Kitabı oku: «Gewachsen im Schatten»
Annemarie Regensburger
Gewachsen
im Schatten
Geschichte einer Befreiung
Die Drucklegung dieses Werkes wurde unterstützt durch die Abteilung Kultur im Amt der Tiroler Landesregierung, sowie durch das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Abt. V, Kunstsektion).
2013
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck, unter Verwendung
eines Bildes von Brigitte Schalhaas
Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
ISBN: 978-3-7022-3301-3 (gedrucktes Buch) ISBN: 978-3-7022-3312-9 (E-Book) E-Mail: buchverlag@tyrolia.at Internet: www.tyrolia-verlag.at
Gewidmet meinem Heimatdorf Stams
KAPITEL 1
Von Anfang an ist sie da, die Angst.
Das Kind liegt im Bett, hat Hunger.
Alle sind auf dem Feld. Es darf sogar in Mamas Kammer liegen, denn es ist krank, hat Gelbsucht. Das Kind malt sich aus, wie gut das Brot schmecken würde, wenn es sich getraute, in die Küche zu gehen. Es kann nicht. Warum? Es weiß es nicht. Es liegt wie gelähmt im Bett, spürt den Hunger und traut sich nicht, aus der Kammer zu gehen. Die Mama hat dem Kind auf alle Fälle einen Nachttopf unter das Bett gestellt. Für diese Not ist vorgesorgt. Doch das Brot hat sie vergessen.
Der Hunger wird größer. Das Kind beginnt sich auszumalen: „Ih kannt aus’n Bett hupfn, bis zur Tür giahn, die Kammertür aumachn, schaugn, ob niemed daußn isch, i’ den langen, hoachn, unhuemling Hausgang bis zur Kuchetür springen, aumachn, zur Broutschublad giahn, aumachn, a Stuck ochebrechn und gach zruggspringen.“ Das Herz schlägt dem Kind bis zum Hals.
Es ist sieben, geht zur Schule, weiß, dass niemand im Haus ist. Es liegt schweißgebadet im Bett, wagt nicht, sich zu bewegen. Es ist starr vor Schreck. Das Kind schläft ein.
Irgendwann hört es die Mama: „Ja, hasch dir kue Brout kholt? Ih han dir extra uas mit Butter und Marmelad auf’n Tisch gschtellt.“
„Ih han mih nit traut.“
„Was bisch’n fiar a Hosnscheißer, siesch bisch ouh gscheid.“
Doch das weiß das Kind bereits.
Einmal, das Kind ist sechs, geht noch in den Kindergarten, sitzt es am Boden im Hexenhaus und wartet. Es hat überhaupt keine Angst. Seine Hauptrolle kann es auswendig und die anderen Rollen noch dazu. Es dauert dem Kind nun schon viel zu lang. Es will zeigen, was es kann. Es hat Hunger, sieht das Lebkuchenherz im hinteren Fenster des Hexenhauses. Das Herz des Kindes beginnt laut zu klopfen. Die Kindergartenschwester hat verboten, etwas vom Hexenhaus wegzunaschen. Draußen hört das Kind Hänsel und Gretel kommen. Es murmelt deren Sätze vor sich hin. „Ja, dejs dertue ih nouh“, sagt das Kind halblaut, reißt das Lebkuchenherz herunter, steckt ein Stück davon in den Mund. Da, sein Einsatz! Das Stück ausspucken, eine Kugel formen, hinlegen. Mit dem süßen Geschmack im Mund steht das Kind vor den Menschen. In der zweiten Reihe sitzen die Mama und die beiden Schwestern. Das Kind sagt seinen Text als Hexe wie geschmiert. Alle lachen, klatschen mit den Händen. Im Bauch hat das Kind ein kribbelndes Gefühl. Das schmeckt besser als das Lebkuchenherz. Zurück im Hexenhaus, isst das Kind den Rest auf.
Die beiden Schwestern sitzen am See.
„Du willst wissen, wann ich mich das erste Mal an dich erinnere? Ich war gerade sieben. Jeden Tag gegen Abend hab ich für dich die Milch zu einer alten Frau bringen müssen. Eine halbe Stunde am Waldrand entlang hin und eine halbe Stunde zurück. Bevor du auf die Welt kamst, sind unsere zwei Brüder gestorben. Deshalb hat dich die Mama, obwohl du erst zwei Monate alt warst, zu dieser Frau gegeben. Sie wollte, dass wenigstens du am Leben bleibst. Unsere Mama hat für zwei arbeiten müssen, dein Vater war damals schon sehr verstört und ist den ganzen Tag im Bett gelegen. Ich hab mir oft gewünscht, dass du auch stirbst, denn ich hab mich sehr gefürchtet, am Abend so nah am dunklen Wald die Milch zu tragen.“
Die Schwestern blicken auf den See hinaus. Die Sonne wirft die letzten Strahlen über das Wasser. Es glitzert wie tausend Sterntaler.
