hotelzimmer eingesperrt zu sein? Zerknirscht gestand sie sich ein, dass das vor langer Zeit zu ihren schönsten Träumen gehört hatte. Natürlich war das der ersten Verliebtheit geschuldet gewesen. Rainer verhielt sich früher auch ganz anders, musste sie einräumen. Damals hatte er sie nie angebrüllt oder beschimpft. Wenn sie jetzt daran zurückdachte, hörte sie seine angenehme Stimme, doch wurde sie vom älteren Rainer überlagert. Die Liebe hatte sich in der Dunkelheit aufgelöst. Oder es kam ihr erst jetzt so richtig zu Bewusstsein.

»Alter Besserwisser, du gehst mir so was von auf den Geist«, murmelte sie, während sie mit dem Fleischmesser das hart gewordene Brot bearbeitete. Mit der Nahrung sah es schlecht aus. Das Zeug aus der Tiefkühltruhe stank in einem Müllbeutel in der Küche vor sich hin. Sie wollte es nicht einmal mehr anfassen, so sehr ekelte sie sich davor. Dann hatte auch noch ein Riss im Beutel dafür gesorgt, dass der Dreck auf den Boden tropfte. Ihre schöne Küche wurde zum Horror. Der Kühlschrank war leer und roch eigenartig. Nudeln brachten nichts, wenn man sie nicht kochen konnte, das gleiche galt für Reis.

»So ein Scheiß auch!« Mit diesem Ausruf warf sie das Messer zornig von sich. Erst traf es das einbruchsichere Fensterglas und landete anschließend mit einem metallischen und lauten Klang auf dem Küchenboden. Danach kam ihr die Stille im Haus noch bedrohlicher vor. Die einzelne Kerze, die fast heruntergebrannt auf dem Esstisch stand, verbreitete ein unheimliches Licht.

War da etwas an der Tür? Ein Schaben, ein Kratzen oder gar ein Klopfen? Ihr Herz raste. Einen Moment setzte ihr Atem aus. Sie lauschte. Aber da war nichts mehr. Was wenn die Rettung schon wieder weg ist? So schnell es ging, rannte sie los und hielt erst an der massiven Haustür an.

»Hallo? Ist jemand da draußen? Können Sie mich hören?«, rief sie, gleichzeitig hämmerte sie mit den Fäusten dagegen. »Helfen Sie uns! Wir sind hier eingeschlossen!«

Die einzige Reaktion war Rainer, der angelaufen kam, sie grob an den Schultern packte und von der Tür wegriss.

»Hör auf, das hat keinen Zweck. Das Haus ist schalldicht isoliert, wir wollten es hier ruhig haben. Hast du das vergessen?«

Tränen traten ihr aus den Augen. Zornig riss sie sich von ihm los und hämmerte erneut gegen die Tür. »Lasst uns hier raus!«

Heftiges Schütteln brachte sie für einen Moment zur Besinnung. Fassungslos schaute sie ihren Mann an.

»Du Riesenarschloch! Tu doch endlich etwas, wo du sonst auch immer alles weißt!«, brüllte sie ihn an, dabei schlug sie ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. »Tu was!«

Jetzt, wo es nötig ist, tut er gar nichts. Das ärgerte sie. Dazu kam ihre stärker werdende Angst.

Nachdem sie ihn geschlagen hatte, ging Rainer einfach weg. Er sagte nichts und tat nichts, sondern schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein.

»Anscheinend genießt du das noch!« Sie schickte ihm eine Reihe Schimpfnamen hinterher, ehe sie schluchzend an der Tür zu Boden rutschte.

Dieses Haus war eine Falle! Nichts anderes. Sie hörte Rainers Schritte. Mal ging er hierhin, mal dorthin. Irgendetwas murmelte er dabei vor sich hin. So sehr sie sich auch anstrengte, was er sagte, blieb ihr verborgen. Wie konnte sie seine tiefe, raue Stimme jemals anziehend finden? Es reichte schon zum Ausrasten, wenn er nur ihren Namen rief. Sie versteckte sich vor ihm, das war bei der Dunkelheit nicht allzu schwer. Rainer musste weg. Er war ein Problem.

