Kitabı oku: «Tiefenlager», sayfa 2

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4.

Anatol wusste genau, was für eine Kirche er sicher nicht gründen würde. Keinen einzigen Tod werde er schönreden, sagte er gleich bei seiner Ankunft zu Petra, sein Innenleben sei streng privat, Rechenschaft werde er nur über seine Taten ablegen. Auch singe er nur, wenn ihm danach sei.

»Wird hier gesungen?«

»Bisher nur privat«, gab Petra zur Antwort.

»Wer versteht etwas von Nuklearphysik?«

»Kurt. Vom Praktischen her.«

»Und sonst?«

»Niemand.«

Anatol war Nuklearphysiker. Er kannte sich aus. »Mehr vom Theoretischen her«, sagte er nach einigen Wochen zu Kurt, denn er hatte nur kurze Zeit in einem Atomkraftwerk gearbeitet. Das war in den 1990 er Jahren gewesen, also schon lange her. Damals hatten die jüngeren Ingenieure und die Hilfsarbeiter für höhere Zulagen protestiert. Bald hatten sie alle gegen sich aufgebracht: die Alten, die Kommunisten, die Kapitalisten, Präsident Jelzin persönlich. Seither wusste Anatol auch ganz genau, was für einer Gewerkschaft er bestimmt nie beitreten würde: Einer Staatsgewerkschaft, die sich wie ein wankender Stahlturm auf jeden Funken Unruhe fallen lässt, alles platt macht, selbst wenn es den Staat, dem sie angehört, gar nicht mehr gibt.

»Dunkel«, sagte Betty auf Deutsch, als ihr Anatol erzählte, wie es damals gewesen sei in dem russischen AKW, wo er Anarchosyndikalist geworden war.

Petra bat ihn, das Amt des Forschers zu übernehmen, Physik und einiges mehr zu unterrichten. So begann Anatol, an seiner Formelsammlung zu arbeiten, Lektionen zu entwickeln, und mit Kurt saß er täglich zusammen, bis die erste Simulation lief.

»Worauf gründest Du Deine Hoffnung?«, fragte ihn Betty am ersten Tag.

»Auf uns und unsere Bereitschaft zum Opfer.«

Die Aufnahmebedingungen des Ordens hatten ihm sofort eingeleuchtet: Ein Mensch, der eintritt, muss mindestens 45 Jahre alt sein. Allfälligen Erben ist ein Pflichtteil auszuzahlen, das restliche Vermögen ist einzubringen. Von der Möglichkeit, in diesem Leben noch einmal Vater oder Mutter zu werden, ist glaubhaft Abschied zu nehmen.

Als das erste gemeinsame Gewand eingeführt wurde, sprach sich Anatol für einen kyrillischen Schriftzug auf der rechten, äußeren Hosennaht aus. Das Wort, das da stehen sollte, hieß auf Russisch und auf Deutsch »Liquidator«. Die Hose konnte sehr günstig und in großen Mengen im Laden des landwirtschaftlichen Genossenschaftsbundes gekauft werden. Es war eine graue Arbeitshose mit schwarzen Taschen. Ликвидатор sollte stets daran erinnern, dass der Träger dieser Hose zu sterben bereit war.

Wenn Anatol betete, dann für die Seelen jener Männer, die in Tschernobyl auf das Dach von Block 3 gestiegen waren, als Block 4 schon durchgebrannt war, und für die Bauarbeiter, die mit Beton einen Sarkophag errichteten und dabei verstrahlt wurden, für die Krankenschwestern, die Patienten auch dann noch pflegten, wenn sie zu gefährlichen Strahlenquellen geworden waren. Niemand konnte alle Namen der Toten nennen, es waren Tausende, Zehn- vielleicht Hunderttausende. Aber einige Namen nannte Anatol im zweiten April, als wir unsere Arbeit unterbrachen, um der Liquidatoren von Tschernobyl zu gedenken.

Weil er keinem Staat mehr angehören wollte, der Tausende von Menschen unwissend in den Tod schickt, war Anatol zum Orden gestoßen. Irgendjemand musste im Notfall freiwillig tun, was zu tun war.