„Wann ich mich das erste Mal an dich erinnere? Ich weiß es nicht mehr. Der Schock hat alles Erinnern gelöscht. Viele Jahre wusste ich nichts mehr von vorher. Alles lag wie im Nebel. Nur das Fürchten, das Verschrecktsein und die Angst vor den Männern verdeutlichten, dass es ein Vorher gab. Später kamen dann manchmal lustige Bilder durch. Einmal hat das Hannele dir eine lebende Maus in deine ärmellose Bluse gesteckt. Haben wir bei der Mama wirklich so eine Bluse anziehen dürfen?“
„Ja, und sogar eine kurze Hose. Mit der bin ich aufgestanden, wie ich mit dem Kuhfuhrwerk beim Frauenkloster vorbeigefahren bin, damit sie es sehen. Der Pater hat am darauffolgenden Sonntag darüber gepredigt.“
„Und weißt du, was du singen können hast? ‚Brennend heißer Wüstensand, fern, so fern dem Heimatland. Kein Herz, kein Schmerz.‘ Immer hab ich mir ausgemalt, wo dieses Land sein könnte. Du hast immer arbeiten müssen und warst böse, dass das Hannele immer gesagt hat, dass sie Hausaufgaben machen muss. Die Nale hat gegen dich und die Mama gehetzt, und manches Mal hat die Mama geschrien: ‚Hat ih decht nit den Balg.‘ Aber sie ist doch froh um dich gewesen.“
Das Kind ist fünf. Es ist Osterzeit. Die Kindergartenschwester erzählt den Kindern von Jesus, wie viel er für die Sünden der Menschen gelitten hat. Das Kind nimmt sich vor, von nun an immer brav zu sein. Eine Ostergeschichte gefällt dem Kind besonders gut. Nach Ostern kommt zum ersten Mal eine geistliche Inspektorin in den Kindergarten. Die junge Schwester ist aufgeregt. Am Morgen gibt sie letzte Anweisungen zum Bravsein und erzählt den Kindern noch eine Don-Bosco-Geschichte.
Es klopft. Die Inspektorin kommt mit der Schwester Oberin herein. Sie ist freundlich. Die Kinder dürfen sich setzen.
„Was wisst ihr von Ostern?“
Schweigen.
Das Kind steht auf. Die Inspektorin sieht zum Kind hin.
„Woasch, zwoa habm fescht pleart, wie der Jesus gstorbm isch. In Fald daußn habm se anonder derzählt, wie se nouh traurig sein.“
Das Kind schluckt. Die Inspektorin wartet gespannt.
„Noche sein se uan begegnet, dear isch mit ene gangen. Dear hat ene noche grad aso wie inser Mama ’s Brout ausanondertoalt. Da habm sen wieder kennt. Sie habm gschpiert, dass dejs lei der Jesus sein kann.“
Die Kindergartenschwester strahlt. Die Schwester Oberin und die Inspektorin schenken der jungen Kindergartenschwester einen anerkennenden Blick. Sie sind erstaunt, was sich ein so kleines Bauernmädchen alles merken kann. Das Kind darf sich setzen. Die anderen Kinder klatschen. Das Kind verspürt ein Kribbeln im Bauch und ist glücklich.
Langsam beruhigt sich der See. Nur noch vereinzelt glitzern Sonnensterne auf dem Wasser. Bald wird die Sonne untergehen.