Ihre Mutter hatte recht behalten, Rainer ging es nur ums Geld. Sie musste sparen und er protzte nach außen hin. Wenn es nur das wäre. Sie seufzte vernehmlich, biss danach die Zähne fest aufeinander, dabei zogen sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Nie wieder würde sie sich ungefragt die Welt erklären lassen! Das war das Schlimmste an ihrer Beziehung. Ich bin klug und brauche keinen Mann, der mir sagt, wo es langgeht. Diese Zeiten sind schon lang vorbei. Kapier das endlich, Rainer!

In ihrem vor Angst umnebelten Hirn keimte ein Plan. Erst waren es nur Mordgedanken, doch jetzt wurden sie konkreter. Rainer tat nichts, um ihr zu helfen. Er hatte sie geschüttelt, ihr wehgetan, nahm ihre Angst nicht ernst. Das musste Konsequenzen haben. Aber das brauchte Zeit. Wenn er nicht mehr war, hatte sie mehr Vorräte und vor allem gehörte dann alles ihr und sie konnte sagen, wo es langging.

Was tut er eigentlich die ganze Zeit in seinem Büro?, fragte sie sich. In ihr wuchs der Verdacht, dass er mit Licht gesegnet war und sie einfach im Dunkeln sitzen ließ. Am liebsten hätte sie sofort gehandelt, aber etwas bremste sie aus.

Ist das nicht wieder diese Stimme? Hannah lauschte. Aus dem Zimmer ihres Mannes drang ein Laut, der entfernt an die Sendersuche eines altertümlichen Radios erinnerte. Ihr Großvater hatte so eines besessen, aber das war lange her. Wieder rauschte es. Neugierig ging sie auf die Tür zu und presste ein Ohr gegen das Türblatt. Als sie die Stimme einer Frau hörte, riss sie die Tür auf und starrte in die Dunkelheit des kleinen Raums. Rainer hatte ein Radio und ihr nichts davon gesagt! Woher hat er es und vor allem die Scheißbatterien? Wo es vorher in ihr nur gekocht hatte, tat sich nun ein loderndes Flammenmeer auf.

»Du mieses Dreckschwein, amüsierst dich hier mit dieser Radiotussi …« Ihre Zurechtweisung verhallte ungehört, denn er unterbrach sie grob.

»Halt die Klappe, eine Regierungsmeldung. Sei ja still!«

Die Worte trafen Hannah wie eine Ohrfeige, das Schweigen war eher Gewohnheit, wenn er etwas befahl. Doch dieses Mal war es besser, dass sie nichts sagte und zuhörte.

»Heute Mittag ließ das Innenministerium mitteilen, dass eine verbindliche Ausgangssperre beschlossen worden ist. Das betrifft auch die Beschaffung von lebensnotwendigen Gütern. Sollten Sie Medikamente oder Lebensmittel benötigen, bittet Sie die Regierung um Geduld. Das Militär ist bemüht, die vorgesehenen Rationen so rasch wie möglich an die Bürger zu verteilen. Bleiben Sie in Ihren Häusern oder Wohnungen, dort sind Sie vor der Strahlung sicher. Die Trinkwasserqualität ist nach wie vor nicht gefährdet. Das Institut für Strahlenschutz und Dosimetrie liefert stündlich neue Daten, bisher zeigt sich leider keine wesentliche Änderung. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass nach dem nächsten heftigen Regenfall die Strahlenbelastung erheblich sinken wird. Wir melden uns wieder zur vollen Stunde.«

Kein Wort über den Blackout. Hannah runzelte die Stirn. Strahlenbelastung, Ausgangssperre, Militär? Fragend schaute sie Rainer an, doch der beachtete sie nicht.

