Kitabı oku: «Republik der Werktätigen», sayfa 2
Der Absturz – Einsatz im Studentensommer
Wolfgang Schüler
(picture alliance / imageBROKER / Michael Nitzschke)
Von 1973 bis 1977 habe ich an der Leipziger Karl-Marx-Universität Wirtschaftsrecht studiert. Ich erhielt – wie die meisten meiner Kommilitonen – 180 Mark Stipendium im Monat. Ein Internatsplatz kostete damals zehn Mark monatlich und eine Essenmarke in der Mensa etwa eine Mark. Alle Studenten waren krankenversichert, und sie konnten überdies zu stark verbilligtem Preis öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Die Grundversorgung war gesichert. Niemand musste Existenzangst haben.
Doch auch in der DDR gab es nichts umsonst. Von den Studenten wurde beispielsweise erwartet, dass sie in den Semesterferien drei Wochen lang am sogenannten FDJ-Studentensommer teilnahmen. Mit der Freiwilligkeit war das so eine Sache. In der Endkonsequenz konnten sich nur Kranke oder Fußlahme drücken.
Die Einsätze fanden zumeist in sozialistischen Großbetrieben statt und waren in der Regel sehr speziell. Die Studenten mussten beispielsweise in Brikettfabriken Kohlengruß schaufeln, für Nahverkehrsbetriebe Kabelgräben ausheben oder in Wäschereien die Lauge in den Bottichen umrühren. 1975 hatte es mich während des FDJ-Studentensommers in das Plattenwerk Neuwiederitzsch verschlagen, einen Zweigbetrieb des volkseigenen Wohnungs- und Gesellschaftsbaukombinats (WGK) Leipzig.
Bei der Einweisung wurde ich angenehm überrascht. Pro Doppelschicht sollte ich 100 Mark plus eine kostenlose Mahlzeit erhalten. Nach den drei Wochen mit ihren 15 Arbeitstagen würde ich demzufolge 1.500 Mark bar ausgezahlt bekommen und könnte völlig sorgenfrei mit meiner Freundin eine Reise nach Bulgarien antreten.
Doch wer mit dem Teufel frühstücken will, braucht einen langen Löffel. Das merkte ich, nachdem ich meine Arbeitsschutzbekleidung – Fußlappen, blaue Kombi, schwarze Gummistiefel, rote, bis an die Ellenbogen reichende Gummihandschuhe und einen gelben Schutzhelm – angelegt hatte und in meine Arbeit eingewiesen wurde.
Studenten erhalten Arbeitsaufgaben für den FDJ-Studentensommer. (picture alliance / ZB / Thomas Uhlemann)
In der Halle verharrte die Quecksilbersäule des Thermometers bei 35 Grad. In großen, zu Batterien zusammengefassten Formen wurden aus Beton Fertigteile für Neubaublocks gegossen. Dazu brauchte es viel Dampf, Öl und Hitze. Flüssiger Beton glitschte aus Steigleitungen in die Formen. Überschüssige Reste tropften in Abwasserkanäle.
Der Brigadier war Ende dreißig, groß, hager und hatte schlechte Zähne. »Ich heiße Leonhard, Klaus. Klaus ist mein Vorname. Studenten sind Parasiten an der Volksgesundheit, wie mein Vater immer zu sagen pflegte. Hier in meiner Halle hat es noch nie einer länger als eine Woche ausgehalten. Dir Milchreisbubi gebe ich zwei Tage.«
Er sollte sich irren, wie sich bald herausstellen würde.
Der Brigadier drückte mir einen Presslufthammer in die Hand. Damit sollte ich die versandeten Kanäle von den Betonresten befreien. Es war eine Knochenarbeit. Ich musste mit aller Kraft den Presslufthammer nach unten drücken. Die Betonbrocken ließen sich nur mühsam lösen. Bereits nach einer Viertelstunde zitterten mir Arme und Beine.
Als es zur Frühstückspause klingelte und ich die Höllenmaschine abstellen durfte, vibrierten meine Hände im Rhythmus des Presslufthammers weiter. Nach einigen Minuten Ruhe kam der Brigadier auf mich zu. Hoffentlich gibt er mir eine andere Arbeit, betete ich im Stillen. Doch mit den Wünschen ist es so eine Sache. Manchmal gehen sie in Erfüllung.