„Weißt du noch, wie uns die Tante vom Unterland Pakete geschickt hat?“
„Ich hab diese Tante nicht mögen. Als unsere Mutter gestorben ist, haben mich Mamas Schwestern im ersten Winter im Unterland in ein Hotel zum Arbeiten gesteckt. Ich war erst sechzehn und hatte von den Männern noch keine Ahnung. Die Tante hat mich in der Freizeit nie zu sich eingeladen. Aber wenn sie ins Klosterdorf gefahren ist, hat sie den Leuten erzählt, dass ich nur auf Männer aus sei.“
„Aber Pakete hat sie uns früher schon geschickt. Ich weiß noch gut, wie in so einem Paket eine Spielhose mit Rüschenträgern war. Aber die Mama hat gesagt, dass sie mir noch viel zu groß sei, und hat sie dem Hannele gegeben. Ich weiß noch gut, wie ich wild geschrien hab.“
„Ja, einen hochroten Kopf hast du gekriegt. Dann hat die Mama geschrien, dass wir schnell zum Bach laufen müssen. Beide haben wir dich an Händen und Füßen gehalten, sind durch den Vorstall bei der hinteren Tür hinaus, beim ‚Patschklosett‘ zum Bach. Du hast gestampft, so fest du konntest, und dann das Bewusstsein verloren. Wir haben dich mit dem Kopf ins eiskalte Wasser getaucht. Dann haben wir dich wieder langsam herausgezogen. Ein paarmal hast du noch geschluckt, die Augen verdreht, und dann bist du wieder zu dir gekommen. Ich hab, bis du aufgewacht bist, große Angst gehabt. Das Hannele ist lachend mit der Spielhose in der Hand vor der Haustür gestanden. Auch die Mama war froh, wie du wieder aufgewacht bist. Der Hausarzt hat ihr geraten, dass sie dich, wenn du so schreist, in den Dorfbach halten soll. Zwei Brüder sind ja vorher an den ‚schreietn Fraisn‘ gestorben.“
Der Blick der Frau fällt auf den Grabstein, der aber nicht auf dem Friedhof steht. Dort wurde das Kindergrab längst aufgelassen. „Hier ruht unser liebes Kind Alois“ ist in verschnörkelter Schrift eingraviert. Unser liebes Kind Alois, geboren am 15. September 1945, gestorben am 22. November 1945.
Alois, mein Bruder Alois. Nichts weiß ich von dir, nur diese zwei Zahlen, nichts von dem zwischen den Zahlen. Sieben Wochen hast du gelebt. Der Stammhalter solltest du werden. Geboren am selben Tag wie unsere Schwester, das Hannele, genau ein Jahr später. Warum sie dich Alois nannten? Vielleicht weil dein Onkel, Mamas Bruder, Alois geheißen hat? 1945, der Krieg war aus. Mamas Bruder Alois ist nicht von der Front zurückgekehrt. Gefallen für das Vaterland, wie es hieß. Solltest du über Onkels Tod hinwegtrösten? Vermutlich hat sich die Mama mit der Namensgebung durchgesetzt.
Nichts weiß ich sonst von dir, mein lieber Bruder. Jetzt, mehr als sechzig Jahre später, möchte ich mehr von dir wissen. Du hattest die „schreieten Fraisen“, ein Nervenfieber. Du hast zu schreien begonnen und nicht mehr damit aufgehört. Warum musstest du so schreien? Du, der Stammhalter im Haus? Das erste Kind eine Totgeburt, das Hannele vor dir nur ein Mädchen, die andere, große Schwester sowieso bloß ein lediger Balg von der Mama. Hast du geglaubt, dass dein Stiefbruder, das Hansele, Stammhalter wird? Er war bei deiner Geburt bereits sieben Jahre alt und nicht für das Elternhaus bestimmt. Für ihn war im Dorf seiner verstorbenen Mama der Bauernhof der Tante vorgesehen. Alois, warum hast du um dein Recht geschrien? Es war dir ja bereits in die Wiege gelegt. Warum hast du nicht mehr aufgehört zu schreien? Warum nicht?
Hast du bereits etwas von der Tragödie in diesem Haus gespürt, die sich erst Jahre später ereignen wird? Alois, du stirbst im November. Zweiunddreißig Jahre später stirbt dein und mein Tate, der Vater, der für dein und mein Leben prägend ist, der selbst ein Teil seiner unbewältigten Geschichte ist.
Alois, mein Bruder, heute, nach dieser langen Zeit, nehme ich den kleinen, weißen Grabstein aus Marmor in unserer Garage wahr. Ich nehme dich, meinen großen Bruder, für wahr und werde dir heute noch ein schönes Kindergrab an unserer Hausmauer herrichten.
Die Mama merkt schon seit längerer Zeit, dass mit ihrem Mann im Kopf nicht mehr alles stimmt. Schon während des Krieges sperrt sich der Tate tagelang im ersten Stock im sogenannten braunen Zimmer ein, sagt laut seitenlang „Mein Kampf“ auf. Am Wochenende im Zug nach Innsbruck – die Leute munkeln, er fahre ins Puff – rezitiert er auswendig aus dem Buch. Im Dorf gilt er immer schon als hochintelligenter, junger Mann. Er ist der Beste in der Klasse, hat eine pedantische Ordnungsliebe, ist gewissenhaft und verlässlich. Viele Jahre ist er Zahlmeister in der Raiffeisenkasse. Er gilt von jeher als eigenwillig, äußerst konsequent und unnachgiebig, wie der Bürgermeister bei der ersten Einlieferung des Tate in die Landesheil- und Pflegeanstalt sagt.