Kurt sah das genauso, aber er hatte eine bessere Meinung von AKWs, von Staaten und von Kirchen. Sogar dem Konsortium brachte er zu Beginn ein gewisses Vertrauen entgegen. Ein Konzern, der dem Konsortium angehörte, betrieb in der Nähe des Stammhauses einen Atommeiler. Dort war Kurt jahrelang angestellt gewesen. Als ihm ein Zerwürfnis mit seinem Vorgesetzten die Arbeit erschwerte, boten sie ihm eine Stelle als Hausmeister der neuen Außenstelle an. So schied er aus dem Dienst im AKW aus, kümmerte sich im alten Steinbruch um die Gebäude des Ordens, um das Wohnhaus und die Maschinenhalle. Im Garten arbeitete er Seite an Seite mit Betty Wang. Er kannte den Boden besser und das Gemüse. Sie war ihm körperlich überlegen. Das hätte er nicht erwartet.

Im AKW war Kurt der Hektik stets mit Ruhe begegnet. Nur so sei ein Unfall zu vermeiden, ermahnte er Petra, wenn sie klappernd und stolpernd unterwegs war. Das wusste auch Betty. Sie kam aus einem Land, in dem die Leute abfällig sagten: »Der hat wohl pressiert«, wenn einer von einer Leiter stürzte, auf der Treppe stolperte oder einen Teller fallen ließ. »Nöd jufle«, war einer der wenigen alemannischen Ausdrücke, die ins Alltagsenglisch des Ordens eingingen: »Nichts überstürzen. Nicht huddeln. Don’t hurry«.

Kurt arbeitete nicht langsam, aber in einem steten Rhythmus. Bevor er ein Gerät ablegte, schaute er genau hin, ob da Platz war. Er hob auch nichts auf, ohne sich zuerst zu vergewissern, ob wirklich das Werkzeug bereitlag, das er sich vorgestellt hatte. Vier Bildschirme konnte er stundenlang parallel und aufmerksam betrachten, ohne etwas in eine Tastatur zu tippen, auch ohne einzunicken. Bei Routinearbeiten führte er die Handgriffe so exakt aus, als sei er selber eine Maschine. Automatisch, aber nicht gedankenlos.

Im Garten legte er Wert darauf, dass beim Jäten die Wurzeln der erwünschten, deshalb verschonten Pflanzen nicht verletzt wurden. Wildes Herumhacken war ihm ein Gräuel. Mit Betty teilte er die Devise: »Man muss den Kopf bei der Sache haben.«

»Das falsche Ventil geöffnet, schon steigt der Druck. Zwei Eimer verwechselt, schon fließt verstrahltes Material, wo es nicht sollte. Ein kleiner Fehler reiht sich an den nächsten, das gibt noch keinen GAU, aber die Strahlung steigt, die Nervosität auch und die Fehlerquellen nehmen zu. Kühlen Kopf bewahren, heißt es dann. Und wenn du Pech hast, rasieren sie dir abends diesen Kopf, damit dich die eigenen Haare nicht verstrahlen. Wie ein Sträfling kommst du aus der Schicht und weißt, dass die Gesamtdosis in deinem Körper wieder stark angestiegen ist. Wenn es so weitergeht, entlassen sie dich Jahre vor der Pension.«

Kurt hatte nicht nur im nahe gelegenen AKW gearbeitet, sondern auch in einer Anlage in Frankreich. Er hatte geholfen, einen alten Meiler abzubauen, war dann heimgekehrt und auf einen recht viel jüngeren Vorgesetzten getroffen, der ihm Floskeln servierte, neue Beurteilungskriterien. Es kam zu Störungen und zu Rückenschmerzen. Die hielten im Kloster nicht lange an. Betty zeigte ihm Übungen. Auch im Garten konnte jede Kniebeuge, jedes Anheben der Schubkarre, jede einzelne Bewegung mit Konzentration, muskelstärkend und kräfteschonend ausgeführt werden. Bald turnte der ganze Orden vor dem Frühstück. Kurt und Betty lieferten ab und zu einen Schaukampf.

Sie brachten die anderen Gründungsmitglieder aber nicht dazu, den Lieblingsfilm der beiden zu mögen: »Die Rückkehr zu den 36 Kammern der Shaolin«. (Ein Film, dessen chinesischer Titel, , von einem Journalisten als geheimer Name des Ordens missverstanden worden ist.) Hier sei sein Prinzip sehr schön dargelegt, sagte Kurt zu Petra: Ein Junge namens Ah Chieh kann sich nicht vorstellen, dass er in einen Orden aufgenommen würde. Also versucht er sich hineinzuschmuggeln, fliegt aber auf. Der Abt schickt ihn nicht fort, verknurrt ihn stattdessen dazu, das ganze Kloster einzurüsten. Drei Jahre lang arbeitet er am Baugerüst, das er ganz allein aus Bambusstangen aufrichtet, mit starken Schnüren sind die Stangen zu verknoten, bald kann er im Schlaf zwei Stangen übers Kreuz zusammenbinden. Niemand weiht ihn in Geheimnisse ein, kein Meister zeigt ihm etwas. Aber von seinem Gerüst aus schaut er den Mönchen zu, die im Innenhof trainieren. Wie von allein erledigen seine Hände schließlich die Arbeit und ganz nebenbei fließen die Übungen der Mönche in seine Bewegungen ein. Monatelang turnt er auf dem Gerüst herum, wird immer stärker, immer geschickter. Schließlich ist er, ohne es zu merken, ein begnadeter Kämpfer geworden. Mit einem eigenen Stil: Niemand sonst bindet seine Gegner mit starken Schnüren an Möbeln, Säulen und Pfosten fest.