Klaus reichte mir einen Schraubenschlüssel und deutete auf eine Art Hochspannungsmast, in dessen Inneren ein Rohr von etwa 20 Zentimetern Durchmesser nach oben lief.
»Das ist das Betondruckrohr. Mit ihm pumpen wir den flüssigen Beton auf die Batterie. Dort oben« – der Brigadier zeigte auf eine Stelle in fünf Metern Höhe – »ist ein Segment geborsten. Du musst am Mast hochklettern, die Metallmuffen lösen, die Dichtungsringe auswechseln und ein neues Rohrstück einsetzen. Dann schraubst du alles fest. Die Arbeit ist völlig ungefährlich, weil kein Druck mehr auf der Leitung ist. Klaro?«
Ich nickte und begann den Aufstieg. An sich wäre es kein Problem gewesen, weil ich mich an den Metallstreben gut festhalten konnte. Doch es triefte alles vor Öl. Ständig rutschte ich mit den Gummistiefeln ab, und auch die unförmigen Handschuhe behinderten mich sehr. Oben angekommen, klammerte ich mich fest. Ein Arbeiter warf mir von der Batterie gegenüber ein Seil zu. Ich band es um das defekte Segment und begann, die Schrauben zu lösen. Schweiß floss mir über die Stirn und stach mir brennend in die Augen.
Öl und warmes Wasser tropften mir ins Gesicht, vermischten sich mit dem Schweiß und liefen mir die Brust und den Rücken hinunter. Ich schob die Muffen nach unten und nach oben, zerrte die Dichtungsringe heraus und kantete das Rohr aus der Führung. Der Arbeiter ließ es herunter. Ein neues Segment schwebte nach oben. Ich musste mich weit strecken, um es erreichen zu können. Ich passte das Rohr ein, nahm vorsichtig den ersten Dichtungsring aus der Tasche, hob die Zuleitung ein Stück an und schob den Dichtungsring dazwischen. Eigentlich hätte ich vier Hände haben müssen: Zwei zum Heben des Segments, eine für den Dichtungsring und eine zum Festhalten.
So blieb mir nichts weiter übrig, als den Eisenträger von außen zu umklammern und gleichzeitig am Rohr zu hantieren. Immer wieder rutschte ich mit den Gummistiefeln ab, der Vierkantstahl der Gerüstkonstruktion schnitt schmerzhaft in die Oberarme ein. Das wird eine Menge hübscher blauer Flecke geben, dachte ich mir.
Studenten der Karl-Marx-Universität arbeiten auch im Sommer 1982 in einem Plattenwerk in Leipzig. (picture alliance / ZB / Waltraud Grubitzsch)
Nachdem ich auch den obersten Dichtungsring nach zahllosen schweißtreibenden Versuchen eingepasst hatte, war der schwierigste Teil der Arbeit getan. Die öligen Muffen rutschten leicht über das Rohr und ließen sich problemlos festschrauben. Ich blickte nach unten in die Tiefe. Der Abstieg konnte beginnen.
Ich schlotterte am ganzen Körper, so hatte mich die ungewohnte Anstrengung erschöpft. Zentimeter um Zentimeter tastete ich mich an den schmierigen, glitschigen Metallstützen nach unten, bis ich wieder Halt auf einer Querstrebe fand. Plötzlich rutschte ich mit der Sohle meines linken Gummistiefels ab. Das geschah dummerweise genau in dem Moment, als ich mit dem rechten Fuß noch nach dem nächsten Halt suchte. Mit einer Hand hing ich an dem Gerüst. Ich wollte mit der anderen Hand nachfassen, aber ich erreichte die Querstrebe über mir nicht mehr. Ich zappelte hilflos mit den Beinen. Dann stürzte ich schreiend ab.
Aus vier Metern Höhe prallte ich auf einen aus Eisenbahnschienen zusammengeschweißten Rahmen, in dem eine zum Trocknen aufgestellte Betonplatte stand. Ein unbestimmter Reflex veranlasste mich, meine Bauchmuskulatur anzuspannen. Es gab ein hässliches Geräusch, als der ölverschmierte Stahl meine blaue Arbeitskombi zerriss und sich in meine Bauchdecke bohrte. Um mich herum wurde es dunkel, sehr dunkel. Mein mildtätiger Organismus hatte sich dafür entschieden, den unsagbaren Schmerz zunächst nicht in mein Bewusstsein dringen zu lassen.