Geboren wird der Tate auf einem Weiler hoch über dem Inntal, und er erhält den Namen Joseph. Er ist das älteste von drei Kindern. Seine Eltern verkaufen als junges Paar ihren Berghof und ziehen um die Jahrhundertwende, 1903, ins Klosterdorf.
Sie renovieren den vom Kloster gepachteten Bauernhof in der Hoffnung, ihn später dem Kloster abkaufen zu können. Erst in den späten fünfziger Jahren können die Pächter tatsächlich ihre Höfe dem Kloster billig abkaufen, für die Familie des Tate ist das zu spät.
Joseph kommt während des Ersten Weltkriegs in ein Ausbildungslager nach Oberösterreich. Von dort schreibt er seinen Eltern in einer Schrift wie gestochen eine Ansichtskarte. „Geliebte Eltern“ steht darauf und wie es ihm gehe, was er für sein Vaterland einsetzen müsse. Auf der Vorderansicht macht er ein Kreuz bei der Baracke, in der er wohnt. Hat ihn damals schon das straffe Marschieren beeindruckt, das ihn zwanzig Jahre später „Mein Kampf“ auswendig lernen ließ? Am Schluss steht: „Euer dankbarer Sohn Joseph“.
Sein Vater stirbt früh an Lungentuberkulose. „In Zahlstock habm mir ihn toun“, wird die Nale zu ihren Enkelinnen später sagen. Mit einundzwanzig ist der Tate bereits Bauer, gemeinsam mit seiner Mutter, der Nale, die indirekt die Fäden spinnt. Er hat viele neue Ideen, pflanzt hundertfünfzig Obstbäume, verkauft die Äpfel an Gasthäuser in einem nahe gelegenen Wintersportort. Er hat gut investiert. Das Geld vom verkauften Hof am Berg vermehrt sich auf der Bank von selbst. Die Nale, eine äußerst sparsame Frau, setzt sich mit dem Hansele aus erster Ehe stundenlang an die Bundesstraße und bietet die Äpfel feil. Wenn jemand einen guten Rat oder Geld benötigt, geht er zum Joseph. Einem Bauern, der den Hof in einem Weiler des Dorfes bereits jetzt vom Kloster kaufen kann, leiht Joseph sein gesamtes Vermögen. „Ma hat kennen fünfazwanzg Kiah darmit koufn“, wird die Nale später sagen. „Alles isch hingwesn. In Reichsmark hat’s dear Bauer zruggzahlt. Mir habm grad nouh a Muespfanne darfür koufn kennen!“
Dieses Unglück wird als ein Auslöser für Josephs Schizophrenie angesehen. Der zweite Auslöser ist, dass die Mama der Nachbarin erzählt, von wem die Magd schwanger ist. „Dia Schand darzue und er hat sig’s nimme dertoalt“, sagt die Nale.
1945 wird der Tate auffällig. Dass beim Stampferhaus nach Hitlers Einmarsch als einem der ersten Häuser auf einem breiten Transparent stand: „Das Stampferhaus grüßt unseren Führer Adolf Hitler“, war nichts Außergewöhnliches im Klosterdorf. Doch zu Kriegsende gebärdet er sich besonders fanatisch und rachsüchtig und denunziert so manchen Dorfbewohner. Er sagt: „Viel mehr müssten eingesperrt werden und Barrassuppe essen.“ Dadurch macht er sich bei den Leuten unbeliebt. Er zieht sich im Laufe der Jahre immer mehr von der Ortsbevölkerung zurück, fühlt sich von seinen Nachbarn angefeindet und verfolgt und glaubt, man wolle jetzt Rache nehmen dafür, dass er nach dem Krieg so viele Leute angezeigt hat.
Die Strömung treibt nach Osten. Ein Segelboot lässt sich treiben, im Rücken die Abendsonne. Die Schwestern blicken hinaus. Im selben Boot sind sie nicht gesessen.
