Kitabı oku: «Das Ehepaar und ANDERE Geschichten»
Annerose Scheidig
DAS EHEPAAR
und ANDERE
Geschichten
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2014
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Covergestaltung Matthias Scheidig/www.moestyle.de
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Alle Rechte bei der Autorin
Engelsdorfer Verlag
Dieses Buch ist meiner Schwester Sieglinde gewidmet, die viel zu früh verstarb.
* * *
Die Personen und Handlungen in diesem Buch sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Das Ehepaar
Wer war Ilona Rose
Begegnung im Aufzug
Die filmreife Tante Gertrud
Theater, Theater . . . wirklich nur Theater?
Der bringt nie etwas zustande
Und plötzlich sah sie klar
Susanna Margaretha Brandt im „20. Jahrhundert“
Zwei Freunde im Dunkel der Zeit
An die Kinder der neuen Zeit
Gemeinsam einsam
Selbst gewählte Anonymität
Immer da - immer nah
Belehrungsstunden
Wolken ziehen dahin
Es geht auch anders
Das war kein Unfall
Sie hatte doch alles
Erntezeit
Birnen-Konfitüre a la C. A. F
Die Nachtigall singt
noch einmal mein Lieblingslied
dann fliegt sie davon
Das Ehepaar
Karlfried und Elfriede lebten allezeit glücklich und zufrieden in ihrem kleinen Einfamilienhaus, das sie sich mit Fleiß und Ausdauer, Stück für Stück, erwirtschaftet hatten. Doch eines Abends verließ Elfriede die Gemütlichkeit des Hauses und kehrte nicht mehr zurück.
Als Karlfried das bemerkte, war es schon Mitternacht geworden; er betrat das gemeinsame Schlafzimmer und stolperte über die Bettumrandung. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert, was ihn stark irritierte. Nach diesem kurzen Schreck stellte er erbost fest, dass die drei kleinen LED-Lämpchen nicht leuchteten.
„Wieso hast du vergessen meine Bettlichter in die Steckdose zu stecken?“, murmelte er frustriert, mehr zu sich als zu seiner Frau. Dabei schielte er kurz zu ihr hinüber und brummte weiter: „Hm, irgendwie ist heute alles anders als sonst!“
Er schaltete die Deckenleuchte an und sah mit Erstaunen, dass Elfriede gar nicht in ihrem Bett lag. Wie denn das? Elfriede, die immer zu dieser Zeit schon feste schlief, manchmal auch schnarchte, war nicht da? Eine seltsame Unruhe beschlich ihn. Wo mag denn nur Elfriede sein?
Er ging zurück ins Bad. Keine Elfriede war darin zu finden. Er schlurfte ins Wohnzimmer, keine Elfriede war im Wohnzimmer. Er rief nach ihr, aber sie gab keine Antwort. Seine Hoffnung trieb ihn in die Küche. Nichts, keine Elfriede in der Küche! Karlfried ging zurück ins Schlafzimmer und setzte sich auf seine Bettkante.
Leicht erschöpft überlegte er, wann er Elfriede zum letzten Mal gesehen hatte - und er erschrak. Seine Frau, die ihm immer treu zur Seite stand, war verschwunden und er konnte nicht herausfinden, wann sie ihm verlorenging!
Wie ein Häufchen Elend sackte er in sich zusammen, lauschte stundenlang in die Stille des Raumes hinein und ließ ein paar Tränen über seine Augensäcke laufen.
Er fühlte sich verlassen, wie in Kindertagen, einfach verlassen. Angst hing ihm im Nacken und er jammerte immer wieder: „Das gibt es doch nicht, das ist nicht wahr! Wo, wo ist meine Elfriede geblieben? Wo soll ich sie suchen, wo fang ich an, wo könnte sie sein?“
Dann sprang er plötzlich auf und suchte nach einem Zettel.
Vielleicht hatte sie ihm eine Nachricht hinterlassen?
Nein, hatte sie nicht!
Er begann zu telefonieren, legte aber schnell den Hörer wieder auf. Was hätte er auch sagen sollen, jetzt, um diese Zeit?