Ich wurde wieder wach, als grelles Tageslicht zwischen meine Lider drang. Zwei Arbeiter hatten mich links und rechts gepackt und schleppten mich den Plattenweg draußen vor der Halle entlang. Meine Gummistiefel schleiften über den rauen Boden. Ich stöhnte. Der Brigadier seufzte erleichtert auf, weil ich offensichtlich noch nicht gestorben war. Er dirigierte die beiden Träger in die Bereichsbaracke.
Dem Meister entglitten die Gesichtszüge, als er meiner ansichtig wurde. Aber er war ein beherzter, lebenserfahrener Mann. Er ließ den Stift fallen, sprang auf und wühlte im Aktenschrank, bis er das entscheidende Papier gefunden hatte.
Ich saß auf einem Holzstuhl mit Seitenlehne, die Beine steif von mir gestreckt, den Rücken gekrümmt. Mit der linken Hand drückte ich den tiefen Riss in meiner Bauchdecke zusammen. Blut quoll zwischen meinen Fingern hervor und tropfte im stetigen Fluss auf den Fußboden.
Ich sah, wie der Meister seinen Mund öffnete und schloss, doch die Worte drangen nicht an mein Ohr. Stattdessen hörte ich ein Summen und ein Brausen. Expresszüge fuhren vorbei und Motoren heulten auf. Immer, wenn der Schmerz in weißen Wellen kam, verschwamm das Zimmer vor meinen Augen. Doch alles war weit, weit weg von mir. Nichts von alledem ging mich das Geringste an. Ich saß auf meinem Platz als unbeteiligter Beobachter, wie ein Besucher im Kino, der zwar die Handlung auf der Leinwand betrachten, aber nicht in sie eingreifen oder ihren Verlauf ändern kann.
Aus einem Reflex heraus wollte ich aufstehen. Es misslang. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr. Die Verbindung zur Außenwelt wurde fragiler. Ich schwankte vor und zurück. Viel, viel später erfuhr ich, dass der Meister mit mir zusammen das Unfallprotokoll aufgesetzt hatte. Mein Schweigen und das Hin-und-her-Wiegen fasste er als Bejahung oder Verneinung seiner Fragen auf, je nachdem, welche Aussage der jeweilige Tatbestand im Formular »Arbeitsunfall durch Selbstverschulden« erforderte.
Irgendwann ergriff der Meister meine rechte Hand und führte mit ihr einen Stift über das Papier. Mit meiner Unterschrift war es verbrieft und gesiegelt, dass ich keinerlei Schadensersatzforderungen an den Betrieb stellen würde, weil ich den Unfall selbst grob fahrlässig verursacht hatte.
Die beiden Arbeiter hoben mich aus meinem Stuhl und schleppten mich zur Sanitätsstation. Die Betriebsschwester schnitt mit einer Schere meine blutverkrustete Kombi auf und untersuchte die Wunde. Ich hörte sie aus weiter Ferne sagen: »Der Mann muss sofort ins Krankenhaus und operiert werden. Er schwebt in Lebensgefahr. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind innere Organe verletzt worden.« Die Schwester legte mir einen Notverband an.
Der Meister telefonierte inzwischen mit der Fahrbereitschaft. »Der Betriebswagen holt ihn gleich ab und bringt ihn in die Klinik. Sorgen Sie dafür, dass er die Polster nicht schmutzig macht.«
Die Zeit dehnte sich und zog sich wieder zusammen. Irgendwann saß ich in einem Wolga auf der Rückbank. Der Wagen fuhr. Dann hielt er an. Er war nicht weit gekommen. Wir befanden uns immer noch auf dem Betriebsgelände, und zwar in Sichtweite vom Werkstor.
Der Fahrer, ein junger Bursche mit Lederjacke, schmalem Oberlippenbärtchen und Elvisfrisur, hievte mich nach draußen und setzte mich auf einen Sandhaufen. Er sagte irgendetwas und deutete auf den Hinterreifen des Wolga. Schließlich verstand ich. Der Wagen hatte einen Platten und der Chauffeur wollte ein Ersatzrad holen.