„Du hast die Nale nie mögen, oder?“
„Das Wort ‚Nale‘ kann ich heute noch nicht hören. Für mich ist und bleibt sie die Alte. Sie ist nicht meine Großmutter, und das haben mich dein Vater und sie immer spüren lassen. Wenn er am Sonntagabend von Innsbruck gekommen ist, hat die Mama laut gerufen: ‚Schnell, versteck dih am Dachboden!‘ Ansonsten hat er mich geschlagen. Ich war ja nur der Mama ihr lediges Kind. Sogar in der Kirche haben wir ledigen Kinder in einer eigenen Kirchenbank knien müssen. Deine Großmutter war sehr böse mit mir. Unsere Mama hatte Probleme mit ihrer Blase und musste öfters zur Behandlung ins Spital. Wegen ihrer vielen Schwangerschaften musste sie auch immer wieder gynäkologisch behandelt werden. In dieser Zeit hab ich nicht einmal genug zu essen bekommen. Einmal hat sie mich an einen Zwetschkenbaum gebunden und mich mit einer Haselnussrute geschlagen. Vermutlich war wieder einmal in der Früh mein Strohsack nass. Ich hab ja eingenässt, bis ich vierzehn war. Erst als eine Nachbarin vorbeigegangen ist, hat sie mit den Schlägen aufgehört. Eine meiner schlimmsten Erinnerungen ist, dass ich, wie unser Halbbruder Hansele zur Erstkommunion gegangen ist, im Kartoffelkeller die langen Keime von den Kartoffeln abbrechen müssen hab. Und unsere Mama ist, vor allem bei mir, um des lieben Friedens willen still geblieben.“
Die große Schwester ein typisches Kriegskind. Die Mama in einem Wintersportort Hilfsköchin. Mamas Freund an der Front. Sie schreibt ihm von ihrer Schwangerschaft. Keine Antwort! Die Mama bringt ihre Tochter bei einer Verwandten in Wien zur Welt. Mit vollem Bauch hätte sie sich nicht heimgetraut, obwohl ihre Mama bereits 1936 gestorben war. Es ist auch samt geborenem Kind schwierig genug. Sie muss ihr Kind „ausstatten“. Sie selber arbeitet als Köchin auf einer Hütte im Außerfern. Später sagt sie zu ihren Töchtern, es sei die schönste Zeit in ihrem Leben gewesen.
Als der Freund und Vater die Mama nach dem Krieg im Dorf suchen kommt, ist sie bereits mit dem Witwer Joseph verheiratet. Der Freund, ein Tapezierer, ist tief enttäuscht. Sie lacht laut und sagt zu ihm, dass alles längst vorbei sei. Was hätte sie sonst mit einem ledigen Kind machen sollen, außer einen Witwer mit Kind heiraten. Sie fügt noch hinzu: „Flick mir lieber die dersoachtn Stroahsäck!“ Der Freund bleibt ledig.
Das Segelboot gleitet in der Abendsonne dahin. Fast kitschig schön zum Zusehen.
„Weißt du, wie unsere Mama und der Tate zusammengekommen sind?“
„Wenn unsere Mama das erzählt hat, ist bei ihr das Theaterblut durchgekommen. Sie hat deinem Vater vom Außerfern geschrieben, ob er Äpfel zum Verkauf hat. Prompt kam die Antwort: ‚Ich habe einen Sack voll Äpfel und einen Sack voll Liebe!‘ So war sein Angebot. Er hat sogar noch einen Zusatz gemacht: ‚Hanni, ich leg dir das Stampferhaus vor die Füße!‘ Sie hat zugegriffen. Im Juni 1943 haben sie geheiratet. Die Mama musste ein schwarzes Kleid anziehen, weil ich ja ein lediges Kind von ihr war. Das Kind aus erster Ehe von deinem Vater, ’s Hansele, und ich sind auch auf dem Hochzeitsbild.“
Vaters erste Frau stirbt mit sechsunddreißig an einer Lungenentzündung. ’s Hansele, geboren 1938, ist gerade zwei Jahre alt. Die erste Frau vertraut der Hebamme auf dem Sterbebett an, dass mit ihrem Mann im Kopf nicht alles stimmt. Das will sie nicht ungesagt mit ins Grab nehmen. Doch die Hebamme schweigt wie ein Grab. Die erste Frau ist, vor allem für die Nale, eine Frau wie aus dem bäuerlichen Bilderbuch: sparsam, sauber und fleißig. Nach ihrem Tod ist der Kasten immer noch voll mit selbst gesponnenem Leinen. Polster und Tuchenten zieren ihre Initialen, gestickt mit rotem Kreuzlstich.
Bei der zweiten Hochzeit ihres Sohnes Joseph, 1943, gibt die Nale ihrer neuen Schwiegertochter nicht einmal den Schlüssel zum Wäschekasten. Die Nale kann nicht fassen, dass ihr Sohn dieses Mal, in ihren Augen, eine halbe Schlampe und mit eigenartiger Herkunft mütterlicherseits heiratet. Einmal hört eine Nachbarin, wie sie beim Haus vorbeigeht, die Nale schreien: „Hasch nit amol a Bett zun Zuedeckn mitbracht!“ Darauf lacht die Mama und sagt: „Drum habm mir ja in Summer kheiratet, da habm mir ins nit zuedeckn brauchn.“ Die Nale überlebt ihre zweite Schwiegertochter um fünf Jahre und wird später zu den übrig gebliebenen Enkelinnen sagen: „Enkere Mama isch viel z’guet gwesn. Sie hat halt ’s Zuijg vertragn.“ Aber außer Äpfeln und Speck und toten Kindern ist vom Hof nicht viel zu vertragen.