»Wie lange hörst du schon heimlich Radio und verschweigst mir das?«, fragte sie zornig und baute sich vor ihrem Mann auf. Feindselig stemmte sie die Fäuste in die Hüften.

»Das geht dich nichts an. Das ist das alte Ding von deinem Opa, die Batterien waren noch drin. Und jetzt lass mich in Ruhe. Du hast ja gehört, dass der verfickte Blackout noch weitreichendere Folgen gehabt hat. Ich muss nachdenken, also scher dich hier raus!« Mit einer ausholenden Geste wies er zur Tür. Seine Stimme war ein einziges Gewitter, das sie zu gut kannte. Bevor sie ihn ihren Zorn spüren ließ, musste sie ihn in Sicherheit wiegen. Aber für seine Lügen würde er büßen.

Zum Nachdenken ging sie ins Bett. Zumindest wollte sie es. Da waren wieder diese Geräusche, wie ein Schaben an der Haustür. Sie machte kehrt und lauschte. Sobald sie vor der Tür stand, war alles ruhig. Es fühlte sich an wie Watte in den Ohren, eine dumpfe Stille, die nur ihren Herzschlag durchließ. Angst durchfuhr Hannah. Hektisch machte sie kehrt und flüchtete ins Schlafzimmer. Schon wollte sie unter die Decke kriechen, als ihr einfiel, dass sie auch hier nicht in Sicherheit war. Überall haftete der Geruch ihres Mannes. Das Bettzeug stank nach ihm. Hektisch zog sie die Bettwäsche ab und warf sie in eine Ecke. Klirrend landete dabei der Bilderrahmen mit ihrem Hochzeitsfoto auf dem Boden. Da gehört es hin.

Erst nachdem sie alles beseitigt hatte, das sie an Rainer erinnerte, verkroch sie sich ins Bett. Nun musste nur noch ihr Mann weg, dann war sie völlig sicher. Bin ich das wirklich? Ist Sicherheit nicht nur eine Illusion? Was heißt das überhaupt mit der Strahlung? Warum ist plötzlich alles verstrahlt? Sie hatte so viele Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Dann kam ihr etwas anderes in den Sinn und ihre beginnende Verzweiflung wandelte sich in Hass. Was, wenn Rainer das alles eingefädelt hat, damit ich nicht mit meiner Freundin nach Spanien fliegen kann? Sie holte tief Luft. Diese Erkenntnis musste sie erst einmal verdauen. Je mehr sie darüber grübelte, desto passender kam es ihr vor. Das würde ihm ähnlich sehen. Mich hier festzuhalten!

Ihre Gedanken überschlugen sich, während ihr Herz vor Aufregung immer schneller gegen das Brustbein und die Rippen hämmerte.

Keine Minute später fand sie sich in der Küche wieder, das Fleischmesser in der Hand. Zeit zum Überlegen nahm sie sich nicht.

»Abbruch! Beenden Sie es!« Die Stimme aus dem Radio klang verzerrt, hektisch und unwirklich. Was hört Rainer für einen Mist? Dieses Fiasko würde sie jetzt beenden. Sogar der Radiosprecher hatte das gesagt. Verblüfft starrte Rainer das Radio an und bekam erst mit, dass er starb, als das Messer bereits tief in seiner Brust steckte. Im gleichen Moment ging das Licht an, die Rollläden hoch und drei Personen in Schutzanzügen stürmten den Raum.

Die plötzliche Helligkeit blendete sie. Hannah konnte sich keinen Reim auf diese Änderung machen. Ob es etwas mit Rainer zu tun hatte? Ihm habe ich es definitiv gezeigt! Der wird mir nicht mehr sagen, was ich zu tun habe und mich wie eine dumme Kuh behandeln! Nichts anderes als Triumph fühlte sie in dem Moment und ein zufriedenes Lächeln lag auf ihren Lippen.