Ich lehnte mit dem Rücken an einem Baum. Die Beine lagen weit ausgestreckt im gelben Sand. Der Verband färbte sich rot. Vom tiefblauen Himmel stach die warme Julisonne. Die Schmerzen von der aufgerissenen Bauchdecke strahlten in alle Richtungen. Mein Körper wurde zu einer einzigen, quälenden Wunde. Die Schläfen pochten, meine trockenen Lippen sprangen auf, und meine Zunge klebte am Gaumen. Ich röchelte.
Ein Schatten fiel auf mein Gesicht. Ein Mann im blauen Dederonkittel stand vor mir. Ich blickte auf graue Sandalen und ausgeleierte gelbe Socken.
»Was ist mit Ihnen? Sind Sie verletzt?« Ich nickte. Eine einzelne Träne lief mir über das heiße Gesicht und kühlte es angenehm.
»Können Sie nicht sprechen?«
Mit der allergrößten Anstrengung schüttelte ich den Kopf.
Der Mann hüstelte: »Wissen Sie, ich bin nur ein einfacher Ingenieur. Ich würde Sie sofort mit meinem Auto ins Spital fahren, aber das ist strengstens untersagt. Keinerlei Dienstfahrten mit Privatautos, kein Verlassen des Betriebsgeländes während der Arbeitszeit ohne Genehmigung. Sicherlich wird der Krankenwagen bald hier sein.« Der Mann entfernte sich in Richtung Speisesaal.
Ich vermochte plötzlich das Kunststück zu vollbringen, aus meiner Person herauszutreten und über mir zu schweben. Ich sah zu meinen Füßen den leidenden, gequälten Körper, mit dem mich nicht mehr viel verband. Wenn ich wollte, konnte ich meine Schwingen ausbreiten und in den Himmel fliegen. Ich probierte es, und es gelang mir auf Anhieb.
Ich war erneut ohnmächtig geworden und kam wieder zu mir, als mich der Ingenieur schüttelte. »Ich komme vom Mittagessen zurück, und Sie liegen immer noch hier in Ihrem Blut. Jetzt ist mir alles egal. Ich fahre Sie ins Krankenhaus. Warten Sie einen Moment. Ich bin gleich zurück. Ich hole nur meinen Wagen.«
Wieder gab es einen Schnitt. Das Nächste, was mir im Gedächtnis haften blieb, waren sanft zugreifende Hände, die mich auf eine mit Rollen versehene Liege legten. Ich schaute auf die hellen Neonröhren über mir, als ich lange Korridore entlanggeschoben wurde. Langsam versank ich wieder in einer warmen, weichen Watteschicht. Die Schmerzen verschwanden.
»Sie dürfen nicht einschlafen! Bleiben Sie wach!«, war das Letzte, was ich hörte, bis ich endgültig im Nichts versank.
Aber ich sah kein gleißendes Licht. Ebenso wenig zog mein gesamtes bisheriges Leben im Zeitraffer an mir vorbei. Vielleicht erwachte ich deshalb wieder. Diesmal befand ich mich auf der Männer-Unfallstation vom St.-Georg-Krankenhaus. Auf der einen Seite standen 15 Betten in einer Reihe, auf der anderen Seite ebenso viele. Jeder Patient besaß ein eigenes Nachtschränkchen. Außerdem gab es zwei Tische und zehn Stühle. Es stank nach menschlichen Ausdünstungen und Desinfektionsmitteln.
Links neben mir lag ein Dachdecker, der Tag und Nacht ununterbrochen stöhnte. Er war von der Leiter gefallen und hatte sich die Wirbelsäule gestaucht. Rechts von mir jammerte ein Zuhälter. Ein Konkurrent hatte ihm mit einer abgeschlagenen Flasche den Hals aufgeschlitzt. Schräg gegenüber greinte ein ungetreuer Ehemann. Seine Gattin hatte ihm eine Tranchiergabel bis zum Knauf in die Brust gerammt.
Ein Jahr darauf – ich konnte bereits seit einigen Wochen wieder ohne Schmerzen aufrecht gehen – las ich im Seminargebäude auf einem Anschlag am Schwarzen Brett, dass für den Studentensommer 1976 zwei Studenten mit einer Elektrikerausbildung gesucht würden. Sie sollten in Dranske an der Ostsee Stromleitungen in Bungalows verlegen. Ich meldete mich sofort, obwohl sich meine Kenntnisse auf diesem Gebiet darin erschöpften, dass ich als kleiner Junge einmal meine Puppenstube unter Verwendung von Klingeldraht und einer Flachbatterie erleuchtet hatte.