Petra mochte die Idee, die Kurt und Betty mit diesem Film verbanden, aber sie zerschlug weiter Geschirr in der Küche, weil sie in Gedanken abschweifte und die Hände mitten in einer Bewegung etwas anderes taten, als sie sollten. Sie machte die Übungen mit, aber kaum saß sie an einem Gartenbeet, dachte sie an Bankkonten, ein Leck im Dach oder die kommende Eiszeit. Schon war die Wurzel einer mehrjährigen Rauke entzwei. Dabei hatte sie gehofft, mit dem Eintritt ins Kloster innere Ruhe zu finden. »… ein geruhsames Leben führen …«, hatte der Zuständige gesagt, an jener Bar in Hongkong. Nachdem Petra alle Verträge unterschrieben hatte, vernahm sie nur noch wenig aus der Zentrale, und doch schien sich die ganze Nervosität des Konsortiums im Klosterhof zu entladen. Die technischen und organisatorischen Probleme des Tiefenlagers vermehrten sich mit jedem Planungsschritt und es dauerte Monate, bis Petra erstmals daran glaubte, dass sich der Orden finanzieren ließe. In jener ersten Zeit mochte sie sich treulich hinter Betty stellen und ihre langsamen Schritte imitieren, tief in den Bauch atmen, ausatmen, die Hände schwenken lassen, als seien sie von höheren Kräften getragen. Aber kaum hatte sie den ewigen Atem der Welt aus ihrer Brust entlassen, stürzten Sorgen auf sie ein. Nachts lag sie noch lange wach im Bett – bis die erste Million zusammen war und Céline eine eigenwillige Pentatonik einführte. Von den Fünftonreihen alter Mönchsgesänge und chinesischer Elegien wollte sie nichts wissen. Besinnliches machte sie nervös. Aber eine Obsession mit der Zahl Fünf war von Betty auf sie übergegangen. Fünf Klangspuren sollten es sein: metallische Geräusche, Vogelstimmen, Wummern und Schlagen. Manchmal sang jemand mit. Anatol hatte einen wunderbaren Bass.

5.

Niemand schien so unverrückbar an den Auftrag des Ordens zu glauben wie Betty Wang. Sie sprach selten, dann aber ausführlich und verästelt, sie sang leise, fast zu vorsichtig, arbeitete im Garten, übte sich im Kampfsport und versah das Amt der Medica. Woher ihr Glaube kam und wie man ihn nennen sollte, war schwer zu sagen.

In Manila war sie aufgewachsen. Als sie dort geboren wurde, galt sie noch als Ausländerin. Viele Jahre sah sie nichts als einen kleinen Ausschnitt ihres Viertels, ein kurzes Straßenstück und ihren Schulweg. Stundenlang schaute sie aus demselben Fenster auf den gegenüberliegenden Gehsteig, die sanft gerundete Kante, die alle paar Jahre weiß bemalt wurde, damit der Randstein wieder frisch aussah und mit ihm die ganze Straße. Auch von den Schachtdeckeln kannte sie jeden einzelnen, rechteckige Zementblöcke, die mit einer eisernen, eingegossenen Schlaufe versehen waren. Alle paar Jahre kam jemand, um den Deckel hochzuheben. Wenn die Regenzeit begann und die ersten Stürme über die Stadt fegten, trat Wasser aus den Kanälen, es stieg durch die Löcher in den bröckelnden Schachtdeckeln und verband sich nachmittags mit dem niederprasselnden Regen. Aus der Nachbarschaft tauchten Kinder auf, die kreischend vor Freude in der Überschwemmung plantschten, als sei das ihr Swimmingpool. Denn jetzt war der Sommer vorbei, die Hitze vorüber, das musste gefeiert werden.