Zum Arzt in Hall sagt die Nale aber andere Sachen: Seiner zweiten Frau wäre am liebsten, wenn ihr Mann die Augen zutäte, damit sie dann alles allein besitze und wieder heiraten könne, denn sie sehe andere Männer nicht ungern.
Franzele, dein Name ziert nicht den Kindergrabstein des Hofes. Den ganzen Platz hat dein Bruder Alois benötigt. Wer lässt schon Platz am Grabstein für ein womöglich zweites, totes Kind? Mitten im Hochsommer, knapp vor dem Hohen Frauentag, bist du in einem Bahnhof zur Welt gekommen. Vermutlich hat die Mama vorher noch schnell das letzte Gruemet in den Heustadel eingebracht. Franzele, ein Bahnhofskind! Wer hat der Mama geholfen, dich abgenabelt, gewaschen und in Windeln gewickelt? Wie ist die Mama wieder mit dir heimgekommen? Sie allein weiß es und hat all die unbeantworteten Fragen elf Jahre später, mitten im Hochsommer, knapp nach dem Hohen Frauentag, mit ins Grab genommen.
Franzele, dein Name ist auf dem marmornen Familiengrabstein auf der Seite eingraviert. An der Vorderseite steht der Name unseres Großvaters und von unserem Tate. Sogar eine Fotografie vom Großvater ist angebracht. Er starb 1921 mit siebenundvierzig Jahren. Nur ein einziges Mal hat die Nale von ihrem Mann, den sie um zweiundvierzig Jahre überlebte, erzählt. Franzele, hast du deinen Namen vom Großvater oder vom Onkel Franz bekommen? Vermutlich hat die Nale ein Machtwort gesprochen. Alois, unser Bruder, wurde nach dem Bruder der Mama benannt. Und du, Franzele, nach dem feschen, jungen Bruder vom Tate. Onkel Franz hat 1935 mit fünfundzwanzig geheiratet. Sein älterer Bruder, unser Tate, hatte bereits im Dorf seiner ersten Frau ein Gasthaus ersteigert. Dorthin ist unser Onkel Franz mit seiner Frau gezogen und hat das Gasthaus von seinem Bruder gepachtet.
Franzele, du solltest sicher den jungen Onkel ersetzen, der nicht mehr aus dem Krieg heimkehrte. Hast du deshalb zu schreien begonnen, weil du das Unrecht gespürt hast, das mit dem Gasthaus geschehen ist? Aber Franzele, es war unser Tate, der vor dem Krieg einen einfältigen Kuhhandel mit seinem Bruder abgeschlossen hat. Nach fünf Ehejahren war Onkel Franz immer noch kinderlos. „Wenn du von Krieg nimme zruggkimmsch, geaht ’s Gasthaus zompt Baurschaft an meine Kinder zrugg!“ Handschlag, ausgemacht, erledigt!
Die Frau vom Onkel Franz wird am Ende des Krieges schwanger. „Det isch er aber nie auf Fronturlaub huemkemen“, munkeln die Leute. Onkel Franz hat das Kind bei seinem letzten Heimaturlaub als sein Kind anerkannt.
Franzele, das war vor deiner Zeit. Du bist erst 1946 geboren. Trotzdem hast auch du zu schreien begonnen. Du hast den ganzen Spätherbst bis nach Weihnachten geschrien. Nach dem Dreikönigstag mussten sie für dich den gefrorenen Boden aufhacken und haben dich zu deinem Bruder Alois hineingelegt.
Ein Segelboot kreuzt das andere. Die Menschen darauf winken einander zu. Die große Schwester blickt die jüngere an.
„Woasch du dejs überhaupt, wie dei Tate ’s earschte Mal auf Hall kemen isch?“
„Ih woaß es lei von Derzählen, derrinnern kann ih mih auf dejs nimme.“
Man hat es auch vertuscht. Im Dorf hieß es nur, der Joseph sei jetzt ganz verrückt und man habe ihn ins Narrenhaus gebracht. Hinter vorgehaltener Hand erzählten sich die Leute das gegenseitig.