Tatsächlich wurden in den erst halbfertigen Bungalows noch gar keine Elektriker benötigt. Stattdessen verlegte ich von morgens um acht bis mittags um zwei Uhr Fußbodendielen. Anschließend ging ich an den Strand, um mich zu erholen. Meine Kommilitonen vergnügten sich unterdessen unter demselben blauen Himmel wie ich beim Kiesschippen in einer Leipziger Zementmischanlage.
Blut, Schweiß and Tränen – Ein Sommer als Elektroköhler
Uli Jeschke
(BArch Bild 183-1984-0402-019 / Peter Zimmermann)
Auch in der DDR waren Studenten ständig auf der Suche nach einer Aufbesserung der Haushaltskasse. So schob man schon mal Schichten auf dem Güterbahnhof oder saß ein paar Nächte lang am Band des VEB Narva Kombinat Berliner Glühlampenwerk. Das zusätzliche Geld wurde dann für vieles Nützliche, aber auch viel Unnützes ausgegeben, für studentischen Luxus quasi. Brauchte man etwas mehr Geld, schließlich gründeten viele Paare zu meiner Zeit fleißig Familien schon während des Studiums, gab es die sehr sinnvolle Erfindung des Studentensommers. Die Betriebe glichen damit, zumindest teilweise, die Defizite aus, die das im Sommerurlaub weilende Stammpersonal verursachte. Auch für Studenten war es lukrativ, es gab zwar nur den Lohn für Ungelernte, jedoch ohne Abgaben. So war brutto auch netto.
Ich bewarb mich 1978 um Arbeit beim VEB Elektrokohle Lichtenberg (EKL) in Berlin. Die Organisation lief über Komitees der Freien Deutschen Jugend (FDJ), die die Arbeitsplätze akquirierten, die Rahmenverträge abschlossen und sich um soziale Belange, wie um eventuelle Unterkünfte, kümmerten. Von Kommilitonen hatte ich gehört, das EKL bezahle recht gut, also nichts wie hin, für vier Wochen sollte ich nun Elektroköhler sein.
Der erste Tag begann noch zu einer »zivilen« Zeit, um acht Uhr sollte ich mich am Tor in der Herzbergstraße in Berlin-Lichtenberg einfinden, ich würde abgeholt, beschied man mir bei der Bewerbungsbestätigung. Ich hatte keine Vorstellung von der Arbeit in dem damals riesigen Betrieb mitten in Berlin. Es sollte der heißeste Sommer meines Lebens werden …
Früh um acht stand ich also mit einigen anderen Studenten vor dem Eingang des VEB Elektrokohle Berlin. Empfangen wurden wir von einem Abgesandten der FDJ-Betriebsleitung. Dazu hatte sich ein Mensch aus der Kaderabteilung (Neudeutsch: Personalabteilung) gesellt. Der Rundgang durch den Betrieb begann hinter dem Tor mit einem Spalier von Schaukästen, in denen Fotos und Lesebeiträge hingen. Offensichtlich handelte es sich um die »Straße der Besten«, Einzelpersonen und Kollektive, die irgendetwas besonders gut gemacht hatten und nun als Vorbilder dienen sollten. So im Vorbeigehen huschten die Gesichter nur flüchtig an einem vorbei. Links befanden sich die Werkhallen, etwas weiter rechts die Verwaltungsgebäude.
In der ersten Werkhalle schlug uns eine gewaltige Hitzewelle entgegen. Obwohl es draußen 24 oder 25 Grad warm war, kam es mir vor, als hätte sich die Temperatur in der Halle noch einmal verdoppelt. Natürlich war es sehr laut und auch staubig. Der Kohlenstaub sollte sich, obwohl man sich werksseitig alle Mühe gab, ihn zu binden, damit er nicht durch die Luft waberte, innerhalb kürzester Zeit an allen Stellen des Körpers festsetzen. Doch Staub und Lärm waren nicht das Schlimmste, es war diese Hitze. Die kam, hier im Bereich Kleinkohle, aus den in der Mitte der Halle befindlichen Öfen – großen Löchern, in denen man die Graphitstäbe, aus denen später »Schleifkohlen« aller Größen und Formen werden sollten, brannte.