Sie ist nicht mehr da! - Seit wann? - Ich weiß es nicht? - Und dass er es erst jetzt gemerkt hatte, weil er erst jetzt nach Hause kam? - Ja, wo war er denn gewesen, jetzt um diese Zeit? - Und zugeben, dass er zuhause war, aber Elfriede nicht registrierte? - Nein, das ging gar nicht!
Er musste den nächsten Morgen abwarten, egal wie er sich fühlte. Trotzdem lief er in den Keller, dann vor das Haus und hinter das Haus. Nichts!
Erschöpft legte er sich auf das Sofa und grübelte, grübelte und grübelte, bis er völlig erschöpft eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen erwachte er erschrocken, sammelte sich kurz und durchsuchte, ohne Kaffee, ohne Frühstücksei, noch einmal Haus und Garten. Dann begann er endlich zu telefonieren; doch niemand wusste wo Elfriede war.
Karlfried holte sein Auto aus der Garage und fuhr sämtliche Strecken ab, überall dort, wo er Elfriede vermuten konnte. Nichts, sie blieb verschwunden.
Auch die Polizei konnte ihm nicht helfen. Elfriede war weder krank noch suizidgefährdet, sie war einfach nur weg!
„Sie kommt bestimmt bald wieder. Vielleicht braucht sie nur eine kleine Auszeit? So was passiert öfter mal“, trösteten ihn die Beamten.
Für eine Suchmeldung sei es allerdings noch zu früh! Also fuhr Karlfried betrübt nach Hause.
Als er dort ankam sah er Elfriede im Vorgarten; ihre Blumen blühten wunderbar! Er sah Elfriede in den Fensterscheiben, die ihn saubergeputzt entgegen glänzten. Als er zur Haustür einging, roch er Elfriede in der frischen Raumluft, die ihn sogleich umfing. Er blieb einen Moment stehen und genoss unsicher diesen herrlichen Duft.
„Elfriede, bist du da?“, rief er schwach zwischen wissen und hoffen in den Raum hinein. Keine Antwort.
Betrübt strich er sanft über die Türrahmen, über die Möbel, über die Fensterbänke; er ging in jedes Zimmer. Überall sah, roch und hörte er Elfriede. Aber Elfriede war nicht da.
Von Sehnsucht erfüllt nahm er vorsichtig ihre Handarbeiten aus dem Korb, der neben dem Sofa stand. Geschickt hielt er das Nadelspiel in seinen groben Händen. Es sollten Socken für ihn werden.
Oh wie er es hasste, wenn sie strickte. Jetzt würde er ihr liebend gerne beim Stricken zusehen, würde sie bitten, wenigstens eine Runde nur für ihn zu stricken. Aber Elfriede war nicht da.
Er roch an ihrem Strickwerk und er roch ihre Handcreme. Dann drücke er das weiche fertige Teil an seine Wangen, mal links, mal rechts.
„Ob sie mich doch verlassen hat?“, fragte er sich leise. Schnell verwarf er diesen absurden Gedanken.
„Nein! Elfriede würde mich niemals verlassen. Ich war immer gut zu ihr und sie liebt mich!“
Doch Elfriede kam nicht heim.
War er wirklich immer gut zu ihr gewesen?
Er schämte sich erneut, denn er erkannte plötzlich, dass er Elfriede schon lange nicht mehr gesehen hatte - nicht wirklich gesehen hatte. Tagaus, tagein kam er von der Arbeit nach Hause und sein Essen stand immer fix und fertig auf dem Esszimmertisch, lecker und frisch gekocht - kein Dosenzeug.
Auch seine Wäsche war stets frisch und sorgfältig zurechtgelegt, wenn er nach der Arbeit schnell unter die Dusche sprang. Er musste sich nie etwas zusammensuchen oder gar einen Knopf annähen.
Selbst die Tageszeitung lag für ihn ungelesen, so erschien es ihm jedenfalls, in Griffnähe. In der Morgenfrühe schaffte er es nicht einmal sie nur kurz durchzublättern. Darum las er sie erst nach Feierabend und das recht gründlich.