Der Tate setzt sich am Palmsonntag beim Gottesdienst in die erste Bankreihe. Nach der Palmweihe überreicht ihm sein Sohn einen Ölzweig. Er beginnt laut zu weinen, es schüttelt ihn durch und durch. Er kniet sich auf den Boden, schlägt die Hände zusammen, bittet den Herrgott um Verzeihung und sagt, dass er nun Buße tun müsse.
Er habe sich früher nicht wegen seines Verhältnisses mit der Magd geschämt, darum schäme er sich jetzt auch nicht, öffentlich Buße zu tun. Immer wieder dreht er sich um und fragt den Bürgermeister, ob es jetzt genug sei. Der Bürgermeister versucht ihn zu beruhigen, und es gelingt ihm. Auf dem Heimweg von der Kirche begrüßt der Tate alle Leute mit „Friede auf Erden!“ und schwingt dabei den Ölzweig. Nur mit Mühe kann er bewogen werden, sein Haus zu betreten.
„Noche hat man ihn ’s earschte Mal auf Hall toun.“
„Siehchsch, des Woart Hall least bei mir hein nouh a gschpassigs Gfühl aus, obwohl ih schue über sechzig Jahr alt bin und woaß, dass der Tate schwar krank gwesn isch.“
Der Tate ist nach seinem ersten Aufenthalt in Hall nur fünf Tage daheim gewesen. Er hat sich in diesen Tagen zwar ruhig verhalten, ist aber nicht aufgestanden. Er hat nur nach Wasser und Brot verlangt. Zu seiner Frau sagt er: „In Narrnhaus han ih ouh nicht anders kriegt. Ih han mih schue drou gwehnt.“ Seine Mutter sitzt stundenlang an seinem Bett und schimpft über seine Frau. Am Sonntag, dem fünften Tag, will er in die Kirche gehen, doch die Mama versteckt ihm das Gewand. Vermutlich hat sie Angst, dass er wieder in der Kirche auffallen würde. Er schreit: „Lieber geah ih in Inn, aswie mit dir unter uan Dach lebm!“ Er läuft, nur mit einem Hemd bekleidet und die Mistgabel in der Hand, mit der er die Leute bedroht, in Richtung Inn. Seine Mutter holt ihn zurück. Am darauffolgenden Tag will er seine Frau erschlagen, seinen Sohn und seine Mutter vergiften. Auch droht er an, daheim alles zusammenzuschlagen und das Haus anzuzünden. Dann würde er sich zu seiner anderen Liebe an ihre neue Arbeitsstelle begeben, die bereits im siebten Monat schwanger ist.
Das Kind sitzt mit dem Hannele in der Küche unter dem Tisch. Es hört den Vater schreien. Es drückt sich an die um vier Jahre ältere Schwester. Die Mama reißt die Küchentür auf. Der Vater kommt mit der Mistgabel hintendrein. Er will auf die Mama einschlagen. Die Nale, mit dem Weihwasser in der Hand, besprengt den Vater. „Joseph, sei riahwig, Joseph, hear au, na, isch dejs a Elend.“
Die Mama schiebt den tobenden Vater in die Vorratskammer und sperrt die Tür zu. Die beiden Kinder unter dem Küchentisch sind starr vor Schreck. Sie hören, wie die Nale jammert: „Na, was isch denn in Joseph gfahrn, in Bua, und mih hat er wellen mit Ratzngift vergiftn!“ Ausnahmsweise ist sie mit ihrer Schwiegertochter solidarisch und sagt: „Und dih hat er mit der Mischtgabl derschlagn wellen. Na, isch dejs a Kreiz, er dertoalt sig’s nimme!“
Inzwischen reißt der Vater die Gitterstäbe beim Fenster in der Vorratskammer heraus, steigt hinaus, läuft schreiend bis zum Dorfplatz.
Er wird zum zweiten Mal mit der Rettung nach Hall gebracht.
Er bekommt viele Elektroschocks zur Ruhigstellung. Nach drei Wochen, Mitte Juni, hat die Mama unterschrieben, dass er, wenn er will, wieder mit dem Zug heimkommen kann.
Es ist Heumahd und es hat eine große Hitze. Die Mama ist mit den Kindern auf dem Feld. ’s Hansele ist bereits dreizehn, seine Halbschwester zehn Jahre alt. Sie müssen der Mama wie Knecht und Magd bei der Arbeit helfen. Sogar das Hannele ist mit auf dem Feld, denn es muss mit einem Zweig die Bremsen bei den Kühen vertreiben. Schon von weitem erkennt die Mama ihren Mann. Er trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und einen schwarzen Hut. Er lobt seinen Sohn und streicht sogar seiner Stieftochter über den Kopf. ’s Hannele hebt er auf und gibt ihm einen Kuss.