Arbeitsbrigade im VEB Elektrokohle Lichtenberg (1979) (BArch Bild 183-U0723-005 / Peter Zimmermann)
Jetzt erst verstand ich den Begriff »Elektrokohle«. Nun plötzlich wurde mir klar, dass diese Elektrokohlen die Schleifbürsten waren, wie sie in jedem Elektromotor und Generator benötigt werden als Gleitkontakte zum Rotor oder den Schleifringen. Gefertigt wurden sie aus Graphitpulver, das je nach Anwendung mit unterschiedlichen Metallpulvern gemischt wird. Das Pulvergemisch wird dann gepresst und danach in einem Ofen gebrannt, um seine Festigkeit zu erhalten. Natürlich waren die Öfen isoliert, doch die Hitze, die sie abstrahlten, war enorm. In einem anderen Bereich sahen wir, wie einige Beschäftigte mit dem anfallenden Graphitgruß, der nach dem Brennen der Kohlen entstanden war, kämpften.
Eine weitere neue Erkenntnis: Diese Kohlen gab es in fast allen Größen und Formen. Kleine, bleistiftdicke kannte ich aus meinem Fahrraddynamo, den ich als Jugendlicher auseinandergebaut hatte, oder aus den Küchengeräten, die mein Vater zu Hause auseinanderschraubte, um sie zu reparieren. Er konnte dabei auf eine Erfolgsquote von mehr als 80 Prozent blicken, nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass heute fast nur noch weggeworfen wird. Während meiner Lehre hatte ich auch die riesigen Generatoren auf den russischen Loks gesehen, die immerhin eine Leistung von 3000 PS ermöglichten. Aber die Vielfalt von Elektrokohlen war wirklich immens, es wurden Kohlen von nur wenige Gramm wiegend bis zu einer Tonne im EKL gefertigt. Elektromotoren- und Generatorenbauer in der ganzen Republik waren darauf angewiesen.
Das erklärt sicher auch, warum die Arbeitsbedingungen noch denen am Beginn des 20. Jahrhunderts glichen. 1872 gegründet, stammten wesentliche Teile des Werkes aus dieser Zeit. Stilllegen und Erneuern konnte man sich offenbar nicht leisten, wollte man die Herstellung der damit gefertigten Produkte nicht gefährden. Importieren war auch problematisch, denn es hätte teure Devisen gekostet oder wäre gar nicht möglich gewesen, denn die Wirtschaft der DDR litt, wie die aller sozialistischen Länder, unter dem Boykott der westlichen Länder, eine Art Krieg im Kalten Krieg.
Nach unserem Rundgang war ich natürlich beeindruckt von den Arbeitsbedingungen und fragte den Kadermenschen, ob denn die Fluktuation von Arbeitskräften nicht enorm wäre in einem solchen Betrieb, schließlich konnte keiner gezwungen werden, unter solchen Bedingungen zu arbeiten. Arbeitsplätze gab es genug, und wenn einem der Betrieb nicht passte, suchte er sich einen anderen. Die Antwort fiel jedoch überraschend aus. Der Kollege meinte, wer nach 14 Tagen nicht gegangen wäre, der bliebe meist sehr lange. Fast 80 Prozent der Belegschaft wären seit vielen Jahren im Betrieb, was auch die Arbeitskollektive sehr stabil machte.
Was genau er damit meinte, sollte ich während der nächsten Wochen erfahren. Wir empfingen unsere Arbeitsklamotten, die man nach einer Woche tauschen konnte, bekamen die Umkleide- und Duschräume gezeigt und wurden den Abteilungen zugeteilt. Ich kam in die »Kleinkohle«.
Am nächsten Morgen schrillte mein Wecker um dreiviertel fünf. Für einen Studenten eine unchristliche Zeit. Um halb sechs stand ich vor meinem Spind im Betrieb und hievte mich in die Arbeitsklamotten. Pünktlich um sechs (besser fünf Minuten vorher) meldete ich mich beim Meister in der Kleinkohle. Der begleitete mich an die Stirnseite der Halle zu meinen neuen Kollegen. Nach einer zurückhaltenden Begrüßung erklärten sie mir, was ich zu tun hätte. Es war glutheiß, staubig und laut. Aber ich war neugierig und so hörte ich zu und sah mich um.