„Ob sie mir zuliebe die Zeitung auch erst am Abend liest, wenn ich fernsehe oder mal kurz nach Heinz auf ein Schnäpschen gehe?“
Er kratzte sich an die Stirn: „Hm, was macht Elfriede überhaupt abends, wenn sie nicht strickt?“
Er erschrak erneut, denn er wusste es nicht! Hin und wieder ging sie zu ihren Freundinnen, oder in den Garten, oder gleich ins Bett, das bekam er so gerade noch mit. Aber war das alles, was sie am Abend tat?
Warum sah sie nie mit ihm fern?
Alles hatte sich im Laufe der Jahre eingespielt und festgefahren. Und sie waren dennoch zufrieden.
Falsch! Er war zufrieden und Elfriede war weg!
Nun begann er erneut das ganze Haus von innen zu streicheln.
In allem fand er sie, nur sie fand er nicht.
Die Zeit verstrich. Aus Tage wurden Wochen und aus Wochen Monate. Karlfried versuchte immer wieder vergeblich, in Gesprächen mit der Familie oder ihren Freundinnen, Elfriede zu finden.
Seine Trauer ließ ihn blass aussehen und er magerte ab. Er mochte nicht mehr essen, denn ohne Elfriede schmeckte ihm nichts mehr. Alles war fad und stumpf; selbst der Himmel blieb bei hellem Tageslicht dunkel.
Bald sah er auch Elfriedes Blumen nicht mehr. Alles um ihn herum wurde grau, blieb grau, und grau wurden seine Haare. Die Sonne hörte endgültig auf zu scheinen; er siechte dahin.
Ohne Elfriede war alles leer. Und er, der bedauernswerte, der verlassene Gehörnte, so fühlte er sich jetzt, war dem Tode nahe. So nah, dass er fortan täglich starb.
Da plötzlich – ein schriller Ton! Karlfried schoss in die Höhe. Was war das? Kam die Polizei, um ihm zu melden, dass Elfriede in die Ruhr gegangen sei und jetzt gefunden wurde - ertrunken - tot?
Karlfried sprang auf, lauschte in das Dunkel des Raumes hinein, sein Herz schlug wild . . .
Das Fernsehbild flackerte - er war eingeschlafen! Und wie gewohnt stand er auf, schaltete den Fernseher aus, ging ins Bad, dann ins Schlafzimmer.
Drei kleine LED-Lämpchen leuchteten ihm den Weg zu seiner Bettseite.
Elfriede schlief tief und fest, während er sich hinlegte und seinen Albtraum vergaß.
Zerkratzte Wolken
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verspricht heile Welt
Wer war Ilona Rose
Frau Ilona Rose war eine rothaarige, hübsch aussehende Frau im mittleren Alter. Anna vermutete, in ihr eine interessante Persönlichkeit zu finden, und meinte, es müsse sich lohnen, mehr über diese Frau zu erfahren. Sie begann Frau Ilona Rose, die ehelos lebte, drei Kinder hatte und hin und wieder Herrenbesuch bekam, zu beobachten.
Annas Mutter lebte auch mit vier Kindern alleine und zu ihr kam auch hin und wieder ein Mann zu Besuch. Zu ihm sollte Anna „Onkel“ sagen. Aber das war etwas anderes, denn diesen Mann kannte Anna und er gehörte irgendwie zur Mutter.
Frau Ilona Rose und Annas Mutter plauderten oft stundenlang im Treppenhaus. Das hörte sich zuweilen an, als ständen mehrere Frauen zusammen, so eilig gingen Worte und Gelächter hin und her. Frau Ilona Rose sprach schrill und schnell, Annas Mutter sanft und gedämpft; und sie tuschelten oft, so, als gäbe es etwas zu verheimlichen.
Dabei fiel Anna auf, dass ihre Mutter im Gesicht viel jünger aussah, obwohl sie die Ältere von beiden war. Doch was die Kleidung betraf, da sah Frau Ilona Rose jünger aus, und das erschien Anna recht sonderbar.