Jemand berührte sie sanft an der Schulter und führte sie hinaus. Durch die Haustür! Sie ist offen! Hannah konnte es kaum fassen. Der Wind war kalt und unangenehm heftig. Aber da waren Sonne und frische Luft. Einen tiefen Atemzug später fühlte sie sich so befreit wie nie zuvor. Sie lachte und brach es sofort wieder ab. Da war wieder diese fremde Stimme, laut und befehlend. Irgendwie klang sie wie Rainer. »Jetzt hören Sie mal zu! Wir haben hier eine Leiche! Ihre verdammten Sparmaßnahmen haben dazu geführt, dass die Bewohner den Notausstieg nicht finden konnten. Da muss definitiv noch nachgebessert werden und ohne zusätzliche Notstromversorgung geht bei dieser Art Smarthome gar nichts. Am besten … Ja, ich fertige einen Bericht. So können wir das Teil nicht auf den Markt bringen, schon gar nicht in den USA. Natürlich steigt die Wahrscheinlichkeit eines Blackouts, das wissen wir seit Jahren, da hilft … Ich klugscheißere nicht, ich liefere Ihnen Fakten! Und kommen Sie mir nicht mit den Chinesen! Solange wir für den europäischen und amerikanischen Markt … Verdammt, hören Sie mir überhaupt noch zu?«

Hannah schauderte es bei der Stimmlage, die ständig lauter wurde. Sanft, aber bestimmt, wurde sie zu einem Krankenwagen geführt. Doch sie konnte den Mann leider noch gut verstehen. Was sonst um sie herum geschah, bemerkte sie nicht.

»Wir werden weder von den Chinesen noch von den Japanern überholt. Wir punkten mit Sicherheit und bleiben Marktführer! Ich verspreche es. Aber wir brauchen hier einen Putztrupp, einen Bestatter und dann die Arbeiter wegen dem Notausstieg, damit wir das Haus zur nächsten Testreihe freigeben können. Morgen kümmern wir uns zusammen um einen neuen Energieversorger, der aktuelle taugt nichts und ebenso wenig die Solaranlage auf dem Dach … Ich sagte doch, dass wir das morgen machen … Klar, keine Polizei, dafür sorge ich. Wofür halten Sie mich …?«

Hannah konnte nicht mehr verstehen, was weitergeredet wurde. Die Energieknappheit war weltweit zu einem Problem geworden, seitdem es kaum noch mit Benzin oder Diesel betriebene Autos gab. Vielerorts brach die Stromversorgung fast täglich zusammen, wenn die E-Cars pünktlich nach Arbeitsende ans Stromnetz angeschlossen wurden.

Die Tür des Krankenwagens schloss sich hinter Hannah. Leise setzte sich der Wagen in Bewegung. Währenddessen legte ein Arzt eine Venenkanüle in ihren Arm und kurz darauf tropfte eine kühle Flüssigkeit in ihre Adern. Sie wurde müde und schloss zufrieden die Augen.


H. K. Ysardsson ist ein Pseudonym, unter dem die österreichische Schriftstellerin Fantasy und Science-Fiction-Romane schreibt. Unter ihrem realen Namen schreibt sie Lyrik und historische Romane. Grafik und Malen gehören ebenso zu ihren künstlerischen Aktivitäten. Ein Dorf im westlichen Niederösterreich, in dem sie mit ihrer Familie lebt, dient ihr als Ort der Inspiration und gleichzeitig auch als Ruheort. Blühende Obstwiesen im Frühling, sanfte Hügel das ganze Jahr und freundliche Leute, das ist es, was sie dort hält. Ganz unterschiedlich davon sind ihre Bücher geprägt von unerfreulichen Leuten, Themen des Alltags, die sie in entfernte Welten projiziert oder den Dingen, die sie beschäftigen (Menschenrechte, Umwelt, Kriege, Religion …).

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392 s. 55 illüstrasyon
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9783754927403
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