Dann bittet er vor den Kindern seine Frau um Verzeihung und verspricht, dass er ab jetzt mit allen gut sein werde. Auch verspricht er seiner Frau, ab jetzt nicht mehr gewalttätig zu sein. Er zieht seine Anzugjacke aus und beginnt, Heu aufzuladen.
Zwei Wochen geht alles gut. „Mamele hie, Mamele hea“, sagt er zu seiner Frau und folgt ihr wie ein kleines Lämmchen.
Von einem Tag zum andern wird er wieder rebellisch. Er schmeißt alle Leitern beim Heustock um, lässt alle Heuwägen über die Tennenbrücke auf die Wiese hinunter, und die Schubkarren zieht er alle aus dem Wagenschuppen auf den Weg hinaus.
Der Tate beginnt wieder beim Sonntagsgottesdienst zu weinen, blickt immer wieder zum Chor hinauf, wo seine Frau singt. In der darauffolgenden Nacht läuft er Stiege auf, Stiege ab und schlägt alle Türen zu. In den folgenden Tagen wird er immer unruhiger. Am dritten Tag läuft er einige Male am Tag zum Bürgermeister, einmal mit seinem selbst geschriebenen Lebenslauf, den er pathetisch vorliest. Dann wieder bringt er ihm den Stadelschlüssel und sagt: „Jetzt musst du weitermachen.“ Am selben Abend alarmiert die Mama den Bürgermeister und die Gendarmerie. Schon von weitem hören sie Hilferufe und ein wüstes Geschrei. Vor dem Haus ist ein großer Auflauf der Nachbarn. Der Tate steht splitternackt auf der Gasse, deklamiert und gestikuliert zum Gaudium der Zuschauer. Später sagt er auf die Frage des hinzugekommenen Arztes, weshalb er sich ausgezogen habe: „Ich bin unschuldig, ich bin noch nicht geboren!“ Mit Mühe wird er vom Bürgermeister, dem Sprengelarzt und dem Gendarmeriebeamten ins Auto geschoben.
Das Kind ist drei Jahre und drei Monate alt.
Vor dem Haus beim Gartenzaun liegen Baumstämme, das Holz für den nächsten Winter. Ein Auto kommt, Männer stecken den Vater hinein. Die Mama hält das Kind auf dem Arm. Die Nale schluckt: „Joseph, Joseph“, die Tür zum Gendarmerieauto geht zu. Die Mama stellt das Kind auf den Boden und fährt mit nach Hall. Es ist der 28. Juni 1951.
Jahre später wird das Kind das Gedicht wahrnehmen, das der Tate geschrieben und an die Tür beim Wagenschuppen gehängt hat:
Pflug und Wagen unter Dach.
Schütze alles vor Schnee und Regen,
dann kannst du dich ruhig
schlafen legen.
Zum Namenstag schreibt der Vater der Mama jedes Jahr eine Karte von der Landesheil- und Pflegeanstalt. „Liebste Hanni“ steht darauf.
Obwohl sich sein abnormes Verhalten über Jahre hingezogen hat und 1951 eskaliert, geben seine Mutter und seine Schwester der Mama die Schuld daran. Auch der Bürgermeister sagt bei einer Unterredung beim Arzt, dass die zweite Ehe von Anfang an unglücklich gewesen sei, weil beide Charaktere einfach nicht zusammenpassen würden, seine Frau wegen ihrer Unordnung und Schlampigkeit bekannt und er als Ordnungsfanatiker und Pedant verschrien sei. Doch die Mama musste immer wieder vom Tate Schläge erdulden, und bei ihrer letzten Entbindung 1949 fallen dem Arzt ihre vielen blauen Flecken auf. Dies teilt er auch dem Bürgermeister mit.
Auf Anraten des Bürgermeisters holt ihn die Mama nicht mehr auf eigene Verantwortung heraus. Die Nale und Vaters Schwester sehen es nicht gern. Ein so gescheiter Mann im „Narrnhaus“. Es ist eine Schande für die ganze Verwandtschaft. Die Nale besucht den Vater alle zwei Wochen. Zweimal im Jahr nimmt sie abwechselnd seine Kinder mit. Trotz allem Durchgestandenen besucht auch die Mama den Tate immer wieder.
Mit zwölf Jahren wird das Kind im ersten Gedicht, das es der toten Mama widmet, schreiben: „Sie hatte so schöne, schwarze Haare, sie waren nur ergraut vom Kummer all der Jahre …“