Die beiden Frauen lachten viel und zankten sich manchmal. Waren sie zerstritten, dann hörte Anna komische Worte wie: „Die Hure da oben . . .“
Das verstand Anna nicht und sie wollte herausfinden, was eine Hure war. Also saß sie bald öfter und länger am Fenster und beobachtete Frau Ilona Rose und ihre Kinder noch genauer.
Sie erkannte bald: Die vier dort oben schienen recht sonderbar zu sein!
Dagmar war schüchtern und konnte niemandem in die Augen sehen. Sie war rundlich, wirkte langweilig, hatte dunkle Haare und traurige braune Augen. Elke war hibbelig, dünn, rothaarig, mit trotzigen grünen Augen. Und Michael, der Jüngste, war blondgelockt mit träumerischen blauen Augen. Ein niedliches Kerlchen, das aber furchtbar stotterte. Er sei vom Wickeltisch gefallen, hieß es.
Im Gegensatz zur Mutter, wirkten alle drei vernachlässigt, äußerlich wie auch innerlich.
Oft wurde es oben in der Wohnung laut, und zumeist waren es die Stimmen der Herrenbesuche. Aufgrund dessen hörte Anna einmal ein Streitgespräch zwischen ihrer Mutter und den Großeltern, in dem die Mutter die zornige Frage stellte: „Warum schmeißt ihr sie nicht raus, wenn ihr euch so aufregt?“
Sie hörte die Oma antworten: „Wer nimmt sie, wer weiß, wo sie bleibt. Sieh, die Kinder, ist das nicht schlimm genug? Wie oft sind sie alleine. Hier guckt wenigstens mal einer nach ihnen. Michael, der arme Tropf, ist schon verstört genug!“
Dann wurde leiser gesprochen, was Anna neugieriger machte. Sie musste das Ohr an die Tür legen, um besser verstehen zu können. Aber das mochte sie eigentlich nicht, darum entschied sie, einfach wie gewohnt in Omas Wohnung zu gehen, um den Dreien ein bisschen näher zu sein.
Leider ohne Erfolg; das Gespräch wurde abrupt beendet. Wenn sie noch mehr erfahren wollte, musste ein Plan her und sie beschloss, sich mit Elke anzufreunden.
Elkes verrücktes Wesen war aber leider extrem anstrengend. Sobald sich Anna ihr näherte, lief diese wie ein aufgescheuchtes Huhn davon. Also begann Anna, Elke weniger zu beachten und suchte den Kontakt zur Dagmar. Ihre Gedanken dabei waren, Elke aus den Augenwinkeln zu beobachten, um zu sehen, wie sie reagieren würde.
Dagi zögerte, sie wollte sich auf Anna einlassen, blieb aber durch Elkes Gegenwart gehemmt. Elke hielt Abstand und musterte Anna, was Anna genoss, aber nicht so recht verstand, schon gar nicht die drohenden Blicke Dagi gegenüber.
Anna bat ihre ältere Schwester Lina um Rat. Lina meinte mit ablehnender Handbewegung: „Wenn du mit Elke spielen willst, gehst du am besten morgens nach oben. Die Alte schläft dann. Die ist nachts auf Ritt und kommt erst morgens, so gegen fünf, nach Hause. Elke kann dann nicht abhauen, sie muss auf Mike aufpassen. Der hat einen ganz schönen Knall, der rastet oft aus, und Dagi ist ein Angsthase. Da muss Elke hinhalten, damit die Alte pennen kann!“
Anna erschrak über diese Art von Erklärungen nicht mehr. Sie bekam immer häufiger mit, wie mal schlecht, mal gut über Frau Ilona Rose gesprochen wurde, je nach Stimmung im Haus.
Eines Morgens schlich Anna mit starkem Herzklopfen die steile Holztreppe nach oben. Sie wusste genau welche Stufen knarrten. Mühevoll überstieg sie diese; niemand durfte vorgewarnt werden. Doch dann verließ sie der Mut und sie rannte wieder nach unten in die elterliche Wohnung. Dort warf sie sich aufgeregt in den Wohnzimmersessel. Glücklicherweise war niemand da; denn sie schämte sich fürchterlich für ihre Feigheit.