Die Kollegen brachten mich zu einer großen Schleifmaschine. Links neben der Maschine stand ein Rollwagen, auf dem kleine Schleifkohlen lagen. Nun, klein war relativ, die Dinger hatten die Form einer Zigarrenschachtel, waren aber doppelt so groß, dafür etwas schmaler. An ihnen haftete jede Menge körniger Kohlengruß. Beim Brennen in den Öfen blieb der an den Kohlen hängen, mal mehr, mal weniger fest. Meine Aufgabe sei es, erklärte mir einer der Stammarbeiter, den Kohlengruß von den Kohlen abzuschleifen und diese dann auf einem Wagen rechts der Maschine zu stapeln. Als ein Kollege es vormachte, sah es nicht schwer aus und ging ruckzuck. Kohle nehmen, längs über die Schleifscheibe schieben, Vierteldrehung, zurück, wieder Vierteldrehung usw. Danach noch die Stirn- und Rückseite und fertig.
Nun war ich an der Reihe. Die erste Überraschung war, dass das Kohlenstück schwer wog, um die 1,3 Kilogramm. Mit den Schutzhandschuhen, die man wegen der Schleifscheibe tragen musste, war das Handling auch nicht einfach. Und es dauerte bei mir, so ein Stück an der Schleifscheibe hin und her zu schieben. Gott, was stellte ich mich ungeschickt an. »Nur Geduld«, riet mir mein Kollege, »und übe.«
Doch wenn ich rechts und links von mir sah, wie die »richtigen« Arbeiter das schafften, packten mich eher Ungeduld und Verzweiflung. Nach einer Stunde war ich ziemlich fertig, nach zwei Stunden hatte ich die Handschuhe »durchgeschliffen« und war mit der Haut über die Schleifscheibe geschrammt. Ein bisschen Blut, nichts, was ein Pflaster nicht richten konnte. Zwischendurch trank ich Unmengen des vom Betrieb zur Verfügung gestellten Hitzegetränks, eine Art Mineralwasser mit Salzgeschmack. Es sollte die ausgeschwitzten Mineralstoffe wieder in den Körper spülen.
Zu Schichtende um halb drei war ich körperlich völlig herunter und hatte einen Tag mit Blut, Schweiß und Tränen hinter mir, weil nichts hatte klappen wollen. Ab ins Wohnheim. Die Flasche Sanddornsaft, die es auch kostenlos gab, wurde im Verhältnis eins zu eins mit Wodka verdünnt, zusammen mit einem Kumpel geleert, und dann ging es im Hellen ins Bett, schließlich würde der Wecker wieder um 4.45 Uhr klingeln.
Arbeiterinnen bei der Pause in einer Produktionshalle des VEB Elektrokohle Lichtenberg (1985) (picture alliance / ZB / Wilfried Glienke)
Als ich mich am nächsten Morgen vor dem Umkleideschrank des Betriebs in die noch klammen Klamotten quälte, war ich noch angeschlagen. An die Maschine! Kohle für Kohle schleifen, schleifen, schleifen. Ich kam nicht einmal dazu, über die Arbeit nachzudenken, und über die Leute, die sie tagein, tagaus verrichten.
In der Pause fragte ich immerhin meinen Kollegen, wie viele Kohlen ich eigentlich in einer Schicht schaffen müsse. Die Norm wäre 800 Stück, erklärte dieser, das wäre gut zu schaffen, wenn es einem einigermaßen von der Hand ginge. Um optimal verdienen zu können, sollten 110, maximal 115 Prozent der Norm erreicht werden. Dann gäbe es Zuschläge. Jedoch niemals mehr als 120 Prozent. Das würde auf Dauer nur zu einer Normerhöhung führen und dann wäre es mit dem schönen Zusatzverdienst vorbei … O weh, ich hatte am ersten Tag um die 200 Kohlen geschafft, und es sah nicht so aus, als ob es an den nächsten Tagen mehr würden, wenn ich auch noch auf meine Finger über der Schleifscheibe achten wollte.