Betty, ihre Schwestern und Brüder fragten erst gar nicht, ob sie auch nach draußen dürften, um mit den Kindern im Wasser herumzuhopsen. Sie saßen nur still hinter dem Fenster und schauten zu.

Auch Monate später, als es immer noch regnete und die Kinder verschwunden waren, das Wasser aber tagelang wie ein ruhiger, schmutziger Strom durch die Straße floss, saß Betty am selben Platz. Sie sehnte sich nach dem Sommer, den gelben Blüten der Bäume, die im Garten des Nachbars wuchsen. Sie freute sich auf das Weiß des Randsteins, sein fluoreszierendes Leuchten in der Sonne. Dann würden auch die Kinder zurückkommen, die Jungen vor allem, und abends vor dem Fenster spielen, bis es dunkel wurde.

Wenn sie sich vom Fenster ab und dem Fernseher zuwandte, sah sie auf dem kleinen Bildschirm, dass es jenseits ihrer Straße Boulevards gab, sechsspurig. Sie führten sternförmig in die Außenstädte; es gab ein Meer, neue Brücken, blitzblanke Einbauküchen, dicht bevölkerte, stählerne Fußgängerüberführungen, Einkaufszentren, Glitzerwelten, die sich hinter hohen Betonfassaden verbargen, Konzerthallen, Hochhäuser, Baukräne, Armen- und Villenviertel, die vom Meer her die Hügel hochwuchsen, sich in Wälder und Felder hineinfraßen.

Ihr Vater hatte ein eigenes Geschäft. Er lackierte Autos und blies Luft in ihre Reifen. Vor dem Geschäft stand, in roten Lettern auf orangem Grund: »vulcanizing shop« und Betty verstand nicht, was die Autopneus mit Vulkanen verband, was ihren Vater aus dem uralten Land hinterm Meer vertrieben hatte, aus jenem China, das er jeden Tag verteidigte, mit jeder Mahlzeit, jedem Balsam, den er einem seiner fünf Kinder einrieb, mit jedem Eintrag ins Kassenbuch. Er verbunkerte sich im Geschäft, das nicht weit vom Wohnhaus entfernt lag, am nächstgelegenen Boulevard, und gebot auch den Kindern Vorsicht. Betty wurde von großen Geschwistern, einem Onkel oder Cousin begleitet, wenn sie das Haus verließ.

Diese Geschichte hat Betty Petra diktiert. Oder vielleicht auch nur skizziert, ich meine beim Lesen oft Petras Stimme zu hören: »Vita of Betty Wang or the beginning of our common life« heißt das schmale Buch, das auch über den Orden hinaus zirkuliert. Seit wir verstreut sind, müssen wir viel mehr aufschreiben.

Mit dem Titel »Vita« bin ich nicht einverstanden, schließlich lebt Betty noch. Sie treibt uns weiter an. Nur das, was dasteht, ist abgeschlossen. Aus den verwirrenden Momenten eines Lebens hat sich eine feste Ordnung gefügt.

Als kleines Kind konnte Betty nicht wissen, wem in jener Straße von Manila die andern, die einheimischen Kinder verpflichtet waren, diese Jungen, die abends vor dem Haus auftauchten, sobald die Regenzeit vorbei war, Basketball spielten und dabei genauso plötzlich und schnell in die Luft sprangen, wie der harte Ball vom Boden abprallte. Betty beobachtete sie durch das Fliegengitter vor dem Fenster und durch die massiven Stäbe, die sie vor den Einbrechern schützten, vor den Entführern. Ständig erzählten die Eltern neue Geschichten von unbezahlbarem Lösegeld, verschwundenen Kindern, auch aus der Nachbarschaft. Leichen erwähnten sie nur kurz, hüllten sich dann in Schweigen, sodass es Betty überlassen war, sich aufgeschlitzte Bäuche und abgetrennte Köpfe selbst auszumalen. Den Vätern der Jungen, die abends vor dem Haus spielten, sei nicht zu trauen. Eine Freundschaft mit Kindern, die zu Hause keinen chinesischen Dialekt sprachen, war verboten. Aber Betty konnte ihre Augen nicht von den Jungen nehmen, die in erster Linie mit dem Basketball verwandt schienen, in kerngesunder Linie, denn unter dem zerfetzten, ausgebleichten Korb bewegten sich die Jungen flink und kräftig, ihre Glieder schienen perfekt zusammenzuwirken, da brach nichts aus. Ihr Spiel ließ jeden Mord vergessen. Und Betty mochte die Sprache des Kindermädchens lieber als das Mandarin, das ihnen in der chinesischen Schule eingebläut wurde, mit wenig Erfolg. Die Lehrerin misstraute ihren Schülern. Sie verdächtigte sie, den Einheimischen ähnlich zu werden, die sie als lebenslustig, aber faul beschrieb, gutmütig, aber verlogen, den Chinesen in allen wesentlichen Belangen unterlegen.