Den Kopf in beide Händen versteckt, schrie es in ihr: „Nein, ich bin nicht feige, nein, nein, nein!“
Am nächsten Morgen startete sie den zweiten Versuch. Sie schlich, mit etwas weniger Herzklopfen als am Vortag, die steile Holztreppe nach oben. Zaghaft klopfte sie an die Tür.
Keine Reaktion.
Mutig klopfte sie das zweite Mal fester.
Die Tür wurde geradezu aufgerissen. Michael stand direkt vor ihr und sechs weit aufgespannte Augen starrten sie an.
Jetzt gibt es kein Zurück, dachte Anna panisch und rief schnell ein freundliches „Guten Morgen“ über Michaels Kopf in die Stube hinein.
Sogleich wurden die Blicke eine Spur ängstlicher und bohrender. Anna sah schnell ablenkend zu Michael hinunter.
Ein plötzliches und liebenswürdiges „Komm doch rein“ erinnerte Anna, warum sie überhaupt an diese Tür klopfte.
„Ich, ich wollte mal gucken, wie, wie es euch, äh, Ihnen geht“, stotterte Anna sich ertappt fühlend.
Die Frau und Mutter, die eigentlich schlief, bot ihr schlaftrunken einen Platz am Tisch an: „Magst du ein Brötchen? Hier ist Wurst, da Käse. Möchtest du Milch oder Kaffee?“
Anna lehnte dankend ab.
Frau Rose schwankte im Morgenmantel, den sie über der Brust zusammenhielt, ungekämmt, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, plump auf ihren Stuhl zu. Neben ihrer Kaffeetasse standen ein Schnapsglas und eine fast leere Schnapsflasche. Gutmütige müde Augen musterten den Gast; hängende Mundwinkel bliesen den Zigarettenqualm an ihm vorbei. Das Gesicht der Frau sah jetzt noch älter aus.
Der Frühstückstisch war maßlos vollgepackt. Nur der Duft von frischen Brötchen verbreitete einen Hauch Gemütlichkeit. Etwas verstört lehnte Anna nochmals das Angebot etwas zu essen ab.
Jetzt saß auch sie, wie die anderen, stumm auf dem Stuhl und wagte sich kaum zu rühren. Elke und Dagmar wichen wie gewohnt zurück, guckten ins Leere. Michael legte seinen Kopf auf den Schoß der Mutter.
Anna fühlte sich wie ein Eindringling. Verlegen sah sie in die Runde, sah die Frau hilflos an, die mit heiserer Stimme versuchte, diese seltsame Situation zu erklären, wobei sie Anna immer wieder Schnaps und Zigaretten anbot. Doch Anna lehnte wiederholt freundlich ab.
Frau Rose stutzte dann für einen Augenblick, wohl flüchtig erkennend, dass sie doch keine erwachsene Person vor sich hatte.
Nach solchen Unterbrechungen erzählte die Frau verzweifelt weiter: vom Schmerz, vom Zorn über die DDR und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten. Dabei liefen ihr erneut ein paar Tränen über die Wangen, und die Zigarettenzüge wurden hastiger.
Sie erwähnte Heidrun, ihr erstes Kind, das sie seit dem Mauerbau nicht mehr gesehen hatte und nach dem sie sich schrecklich sehnte. Als die Mauer von einem Tag zum anderen gebaut wurde, war sie im Westen auf Arbeitssuche, Heidrun im Osten bei den Großeltern. Sie konnte nicht zurück, hatte aber versucht, die Tochter zu sich herüberzuholen. Doch plötzlich brach der Kontakt ab, zu den Eltern, zu dem Kind; ihrer aller Leben war in Gefahr gekommen. Später habe sie nichts mehr über sie in Erfahrung bringen können. Der ganze Schmerz, diese schreckliche Ungewissheit, was warum geschah, brachte sie fast um. Letztendlich scheiterte ihre Ehe daran.