Doch ich sollte mich irren. Mehr und mehr gewöhnte ich mich an die Bedingungen und meine Bewegungen wurden routinierter, obwohl ich selten über 500 bis 600 Kohlen pro Schicht hinauskam. Von Tag zu Tag lernte ich auch das gute Essensangebot der Betriebsküche zu schätzen und nahm zunehmend an den Pausengesprächen der Kollegen teil. Trotz Unterschieden im Alter, in der Konstitution und in den Interessen besaßen sie untereinander viele Ähnlichkeiten. Sie verrichteten alle täglich dieselbe Arbeit, die meisten bereits jahrelang. Es wechselte nur die Größe der zu schleifenden Kohlen, und alle paar Wochen erteilte der Meister Sonderaufträge. Das hieß meist in anderen Bereichen aushelfen.
Solidaritätsaktion im Kulturhaus des VEB Elektrokohle Lichtenberg (BArch Bild 183-F1212-0034-001 / Hein Junge)
Natürlich war ich neugierig, wie man die schwere Arbeit längerfristig leisten konnte. Da war zuallererst das Geld. Die Entlohnung im VEB Elektrokohle Lichtenberg für eine Tätigkeit ohne Vorqualifikation war sehr gut. Mit einer 110-prozentigen Normerfüllung und den Zulagen konnte man an die 1.000 Mark im Monat verdienen, jedenfalls mehr als die Ingenieure, wie meine Kollegen mir grinsend berichteten. Und der Betrieb kümmerte sich um seine Werktätigen. Eine neue Wohnung wurde einem schneller als anderswo zugeteilt, die Sozialleistungen stimmten, und wenn man ein Anliegen hatte, ging man zur Gewerkschaft oder Partei und haute auf den Tisch, so dass Lösungen gefunden wurden.
Aber die Arbeiter wussten auch, dass gute und schnelle Arbeitserfüllung die Voraussetzung dafür war. Das bedeutete, dass jeder, der in die Brigade hineinkam, ein paar Tage Zeit hatte, sich einzugewöhnen. Dann musste Leistung erbracht werden. Man hatte so seine Möglichkeiten, unwillige Kollegen zu disziplinieren, schließlich fiel schlechte Arbeit auf alle zurück! Es wäre aber in den letzten Jahren kaum nötig gewesen, wer kam, begriff schnell, wie der Hase lief. Als Student bräuchte ich mich nicht zu sorgen, von solchen wie uns könne man keine allzu schwere Arbeit verlangen, ich solle einfach machen – aber nicht faulenzen! Auch gab es öfter Aufregung über die Leitung, das schloss vom Meister bis zum Betriebsdirektor alle Vorgesetzten ein, die es nicht immer schaffe, alle Dinge so zu organisieren, dass die Arbeit reibungslos vonstattenginge. Ja, es war ihre Arbeit, ihr Betrieb.
Das war das Geheimnis der geringen Fluktuation. Die Arbeit war schwer, schmutzig, gleichförmig und auf den ersten Blick primitiv. Extreme Arbeitsbedingungen. Sie erforderte zudem Kraft, Ausdauer, Geschick und Durchhaltevermögen, man musste ein ganzer »Kerl« sein, um das hinzubekommen. Daran schied sich nach Auffassung der Kollegen die Spreu vom Weizen.
Und noch etwas lernte ich in den Wochen der Hitze bei meinen Kollegen im EKL. An den ersten Feierabenden dachte ich, wie soll das funktionieren mit der Arbeiterklasse als führender Klasse, wenn es nur um Schuften, Essen und Saufen geht. Doch es gab ein Leben nach der Arbeit. Ich lernte, dass auch einfache Lebensentwürfe zum Glück führen können. Frau, Kinder, schöne Neubauwohnung, vielleicht eine Datsche, ein kaltes Bier und in den Ferien an die Ostsee. Das konnte Glück sein, jeder hat seinen eigenen kleinen Glücksanspruch. Natürlich waren nicht alle so unkompliziert. Sie wussten genau um den Zusammenhang von eigener Arbeit und den Veränderungen um sie herum, die es ermöglichten, ihren Lebensentwurf selbstbestimmt zu verfolgen.
So habe ich in den vier Wochen nicht nur über 800 Mark verdient, sondern auch viel über mich und über Menschen in anderen Lebenswelten gelernt. Ein sehr gelungenes Praxissemester für einen Philosophiestudenten.
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