Das Kindermädchen war nicht nur gutmütig, sondern auch sehr herzlich, sie machte gern Witze, verballhornte nicht nur die Worte ihrer eigenen Sprache, sondern auch die chinesischen, die sie nicht verstand, sie schlug weniger hart zu als der Vater oder die Mutter. Und sie glaubte Betty sofort, als diese mit neun Jahren verkündete, ein männliches Herz in ihrer Brust zu tragen. Das sei nicht schön, sagte das Kindermädchen scheu zu den Eltern, aber es komme vor. Nicht selten sogar. Dieses Männerherz war dem Vater ein wüstes Omen, ein weiteres Zeichen des Untergangs. Als liege sein Kaiserreich einmal mehr in Trümmern. Die fremde Stadt, ihre Hitze, die Regenfluten, die Gewalt und das Laster hatten von seiner Tochter Besitz ergriffen. Sie verschloss sich allen Ermahnungen. Begrüßte insgeheim den Niedergang des vulcanizing shop, den Übertritt in die günstigere Volksschule, sie blühte auf unter den tagalog-sprechenden Kameradinnen. Von einem der Mädchen wurde sie besonders geliebt. Unter ihrem Blick soll sich Betty zum ersten Mal schön gefühlt haben, und wenn sie so eng beieinandersaßen, dass sie sich von den Oberschenkeln bis zu den Schultern berührten, schien die Zukunft golden.

Gemeinsam bewarben sie sich für einen Studiengang in Krankenpflege und ein Stipendium. Sie wurden angenommen. Mit achtzehn hatte Betty genug von den Schlägen, die ihr das Männerherz austreiben sollten. Sie lief weg, begann ihr eigenes Leben. In der »Vita« erscheint Manila als erste Meisterin, als überragende Gestalt eines Tantenhimmels, der Bettys Glauben – und damit den Orden – geprägt hat.

Erstmals tauchte sie nun allein in die Stadt ein, sie fragte sich durch, wenn sie am Abend Freundinnen traf oder Arbeiten auslieferte, gelangte hinter die Betonfassaden der Einkaufszentren, in die Glitzerwelt und die riesigen Kinosäle. Um Geld zu verdienen, tippte sie nachts und am Wochenende Manuskripte ab, in wechselnden Büros. Eine Lehrerin bot ihr Obdach. Betty lernte, sich selbst vor Entführern zu schützen. Die kriminellen Banden waren reicher geworden. Hatten sich die Eltern Wang noch vor kleinen Gaunern gefürchtet und vor Polizisten, die gern Chinesen schikanierten, so sahen es die neuen Banden auf Millionenbeträge ab. Sie planten ihre Übergriffe genau, beobachteten die Opfer, studierten Verwandtschaftsnetze bis in die Nebenarme, schlugen in Gruppen zu, verfügten über neue Lieferwagen und Scheinfirmen, ausländische Bankkonten, wo das Lösegeld sicher war.

»Du darfst Dir keine regelmäßigen Routen angewöhnen«, sagte die Lehrerin, bei der Betty untergekommen war. »Die Banden operieren genauso wie einst die Todesschwadronen des Diktators. Sie beobachten Dich wochenlang, um zu wissen, wo sie unauffällig vorfahren können mit ihrem Lieferwagen. Du musst sie also täglich verwirren, indem Du immer wieder andere Wege einschlägst vom Haus zum College, vom College zum Büro. In den Varianten des Heimwegs darf keine Regelmäßigkeit aufscheinen.«

Die Lehrerin sprach aus Erfahrung. Sie hatte eine Diktatur bekämpft, im städtischen Untergrund. Sie wird Flugschriften verfasst haben. Ob sie selber bewaffnet gewesen sei, hat Betty nie gefragt. Nach einem Volksaufstand musste der Diktator das Land verlassen, eine neue Regierung wurde gewählt, eine Präsidentin. Der Kalte Krieg ging dann bald zu Ende. Die Schwadronen blieben jedoch aktiv, im politischen Untergrund wurde auch die neue Präsidentin bekämpft. Aber Bettys Lehrerin hatte einen persönlichen, einseitigen Waffenstillstand verhängt, ihr Kollektiv verlassen, sie war aufgetaucht, um eine Stelle am College anzutreten. Den Namen, den sie vierzehn Jahre lang getragen hatte, legte sie ab. Es kam noch vor, dass sie nicht reagierte, wenn man sie bei ihrem Taufnamen rief, aber langsam gewöhnte sie sich daran, wieder Celia Magnayon de la Cruz zu heißen. Und sie schien es zu genießen, dass die junge Frau, die ihr zugelaufen war, Verwendung fand für einige der Tricks, die ihr jahrelang geholfen hatten, den Tod ein wenig hinauszuschieben.