Anna war vollständig überfordert: Osten, Westen, DDR, Gewalt, Mauerbau, Flucht, Todesangst, Heidrun, noch ein Kind, Scheidung, Unrecht, alles Worte, die in ihrer noch Kinderseele Schmerz hervorriefen. Sie verstand nichts, sah die Tränenflut der Frau, der Mutter, die Menge an hastig gerauchten Zigaretten und die immer wieder angebotenen Schnäpse.
Irgendwann stand Frau Rose auf, bedankte sich für das Zuhören, sagte, dass sie jetzt schlafen müsse und schleppte sich ins Zimmer nebenan.
Anna blieb allein zurück. Die anderen hatten sich längst davongeschlichen.
Bestürzt, aber leise, verließ Anna den Raum. Das gerade Erlebte wollte sie nicht stören. Tiefes Mitgefühl überfiel sie. Sie nahm es mit, ebenso den Zorn und die Wut über ein Land, das in sich gespalten schien, Familien zerstörte, unsagbares Leid hervorrief.
Anna war gerade zwölf Jahre alt, als sie zum ersten Mal von einem geteilten Deutschland hörte, und sie erfuhr soeben, was eine durch Gewalt bewirkte Trennung auslösen konnte.
Und am nächsten Tag erlebte Anna, wie eine Frau nicht die Frau ist, die sie wirklich war, als sich beide im Treppenhaus begegneten. Frau Rose war wieder Frau Ilona Rose, hübsch gekleidet und geschminkt, die Haare flott frisiert, ein Lächeln im Gesicht mit der stets wiederkehrenden Frage: „Wo ist deine Schwester? Ich höre sie so gerne lachen.“
Mit dem Essen im Tank
über gelbgereiften Mais
der Hunger sieht zu
Begegnung im Aufzug
„Pssst!“ Das war das Erste was sie wahrnahm, als sich die Aufzugtür öffnete. Ihr gesenkter Blick, der den korrekten Einstieg nicht verfehlen wollte, erhob sich langsam und vor ihr standen vier Personen mit Aktenkoffern und Schultaschen.
Zwei Personen durfte sie schon vor ein paar Tagen kennen lernen. Es waren Mitschülerinnen der Umschulungsmaßnahme, die sie zurzeit besuchte.
Die Tür schloss sich wieder. Die Gespräche setzten sich erneut und gleichzeitig mit dem Fahrstuhl in Gang. Die beiden Aktenkofferträger tauschten einige Worte miteinander, räusperten sich kurz und schwiegen wieder. Die beiden Damen flüsterten unentwegt weiter, zumindest die eine, die ihren Kopf immer wieder kontrollierend hin und her bewegte.
An dem Blick der Zugestiegenen, Margarete war ihr Name, konnte die mit Nachdruck Sprechende nur unschwer ein gewisses Desinteresse erkennen. Was hätte die Zugestiegene von den Gesprächsfetzen im Fahrstuhl auch halten sollen?
Und doch, dieses „Pssst“ machte Margarete unfreiwillig neugierig. Sie ahnte, dass es etwas mit ihr zu tun haben könnte. Bei nächster Gelegenheit würde sie die kleine dunkelhäutige Schönheit selbst danach fragen. Das nahm sie sich fest vor, in der Hoffnung, diese erinnere sich auch an diesen Augenblick.
Der Aufzug hielt eine Etage tiefer als die Drei auszusteigen hatten. Hier befand sich das Büro der Geschäftsleitung der Maßnahme, die die Schülerinnen besuchten. Bis auf Margarete und die zierliche Gestalt stiegen alle aus, auch Sandra, sonderbarerweise. Das war der perfekte Zufall, die erhoffte Gelegenheit, gleich nachzufragen. Und irgendwie schien zwischen den beiden Frauen ein unbewusstes Vertrauensverhältnis zu bestehen, denn die hübsche Rassige erklärte sogleich und leicht verlegen, dass sie Araberin sei.
„Na und?“, fragte Margarete überrascht. „Musst du dich dafür schämen? Du kannst eh nicht verheimlichen, dass du südländischer Herkunft bist. Dich verrät schon allein deine Haut, dein rassiges Aussehen.“ Dabei lächelte sie die andere an und fügte hinzu: „Okay, genau zuordnen könnte ich dich allerdings nicht. Aber was soll’s? Mir ist das nicht wichtig!“
Kurze Pause.
„Du sprichst ein sehr gutes Deutsch. Da könnte ich glatt vergessen, dass du Araberin bist.“ Margarete lächelte ihre Mitschülerin erneut freundlich an. Sie wollte noch einmal unterstreichen, dass es ihr wirklich nichts ausmachte, dass die Abstammung der Anderen, eine andere als die ihre ist; auch wollte sie in der Unterhaltung bleiben.
Die junge Frau lächelte zurück und erklärte stolz: „Wir leben schon viele Jahre in Deutschland. Ich habe hier von Anfang an die Schule besucht . . .“
Beide schwiegen plötzlich und lauschten fragend dem Fahrgeräusch des Aufzugs nach. Irgendetwas schien hier nicht mehr zu stimmen. Der Fahrstuhl hielt in der elften Etage, öffnete die Tür, doch niemand stieg ein und sie beide mussten hier nicht raus. Also drückte eine von ihnen wieder die Acht und sie warteten, was wohl als nächstes passieren würde.
Margarete erkannte das als ein Zeichen; also sprach sie schnell und genau das an, was sie sich vorher noch nicht zu fragen wagte: „Sag mal, warum solltest du vorhin nicht weitersprechen, als ich den Fahrstuhl betrat?“
Die junge Frau, fasst noch ein Mädchen, sah verlegen zu Boden, verstummte für einen Moment und meinte schließlich kaum hörbar: „Wegen des Golfkriegs, den USA und, und überhaupt . . . Es ist mein Land, aus dem ich komme, mein Land!“
„Hm und was hast du, ich meine, du persönlich damit zu tun?“, wollte Margarete jetzt wissen. „Hast du den Krieg begonnen, gewollt, etwa verursacht? Hast du irgendwie, irgendwas zu verantworten?“, fragte sie, die jetzt Tiefbetrübte ihr gegenüber stehend, erstaunt weiter.
„Sandra meinte, ich könnte eventuell genau deswegen Nachteile in der Klasse haben, dass ich vielleicht ausgegrenzt werde. Die Gespräche laufen nur noch um den Golfkrieg, man ergreift Partei, urteilt und verurteilt.“
„Ja sicher tun sie das, ist doch klar! Aber um Partei zu ergreifen, muss man sich schon recht gut auskennen. Und dann hat das mit dem Einzelnen immer noch nichts zu tun!“
Margarete war jetzt etwas aufgebracht, und leicht säuerlich auf Sandra, wegen dieser dummen Bemerkung.
Immer diese Vorurteile, dieses Einschüchtern! Wird das nie ein Ende haben? Was um alles in der Welt kann das Volk schon ausrichten, wenn die Politik versagt, wenn sie Krieg führen will. Es werden immer die Schwachen zu Opfern werden, wenn Mächtige ihre Macht beweisen wollen, ging es Margarete durch den Kopf.
Und, schnell noch ein paar Worte, ungestört: „Du, wir müssen gleich aussteigen. Nur mal kurz eine Frage. Glaubst du an Gott?“
„Ja!“
„Dann weißt du sicher auch von Adam und Eva!“
„Ja!“
„Siehst du, und so sind wir doch letztendlich alle Schwestern und Brüder!“
„Ja.“
„Das ist für mich die Basis, worauf ich erst einmal aufbaue, wenn ich Fremde kennen lerne. Was kümmert es mich, wenn sich andere streiten? Lassen wir, du und ich, uns unsere Freundschaft friedlich beginnen, ohne Angst, ohne Vorurteile. Dann werden wir weitersehen.“ Margarete sah ihre Mitschülerin aufmunternd an; die hübsche Rassige erwiderte irgendwie befreit ihren Blick.
Der Aufzug blieb endlich auf der richtigen Etage stehen und die beiden Frauen konnten knapp vor Unterrichtsbeginn den Klassenraum betreten. Sie lächelten sich noch einmal kurz zu, bevor sie ihre Plätz einnahmen.
An diesem Vormittag flogen etliche Tornados in den Süden.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.