Betty war oft sehr gut gelaunt, wenn sie Celias Haus verließ und kurz überlegte, ob sie zum Jeepney, einem Kleinbus, gehen sollte, der blühenden Bougainvillea entlang oder zum Stand der Motorradtaxis; vielleicht war ein langer Spaziergang angesagt. »Nicht immer nur dann schlendern, wenn das Wetter schön, aber nicht zu heiß ist«, sagte sie sich. Spazieren bei Regen war ebenfalls auffällig. Man könnte jemandem ins Auge springen, der sonst gar nicht bemerkt hätte, dass da eine junge Frau mit deutlich chinesischen Gesichtszügen durchs Quartier ging. Bei guter Laune waren solche Überlegungen aufregend, ihr neues Leben erschien ihr abenteuerlich. Und sobald sie in einem Jeepney Platz nahm, fühlte sie sich sicher.

Der Verkehr im Großraum Manila sei mündlich organisiert gewesen, heißt es in der »Vita«. Zahlreiche Fahrer hätten Sitzplätze in umgebauten, bunt bemalten Militärjeeps angeboten. Zwölf bis zwanzig Leute seien seitlich aufgereiht im langen Schiff des Gefährts gesessen. Draußen prangten religiöse Botschaften und Pin-Up-Girls, drinnen saß eine kleine Gemeinschaft, deren Regeln jeder verstand, der neu dazukam. Betty und Petra verwendeten die Jeepneys oft als Metapher. Genauso unverwüstlich, weil einfach, stellten sie sich die Regeln des Ordens vor. Du fragst, erhältst eine Antwort, reichst das Geld durch, das Wechselgeld wird dir zurückgereicht. Alle sind Schaffner und Passagier in einem. Es braucht nichts Schriftliches, solange man reden kann und Leute ein- und aussteigen.

Als junge Frau mochte Betty nächtliche Fahrten, wenn eine schwache Glühbirne mit wackelndem Licht das Innere des Jeepneys erhellte und die Gesichter der müden Passagiere zu sehen waren, ihre geschlossenen Augen oder verschleierten Blicke. Sie lernte, sich so an einer Deckenstange festzuhalten, dass sie ihren Kopf in die Armbeuge legen und ein wenig schlafen konnte. Dann war sie aber nicht zur Stelle, wenn Geld für den Fahrpreis oder Wechselgeld durchgereicht wurde, von einem zum andern. Betty fühlte sich im nächtlichen Jeep an urzeitliche Kähne erinnert, an die malaiischen Seefahrer, die von Westen her weitere Inseln ansteuerten, jeder Kahn ein Dorf. Wochenlang fuhren sie von Java her übers Meer und besiedelten Insel um Insel, eng zusammengekauert in einem riesigen Hohlbaum waren sie in der Bucht von Manila angekommen, um hier heimisch zu werden. So schaukelte auch Betty durch die Stadt, als sei sie auf dem Weg zu ihrer Insel, die sie besiedeln würde, umgeben von fremden Leuten, die so eng saßen, dass sie sich gegenseitig stützten; unter diesen Passagieren konnte man nicht vom Sitz fallen. »La pobre inocencia de la gente«, sang Mercedes Sosa auf einer alten Musikkassette, die Celia manchmal einschob. Jede Schnulze, die ein Jeepneyfahrer laut scheppernd laufen ließ, schien Betty zu versprechen, dass dieses arme Volk unschuldig sei.

Aber an schlechten Tagen, wenn sie müde und mit Kopfschmerzen erwachte, hangelte sie sich kraftlos in den Jeep, verdammte die Lautsprecher, die plärrend ihre Schmerzen verstärkten. Manchmal war sie den Tränen nahe, wenn sie eineinhalb Stunden am Boulevard stand, unter lauter Leuten, die ebenfalls auf eine Gelegenheit warteten, nach Hause zu kommen, und verregnet wurden, weil es nichts nützte, unter dem Unterstand zu warten. Der war zu klein und kein Jeep fuhr bis zum Unterstand. Man musste sich auf die Fahrbahn hinauswagen, einem Jeep nachrennen und aufspringen, sonst war er voll und brauste an den nassen Leuten vorbei, die da unglücklich warteten. An solchen Tagen schien sich die Stadt gegen sie zu wenden. Dann klammerte sich Betty an ihrer Tasche fest, um nicht auch noch bestohlen zu werden. Es kam vor, dass sie auf die Wasserlachen nicht mehr achtete und knöcheltief in dreckiger Brühe stand. Das war auch nicht schlimmer als scheel angeblickt zu werden, weil ihr Tränen übers Gesicht liefen.

Aber selbst an solchen Tagen wurde sie froh, wenn an einer Kreuzung auf einer Plakatwand, haushoch über allen Wartenden das Gesicht von Jet Li zu sehen war. Von Hand gemalt, mit hellroten Backen und leuchtendem Blick thronten stets Filmstars über dem Verkehr. Übermenschlich. Sharon Cuneta. Fernando Po Junior. Und manchmal auch der Kämpfer aus Beijing, mit listigem und doch freundlichem Blick, die Hände zu einer Drachenkralle geformt.

Wenn ein neuer Kung-Fu-Streifen lief, musste Betty allein ins Kino. Ihre Freundinnen zogen Woody Allen vor, alles mit Jodie Foster oder Susan Sarandon. Sie verstanden nicht, was Betty daran fand, die ganz alten Filme von Jackie Chan, die sie vom Fernsehen kannte, auf Kassette zu suchen, im Wohnzimmer von Celia immer wieder anzuschauen. Sie seien doch kaum von einander zu unterscheiden: Immer läuft der dumme Junge von zu Hause fort, wird weggejagt, weil er zu blöd zum Leben ist. Und dann findet er seinen Meister – streng, stumm und gütig. Stundenlang sieht man den Jungen üben, bis er wirklich kämpfen kann und ein Einsehen hat, ein bisschen weise wird – gerade rechtzeitig, um den bösen Feind seines Meisters zu besiegen.

Betty liebte die eine Szene, die in keinem Film fehlen durfte: Der dumme Junge muss eine kleine Teetasse auf Stecken balancieren, dabei turnen, die Tasse von einem auf den andern Stecken springen lassen, bald jongliert er mehrere Tassen, bewegt sich immer schneller, aber nie gehetzt, schließlich scheint er zu tanzen. Nichts darf zu Boden fallen.

Einen Meister des Kampfsports fand Betty lange nicht, aber sie behauptete sich in der Stadt und sie bewunderte ihre neuen Tanten, die sie alle Tita nannte, die vielen Freundinnen von Celia, Frauen über vierzig, die ihr Vater als verrückt bezeichnet hätte, denn sie trugen ab und zu ein buntes Stirnband und Glitzerschmuck, färbten graue Haare nicht schwarz, vertraten stur ihre Meinung, tanzten noch immer auf Partys, ab und zu tranken sie recht viel.

Tita Rosa legte allen die Karten. Zahlen, Junker und Königinnen verbanden sich mit Waldgöttern, verwehten Feen, Spielern und Guerilleras zu einem Netz, das die ganze Welt umspannte, sich ständig bewegte, keine Verbindung war fest geknüpft, stets musste ein neuer Ausweg gesucht werden aus der Nacht der Seelen. Rosa blickte in der Regel mit verschlossenem Gesicht auf ihre Karten und bat die Besucherinnen, den Eingang selbst zu wählen. Sah sie die Zukunft klar, versteifte sich ihr Rücken und sie sprach mit einer tieferen Stimme, in kurzen Sätzen.

Man musste ihr nicht glauben. Tita Marilyn lehnte alles ab, was an Vorsehung und Weihrauch erinnerte. Wenn sie schon etwas getrunken hatte, erzählte sie von ihrem Buch, das alles enthielt, was zur Zeit des Diktators geschehen war, was aber niemand zu sagen wagte, weil es wenig heldenhaft war. Sie nannte es Autobiographie und schickte die Kapitel, die sie fertig geschrieben hatte, an eine Freundin in Übersee, verlor ständig ihre Kopien, Festplatten gingen kaputt, Disketten verloren. Dann schickte ihr die Freundin aus Übersee die alten Kapitel zurück. Sie waren stets kürzer und farbloser, als Tita Marilyn gehofft hatte. So war es ihr egal, wenn sie nochmals verloren gingen. Das Buch, das sie schreiben wollte, bestand weiter als Ahnung. Neue Seiten, die entstanden – alle paar Monate – gingen per Luftpost ab. Im Kreis der Freundinnen erzählte sie davon. Betty hatte nie etwas zu lesen gekriegt.

Wie die anderen jungen Frauen, die sich um die älteren scharten, erhielt sie bezahlte Aufträge von Tita Gloria. Mit Tonbandgeräten streiften sie durch die Armenviertel der Stadt, sammelten Aussagen, schrieben Berichte, Tita Gloria reiste zu Konferenzen der Vereinten Nationen und trug ihre Schlüsse daraus vor. Machte Vorschläge. Manchmal versammelten sich alle Tanten vor dem Regierungsgebäude und demonstrierten gegen eine Preiserhöhung, gegen Armut, Atomwaffen, Imperialismus, Vergewaltigung und Bordelle. Junge Frauen trugen dann die Transparente.

Betty stellte sich vor, dass sie Jet Li als Onkel neben sich hatte, wenn sie an Soldaten vorbeigingen, die ihre Maschinenpistolen in Anschlag hielten. Sie blickte in die dunklen Visiere und brüllte weiter Parolen, wurde heiser dabei und träumte von einer ruhigen kleinen Wiese vor Hongkong, von einem letzten Kampf, der ganz geordnet stattfand, in chinesischen Gewändern mit weit geschnittenen Ärmeln. Nach dem verdienten Sieg könnte sie langsam über die Wiese gehen, eine Strähne aus dem Gesicht streichen und im Wald verschwinden.

Im Schatten der Bäume würde sie auch Ruhe finden vom ständigen Aufruhr der Liebschaften. Und vom Heimweh. War sie nachts einmal allein im Haus von Tita Celia, sah sie den kleinen Hausaltar vor sich, den die Mutter täglich pflegte. Die ausbleichenden Fotos der Großeltern. Früchte, die ihnen dargeboten wurden. Räucherstäbchen und eine kleine Statue der heiligen Jungfrau Maria. Manchmal weinte Betty, bis ihr die Augen brannten. Vor jenem Altar hatte sie sich früher abgeschirmt gegen den Lärm der Straße und die Hektik des Fernsehprogramms, auch gegen die Stimmen der Geschwister. Wenn sie sich im Anblick der weißgrauen Fotografien verlor, reagierte sie auf gar nichts mehr, was an sie herangeredet wurde.

Eines Nachts, als sie im Haus von Tita Celia zu weinen aufgehört hatte, rief sie ihre Mutter an. Die flüsterte in den Apparat. Fortan trafen sie sich heimlich in einem Einkaufszentrum, um Nachrichten auszutauschen.

Am Sonntagmorgen stand Betty besonders früh auf und ging ziellos spazieren. Es erhob sich kein Verkehr. Selbst die Boulevards blieben seltsam leer. Man sah fast nur Menschen, die zu Fuß gingen. Vögel waren zu hören und die Dunstglocke, die sich an Wochentagen über alles legte, lichtete sich gegen Mittag. Es kam vor, dass am Sonntag ein Stück blauer Himmel zu sehen war. Aus den offenen Kirchen waren Lieder zu hören. Kinderchöre und einsame Priesterstimmen, Hallelujatruppen, klassische Motetten. Alles verband sich auf den Straßen, angenehm ausgedünnt und leise verhallend, mit den Vogelstimmen. Betty hielt es mit Tita Rosa, die sich als Heidenkind bezeichnete, wenn sie die Karten legte. Den großen Religionen stand sie nicht feindselig, aber vorsichtig distanziert gegenüber. Sie sei ab und zu in eine Kirche getreten, habe vom Rand her zugehört, was da gemurmelt, gepredigt oder gesungen wurde, habe hin und wieder ein Gebet gesprochen und sei dann weitergegangen. Am Sonntagmorgen ging Betty von einem Quartier ins andere, sah überall kleine Altäre und zollte ihnen, ohne sich etwas anmerken zu lassen, ihren Respekt. Auf dem Armaturenbrett jedes Jeepneys, der leer herumstand, fand sich eine kleine Statue aus fluoreszierendem Material; wohlriechende, blühende Rosenkränze baumelten über den Auslagen der Straßenverkäufer, daneben verschwammen die dunkel tränenden Augen von Saint Francis. So verlor sie sich in den Straßen und war nicht erreichbar für Zoten, die ihr nachgerufen wurden. Tita Celia kritisierte sie scharf. Man dürfe nicht leichtsinnig werden. Dieser Stadt sei nicht zu trauen, dem frommen Gesäusel schon gar nicht.

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